Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 01.07.2014


BSG 01.07.2014 - B 1 KR 47/12 R

Krankenversicherung - Vergütung einer stationären Behandlung - Entstehen des Vergütungsanspruchs nach Inanspruchnahme der Leistung - Geltung des Rechtsinstituts der Verwirkung im Sozialversicherungsrecht - keine Verwirkung nach Schweigen im Rechtsverkehr


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
01.07.2014
Aktenzeichen:
B 1 KR 47/12 R
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend SG Darmstadt, 23. April 2012, Az: S 8 KR 77/11, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. April 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5260,09 Euro festgesetzt.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer Krankenhausbehandlung.

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Die Klägerin ist Trägerin eines in den Krankenhausplan des Landes Hessen aufgenommenen Krankenhauses. Es berechnete 6955,28 Euro für die stationäre Behandlung einer Versicherten der beklagten Krankenkasse (KK) vom 31.5. bis zum 26.6.2008 (Fallpauschale L44Z, geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung bei Krankheiten und Störungen der Harnorgane; 10.7.2008). Die Beklagte bezahlte unter Vorbehalt und beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung mit einer Überprüfung (15.7.2008). Dieser hielt eine um 17 Tage kürzere stationäre Behandlung und die DRG L63F (Infektionen der Harnorgane ohne äußerst schwere CC , Alter > 5 Jahre) für ausreichend (25.5.2009). Die Beklagte "verrechnete" daraufhin den bereits bezahlten Betrag vollständig mit einer anderen Forderung der Klägerin und zahlte den nach ihrer Auffassung korrekten Betrag in Höhe von 1695,19 Euro an die Klägerin (4.6.2009). Die Klägerin widersprach dieser "Verrechnung" erstmals im Februar 2011. Nachdem sich die Beklagte im Klageverfahren nach erneuter Auswertung der Patientenakte nicht länger darauf berufen hat, dass keine Notwendigkeit für die gesamte Dauer des Krankenhausaufenthaltes bestanden habe, hat das SG die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 5260,09 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 6.6.2009 verurteilt. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ua ausgeführt, der Vergütungsanspruch sei nicht verwirkt. Die Klägerin habe durch bloßes Nichtstun in einem Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren keinen Vertrauenstatbestand geschaffen (Urteil vom 23.4.2012).

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Die Beklagte rügt mit ihrer Sprungrevision eine Verletzung des § 69 Abs 1 S 3 SGB V in Verbindung mit § 242 BGB. Der Anspruch sei verwirkt, weil die Beklagte nach einem so langen Zeitraum mit Widerspruch und Klageerhebung nicht mehr habe rechnen müssen.

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Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Sprungrevision der beklagten KK ist nicht begründet. Das SG hat sie zu Recht verurteilt, der klagenden Krankenhausträgerin 5260,09 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Die von der Klägerin erhobene (echte) Leistungsklage ist im hier bestehenden Gleichordnungsverhältnis zulässig (vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSG SozR 4-2500 § 115a Nr 2 RdNr 8 ). Die Klägerin hat gegen die Beklagte den geltend gemachten Restanspruch, denn er ist entstanden (dazu 1.) und nicht nach Treu und Glauben verwirkt (dazu 2.).

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1. Die Voraussetzungen des Anspruchs der Klägerin auf Zahlung weiterer 5260,09 Euro Krankenhausvergütung für die Behandlung der Versicherten im Zeitraum vom 31.5. bis zum 26.6.2008 sind erfüllt. Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses und dazu korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entstehen - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich ist (stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 8). Die Klägerin berechnete hierfür nach den unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des SG (§ 163 SGG) rechtmäßig aufgrund der DRG L44Z insgesamt 6955,28 Euro. Die Beklagte zahlte hierauf lediglich 1695,19 Euro; danach verbleibt ein von der Beklagten zu zahlender (Rest-)Vergütungsanspruch in Höhe von 5260,09 Euro. Der Zinsanspruch beruht auf § 10 Abs 5 KHBV Hessen (Vertrag über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung gemäß § 112 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB V zwischen der Hessischen Krankenhausgesellschaft einerseits und der Beklagten sowie weiteren KKn andererseits mWv 1.6.2002) iVm § 288 Abs 1 BGB (vgl BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7).

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2. Die Klägerin war nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht daran gehindert, ihren Restzahlungsanspruch gegenüber der Beklagten noch im Februar 2011 geltend zu machen. Die Beklagte beruft sich ohne Erfolg auf den Einwand der Verwirkung. Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG Urteil vom 12.11.2013 - B 1 KR 56/12 R - SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Um eine solche Nachforderung geht es indes nicht.

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Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

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An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es vorliegend. Hierfür genügt es nicht, dass sich die Klägerin die aus Sicht der Beklagten berechtigte Teilzahlung überweisen ließ, ohne sich hierzu zu äußern. Das Schweigen der Klägerin war nicht beredt. Grundsätzlich kann Schweigen im Rechtsverkehr nicht als Zustimmung gewertet werden, soweit nicht besondere Umstände dies rechtfertigen (vgl etwa BGH NJW 2008, 915 RdNr 13). Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar. Der Umstand, dass die Klägerin der "Verrechnung" erst im Februar 2011 widersprochen hat, genügt deshalb nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung (s ferner ergänzend zu den bereits oben genannten Entscheidungen BSGE 51, 260, 262 = SozR 2200 § 730 Nr 2 S 4; BSG Urteil vom 30.10.1969 - 8 RV 53/68 - USK 6983 S 345 = Juris RdNr 23; BSGE 38, 187, 194 = SozR 2200 § 664 Nr 1 S 9; BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 14 zu § 242 BGB; BSGE 7, 199, 200 f; vgl auch BGH NJW 2011, 445, 446). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSG Urteil vom 19.6.1980 - 7 RAr 14/79 - USK 80292 S 1312 = Juris RdNr 32; BSGE 47, 194, 197 f = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17; BSGE 45, 38, 48 = SozR 4100 § 40 Nr 17 S 55). Hierbei kann zu berücksichtigen sein, wie sich das Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt (vgl dazu Müller-Grune, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, 2006, S 60; ebenso Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S 221).

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Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Klägerin gab der Beklagten keinen Anlass dafür, anzunehmen, ihr Schweigen auf die ganz massive Rechnungskürzung und Teilzahlung bedeute, sie werde ohne ein weiteres Wort zu verlieren davon absehen, die ihr noch zustehenden 5260,09 Euro nebst Zinsen geltend zu machen. Dafür, dass ein solches Verhalten üblich ist, liegt nichts vor. Die Beklagte konnte nicht ihrerseits eine Äußerungspflicht der Klägerin einseitig begründen, indem sie ohne Rechtsgrundlage die Einhaltung von selbst erdachten "Widerspruchsfristen" forderte. Insgesamt fehlt es an einem zu der schlichten Untätigkeit hinzutretenden zusätzlichen Verwirkungsverhalten, aufgrund dessen die Beklagte darauf hätte vertrauen dürfen, die Klägerin werde ihren Anspruch nicht mehr geltend machen. Weder aus den Feststellungen des SG noch aus dem Vorbringen der Beklagten ergeben sich hierfür irgendwelche Anhaltspunkte.

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.