Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 10.03.2016


BSG 10.03.2016 - B 1 KR 97/15 B

Krankenversicherung - sozialgerichtliches Verfahren - Zulässigkeit der Revision - Verfahrensmangel - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage - Auslegung einer Krankenhausvergütungsvorschrift - ausgelaufenes Recht


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
10.03.2016
Aktenzeichen:
B 1 KR 97/15 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Leipzig, 13. Dezember 2011, Az: S 8 KR 372/09, Urteilvorgehend Sächsisches Landessozialgericht, 8. September 2015, Az: L 1 KR 45/12, Urteil
Zitierte Gesetze
DKR vom 2008

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 8. September 2015 wird als unzulässig verworfen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3207,84 Euro festgesetzt.

Gründe

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I. Die Klägerin, Trägerin eines nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhauses, versorgte die 1937 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte H. W. (im Folgenden: Versicherte) im Februar 2008 mit einer Hüft-Totalendoprothese (Hüft-TEP). Nach einem Sturz im häuslichen Bereich wurde am 17.6.2008 im Krankenhaus der Klägerin eine Osteosynthese mit drei Cerclagen durchgeführt. Die Klägerin kodierte als Hauptdiagnose ICD-10-GM (2008) M96.6 (Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte), steuerte dadurch die Fallpauschale (Diagnosis Related Groups 2008) I08B (Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur oder Diagnose, äußerst schweren CC oder bei Zerebralparese oder Ersatz des Hüftgelenkes mit Eingriff an oberer Extremität oder Wirbelsäule, Alter > 15 Jahre) an und forderte von der Beklagten 9874,53 Euro Vergütung. Die Beklagte beglich zunächst die Rechnung, forderte aber später Erstattung in Höhe von 3207,84 Euro und rechnete mit einer unstreitigen Vergütungsforderung der Klägerin auf, weil die Hauptdiagnose mit ICD-10-GM (2008) S72.11 (Pertrochantäre Fraktur, Intertrochantär) oder S72.2 (Subtrochantäre Fraktur) zu verschlüsseln gewesen sei, die DRG (2008) I08C (Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur, komplexer Diagnose oder äußerst schweren CC) ansteuere. Das SG hat die Beklagte zur Zahlung von 3207,84 Euro verurteilt. Das LSG hat das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, als Hauptdiagnose dürfe ICD-10-GM (2008) M96.6 nur dann kodiert werden, wenn das Implantat - sei es intra- oder postoperativ - allein für sich betrachtet die Knochenfraktur verursacht habe (Urteil vom 8.9.2015).

2

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

3

II. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.

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1. Wer sich - wie hier die Klägerin - auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).

5

Die Klägerin formuliert als Fragen,

        

"ob ein Gericht die streitige Kodierung eines grundsätzlich unstreitigen (hier: Auftreten einer Fraktur durch Sturz auf das mit einer Hüfttotalendoprothese versorgte Gelenk) ausschließlich durch Anwendung und Auslegung der ICD-10-GM sowie der jeweils geltenden DKR nach den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft selber bewerten kann und sich dabei über ein bereits vorliegendes, vom Gericht eingeholtes Sachverständigengutachen eines medizinischen Sachverständigen hinwegsetzen darf", (hilfsweise)

"ob das LSG die Anwendung der Diagnose M96.6 als Haupt- oder Nebendiagnose zur Kodierung einer periprothetischen Fraktur, die nicht intraoperativ beim Einsetzen der Prothese, sondern bei einem von außen hinzutretenden Ereignis wie z.B. einem Sturz aufgetreten ist, zu Recht verneint hat, oder ob die M96.6 nach der Systematik des ICD-10-Kataloges, des Fallpauschalenkataloges und den DKR entweder anstelle des Organkodes (Kapitel S) als Hauptdiagnose oder neben dem Organkode (Kapitel S) als Nebendiagnose verschlüsselt werden kann", sowie

"ob das LSG den ICD-10-Katalog in Verbindung mit den DKR in der Fassung von 2008 hinsichtlich der Kodierregel D003d richtig ausgelegt hat".

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Soweit es die erste Frage betrifft, rügt die Klägerin in der Sache einen vermeintlichen Verfahrensmangel, den sie unzulässig in den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache kleidet. Mit ihrem Vorbringen, das LSG dürfe sich nicht über das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten hinwegsetzen, rügt sie die Beweiswürdigung durch das LSG. Die Beweiswürdigung kann aber nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde sein. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann ein Verfahrensmangel nämlich nicht auf eine Verletzung des § 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und des § 128 Abs 1 S 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) gestützt werden. Dies kann auch nicht durch das Aufwerfen von Rechtsfragen nach vermeintlich einschlägig gewesenen prozessualen Pflichten eines Gerichts umgangen werden (vgl nur BSG Beschluss vom 8.6.2011 - B 12 KR 2/11 B - Juris mwN).

7

Im Übrigen wäre selbst bei einer zulässigen Rechtsfrage ein Klärungsbedarf nicht ausreichend dargetan. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Anwendung der Deutschen Kodierrichtlinien und der FPV-Abrechnungsbestimmungen einschließlich des ICD-10-GM und des Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS) nicht automatisiert und unterliegt als Mitsteuerung der prozesshaften Tatbestandsbildung im Zusammenspiel mit den Vorgaben zertifizierter Grouper ihrerseits grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft (vgl allgemein bereits BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 17 mwN; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 3 RdNr 17; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 27; BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 14; BSGE 116, 165 = SozR 4-2500 § 301 Nr 4, RdNr 12; zur Auslegung von medizinischen Begriffen im OPS BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 12 ff, stRspr). Gleichwohl sind sie nach dieser Rechtsprechung wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 8/15 R - Juris RdNr 18; BSG Urteil vom 17.11.2015 - B 1 KR 41/14 R - Juris RdNr 13, für SozR 4-2500 § 109 Nr 51 vorgesehen).

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Ist eine Frage bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden, ist sie grundsätzlich nicht mehr klärungsbedürftig (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann wieder klärungsbedürftig werden, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 mwN), was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7). Daran fehlt es. Die Klägerin legt nicht dar, dass der Rechtsprechung des erkennenden Senats in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird. Sie behauptet lediglich, dass die "Subsumtion eines medizinischen Sachverhalts unter Diagnosen aus dem ICD-10-Katalog" nur soweit von den Gerichten vorgenommen werden könne, als sich aus der Systematik des ICD-10-Katalogs unter Berücksichtigung der juristischen Auslegungsregeln ergebe, dass eine Diagnose anzuwenden oder ausgeschlossen sei, während die medizinische Frage, ob eine Diagnose per definitionem vorliege, medizinisches Fachwissen voraussetze, über das ein Gericht in der Regel nicht verfüge. Der Zusammenhang dieser Behauptung mit der gestellten Frage ist aber schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Rechtsfrage von einem unstreitigen (medizinischen) Sachverhalt ausgeht. Dass eine medizinische Diagnose im Streit ist, behauptet die Klägerin nicht. Nur ergänzend weist der erkennende Senat darauf hin, dass die teilweise - hier beim SG - anzutreffende instanzgerichtliche Praxis Bedenken begegnet, zu den vom Gericht zu entscheidenden Rechtsfragen Sachverständigengutachten einzuholen. Das zulässig angerufene Gericht darf sich nicht auf diese Weise seiner genuin eigenen Aufgabe entziehen, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl dazu zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 19 ff).

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Soweit es die zwei weiteren Fragen betrifft, lässt der Senat offen, ob ihnen eine klare, über den Einzelfall hinausweisende Rechtsfrage zu entnehmen ist und nicht bloß die Frage nach der vergütungsrechtlichen Bewertung eines konkret individuellen Sachverhalts, ob also die Klägerin nur die Unrichtigkeit der LSG-Entscheidung rügt. Letzteres ist kein zulässiger Prüfungsgegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde. Die Klägerin legt jedenfalls nicht hinreichend die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage dar. Hierzu bedarf es generell besonderen Vorbringens, wenn es sich - wie hier mit im Jahr 2008 geltenden Regelungen - um ausgelaufenes Recht handelt (vgl ausführlich BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 10 ff mwN, dort zum OPS). Dementsprechend entbehren Rechtsfragen der grundsätzlichen Bedeutung, wenn die Tatbestandsmerkmale einer Einzelvergütungsvorschrift mit einer normativ vorgegebenen kurzen Geltungsdauer einer rechtstatsächlich stattfindenden fortlaufenden Überprüfung und eventuellen Anpassung mit der Folge unterliegen, dass im Zeitpunkt der Befassung des Revisionsgerichts mit der Norm eine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung nicht mehr erkennbar ist. Bezogen auf die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung unter dem Gesichtspunkt des ausgelaufenen Rechts bedeutet dies, dass im Streit über die Anwendbarkeit einer bestimmten DRG darzulegen ist: (1) Die betroffene Einzelvorschrift (bzw das dort betroffene Tatbestandsmerkmal) hat im konkreten Fall auf die zur Ermittlung der DRG durchzuführende Groupierung Einfluss. (2) Die in der kalenderjahresbezogen anzuwendenden Fallpauschalenvereinbarung (FPV) mitgeregelte betroffene Einzelvorschrift gilt in späteren FPV im Wortlaut unverändert erlöswirksam für die Groupierung fort. (3) Ein sich daraus in einer Vielzahl von Behandlungsfällen bereits ergebender und zukünftig zu erwartender Streit konnte von den am Abschluss des FPV mitwirkenden Vertragsparteien bislang nicht einvernehmlich gelöst werden.

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Die Klägerin legt die Voraussetzungen (2) und (3) nicht ausreichend dar. Sie behauptet zwar, dass die Diagnose M96.6 auch in einer Vielzahl von Fällen erlösrelevant war und es auch aktuell noch ist. Erforderlich wäre aber eine substantiierte Auseinandersetzung mit der Änderung der ICD-10-GM M96.6 in der Version 2016 (Stand 25.9.2015). Danach ist diese Schlüsselnummer nur bei einer beim Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte aufgetretenen Fraktur anzugeben. Die Klägerin legt nicht dar, weshalb durch Einführung des Hinweises, dass unter M96.6 nur Frakturen zu kodieren sind, die direkt durch die Implantation hervorgerufen wurden, die Zuordnung nicht geklärt ist und weiterhin eine Interpretationsvielfalt ermöglicht.

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Alternativ zu den quantitativ zu verstehenden Voraussetzungen (2) und (3) kann sich auch eine "qualitative" Fortwirkung ergeben. Hierzu ist (4) darzulegen, dass der Auslegungsstreit über eine Einzelvorschrift eine strukturelle Frage des Vergütungssystems betrifft, deren Beantwortung - ungeachtet der Fortgeltung der konkret betroffenen Vorschrift - über die inhaltliche Bestimmung der Einzelvorschrift hinaus für das Vergütungssystem als Ganzes oder für einzelne Teile zukünftig von struktureller Bedeutung ist. Letzteres impliziert die Darlegung, dass die Vertragsparteien das näher zu bezeichnende Strukturproblem noch nicht gelöst haben. Weshalb ein etwaiges Strukturproblem durch den oben wiedergegebenen Hinweis nicht gelöst sein soll, legt die Klägerin nicht dar.

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2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 SGG).

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO, diejenige über den Streitwert auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG.