Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 08.03.2016


BSG 08.03.2016 - B 1 KR 99/15 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - notwendige Beiladung - Unterlassung - ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungspflichtigen (hier: Sozialhilfeträger) - Kostenerstattung für selbst beschaffte Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
08.03.2016
Aktenzeichen:
B 1 KR 99/15 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Gießen, 9. Juli 2014, Az: S 9 KR 55/13vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 23. April 2015, Az: L 1 KR 286/14, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. April 2015 aufgehoben, soweit es über das Begehren des Klägers auf Erstattung der für die Arzneimittel Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex und Voltaflex Glucosamin sowie ACC Long und das Nahrungsergänzungsmittel Basica Compact aufgewandten Kosten entschieden hat. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde als unzulässig verworfen.

Gründe

1

I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren - zuletzt gerichtet auf Erstattung von 1049,61 Euro Kosten in der Zeit vom 13.7.2010 bis 14.3.2013 aufgrund von Privatrezepten selbst verschaffter nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel (Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex und Voltaflex Glucosamin), verschreibungspflichtiger Arzneimittel (ACC Long und Batrafen Creme) sowie des Mittels Basica Compact - bei der Beklagten und den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG ua ausgeführt, die betroffenen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel seien nicht ausnahmsweise in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einbezogen. Das verschreibungspflichtige Arzneimittel ACC Long sei wegen Geringfügigkeit der behandelten Gesundheitsstörung nicht von der GKV zu leisten, Batrafen Creme sei nicht vertragsärztlich verordnet. Basica Compact sei kein Arznei-, sondern ein Nahrungsergänzungsmittel (Urteil vom 23.4.2015).

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Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.

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II. Soweit die Beschwerde die fehlende Beiladung bezogen auf die Entscheidung über die Erstattung der Kosten für die Arzneimittel Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex, Voltaflex Glucosamin und ACC Long sowie das Nahrungsergänzungsmittel Basica Compact rügt, ist sie zulässig und begründet (dazu 1.). Im Übrigen - hinsichtlich der Erstattung für Batrafen Creme - ist sie unzulässig (dazu 2.).

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1. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer unterlassenen unechten notwendigen Beiladung des W. Kreises (§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG) entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht es nicht entgegen, dass der Kläger nicht darlegt, er habe bereits in der letzten Tatsacheninstanz die Beiladung gefordert (so aber BSG Beschluss vom 19.10.2007 - B 11a AL 169/06 B - Juris RdNr 5, bezogen auf die beklagte Bundesagentur für Arbeit). Soweit das BSG die Darlegung fordert, dass der Beschwerdeführer beim LSG ein materielles Recht geltend gemacht hat, das die Notwendigkeit der Beiladung bedingt (so für einen Sonderfall eines zu stellenden Reha-Antrags BSG Beschluss vom 11.12.1990 - 5 BJ 357/89 - Juris RdNr 8, allerdings ohne Auseinandersetzung mit der abweichenden Rspr in BSGE 13, 217, 219 f = SozR Nr 18 zu § 75 SGG), erfüllt der Kläger diese Voraussetzung. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er sein Erstattungsbegehren uneingeschränkt verfolgt. Es würde dem Gebot eines fairen Verfahrens und effizienten Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) widersprechen, einem - wie vorliegend - in der letzten Tatsacheninstanz nicht fachkundig vertretenen Kläger weitergehend abzuverlangen, rechtstechnisch das Unterlassen einer notwendigen unechten Beiladung zu rügen. Diese Rügeobliegenheit mutete einem solchen Kläger zu, Beiladungsfehler des LSG zu erkennen und zu beanstanden, obwohl dies einem Volljuristen vergleichbare Kenntnisse des materiellen Rechts und des Prozessrechts voraussetzt (generell das Darlegungserfordernis eines Beiladungsantrags beim LSG negierend BSG SozR 3-2200 § 654 Nr 1 S 4 mwN).

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Der von dem Kläger gerügte Verfahrensfehler liegt insoweit auch vor (hierzu a). Das Urteil des LSG beruht auf diesem Verfahrensfehler (hierzu b).

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a) Nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sich in dem Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig ist; vielmehr genügt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten (zB BSG Urteil vom 25.4.2013 - B 8 SO 16/11 R - Juris RdNr 10; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 11; Zeihe, SGG, Stand 1.8.2015, § 75 RdNr 19c mwN).

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Nach den den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass der Wetteraukreis als Träger der Sozialhilfe dem Kläger erstattungspflichtig sein könnte aufgrund eines Anspruchs auf Erhöhung des Regelsatzes nach § 27a Abs 4 S 1 Alt 2 SGB XII (hier anzuwenden idF durch Art 3 Nr 8 Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453). Danach wird im Einzelfall der individuelle Bedarf abweichend vom Regelsatz festgelegt, wenn ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (vgl § 27a Abs 4 S 1 Alt 2 SGB XII). Ein im Einzelfall seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichender unabweisbarer Bedarf kommt bei Leistungen in Betracht, die zur Sicherung des zu gewährenden menschenwürdigen Existenzminimums notwendig, aber verfassungskonform kein Leistungsgegenstand der GKV sind (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, LS 3 und RdNr 36 mwN).

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Die gesetzliche Konzeption des SGB V, auch teilweise Mittel der Krankenbehandlung innerhalb der GKV der Eigenverantwortung des Versicherten (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V) zuzuweisen, trägt der begrenzten Aufgabenstellung der GKV Rechnung, sich auf gezielte Maßnahmen der Krankheitsbekämpfung zu beschränken (vgl dazu insgesamt BSGE 104, 160 = SozR 4-2500 § 13 Nr 22, RdNr 17 mwN). Die Qualität als Mittel gezielter Krankheitsbekämpfung und die Schwere der Krankheit, nicht aber die ökonomische Bedürftigkeit des Betroffenen bestimmen systemgerecht den Umfang des jedenfalls grundsätzlich verfassungskonform gesetzlich geregelten, abgeschlossenen Naturalleistungskatalogs der GKV (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, LS 3 und RdNr 34 mwN). Ähnlich wie im Bereich krankheitsbedingt unverzichtbarer Lebensmittel (vgl dazu § 21 Abs 5 SGB II, § 30 Abs 5 SGB XII und dazu zB BSG Urteil vom 9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R - RdNr 24; BSGE 100, 83 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6, RdNr 39 ff; BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 2 RdNr 28; BSGE 109, 218 = SozR 4-2500 § 31 Nr 20, RdNr 38 mwN - Leucinose) ist es Aufgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II und SGB XII, die Gewährleistung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums zu sichern, soweit es - wie dargelegt verfassungskonform - nicht durch den Leistungskatalog der GKV abgedeckt ist. Inwieweit im Einzelnen nicht von der Leistungspflicht der GKV abgedeckte Kosten für medizinisch notwendige Gesundheitspflege, zB für OTC-Präparate, dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum unterfallen, in der Regelleistung nach dem SGB II oder XII abgebildet sind oder Mehrbedarfsleistungen auslösen, unterliegt der Beurteilung der für die Grundsicherung und Sozialhilfe zuständigen Senate des BSG (vgl insgesamt BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 36 mwN, zur Beiladung RdNr 12). Bedürftigkeit des Klägers kommt in Betracht, da er nach seinem Vorbringen ergänzend zu seiner Rente Leistungen nach dem SGB XII bezieht. Nach diesen Grundsätzen kann es bei den aufgewandten Kosten für vom Kläger sich selbst verschaffte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (dazu aa), für das verschreibungspflichtige Arzneimittel ACC Long (dazu bb) und für das Nahrungsergänzungsmittel Basica Compact zu Mehrbedarfsleistungen kommen (dazu cc).

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aa) Für selbst verschaffte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel hat der erkennende Senat bereits entschieden, dass bei Bedürftigkeit Mehrbedarfsleistungen zu prüfen sind, um die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG zu sichern (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 36 mwN; zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungskonzeption des SGB V vgl auch BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 1 KR 30/15 R - Juris RdNr 54 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Er verweist hierauf.

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bb) Entsprechende Erwägungen gelten für die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Arzneimittel ACC Long. Auch in diesem Fall bestimmt die (geringere) Schwere der Krankheit, nicht aber die ökonomische Bedürftigkeit des Betroffenen die Zuordnung zum Bereich der Eigenvorsorge. Denn das Gesetz nimmt aus dem GKV-Leistungskatalog von den grundsätzlich einbezogenen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (vgl § 31 Abs 1 S 1 und § 34 SGB V) sog Bagatellarzneimittel in spezifisch aufgeführten Anwendungsgebieten aus (vgl § 34 Abs 1 S 6 Nr 1 bis 4 SGB V; konkretisierend § 13 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung idF vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz Nr 49a vom 31.3.2009, zuletzt geändert am 17.12.2015, BAnz AT 04.03.2016 B2). Der Gesetzgeber sah wegen der geringen medizinischen Bedeutung der ausgeschlossenen Mittel eine Eigenvorsorge als zumutbar an (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen <Gesundheits-Reformgesetz - GRG>, BT-Drucks 11/2237, 174). Die Regelung knüpft - allerdings nun ohne Härtefallklausel - an Vorläufer an (vgl bis 31.12.1988 § 182f RVO und zu dessen Verfassungsmäßigkeit BSG SozR 2200 § 182f Nr 1). Der Ausschluss beruht dagegen nicht auf dem Fehlen eines therapeutischen Nutzens. Auch in diesem Falle sind bei Bedürftigkeit Mehrbedarfsleistungen zu prüfen, um die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG zu sichern (§ 27a Abs 4 S 1 Alt 2 und S 2 SGB XII).

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cc) Im Hinblick auf das Nahrungsergänzungsmittel Basica Compact kommt ebenfalls ein Anspruch des Klägers gegen den Sozialhilfeträger zur Sicherung des Existenzminimums in Betracht, sei es nach § 27a Abs 4 S 1 Alt 2 SGB XII oder gemäß § 30 Abs 5 SGB XII. Hiernach wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, sog Krankenkost und anderen diätetischen Lebensmitteln ist - abgesehen von bilanzierten Diäten (vgl § 31 Abs 5 SGB V) - nicht Aufgabe der GKV (vgl BSGE 109, 218 = SozR 4-2500 § 31 Nr 20, RdNr 27).

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b) Auf der unterlassenen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der Beiladung zu einer Verurteilung des Sozialhilfeträgers und damit einer für den Kläger günstigeren Lösung gekommen wäre.

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2. Im Übrigen - soweit die Entscheidung über Kostenerstattung für Batrafen Creme betroffen ist - ist die Beschwerde des Klägers unzulässig. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensfehlers.

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Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 24.7.2015 - B 1 KR 50/15 B - Juris RdNr 4 mwN).

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Hinsichtlich der gerügten unterlassenen Beiladung des W. Kreises als Sozialhilfeträger vor dem Hintergrund einer Kostenerstattungspflicht für das verschreibungspflichtige Arzneimittel Batrafen Creme trägt der Kläger zwar ebenfalls vor, dass es sich um einen Fall der notwendigen (unechten) Beiladung iS von § 75 Abs 2 Alt 2 SGG handele. Allerdings legt er nicht ausreichend dar, dass der Sozialhilfeträger insoweit als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierzu genügt der bloße Hinweis auf § 73 SGB XII nicht. Das System der GKV ist im Hinblick auf Leistungen, die von dem Leistungskatalog der GKV umfasst sind und auf die bei Vorliegen der Voraussetzungen - wie hier nach § 31 Abs 1 S 1 SGB V - ein Anspruch besteht, grundsätzlich abschließend. Hiermit hätte sich der Kläger auseinandersetzen und darlegen müssen, dass vorliegend noch ein von dem Sozialhilfeträger zu deckender Bedarf verbleiben kann. Hieran fehlt es.

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3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - soweit die Beschwerde zulässig und begründet ist - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

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4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.