Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 08.03.2016


BSG 08.03.2016 - B 1 KR 31/15 R

(Krankenversicherung - kein Ruhen nach § 16 Abs 3a SGB 5 bei Hilfebedürftigkeit - Prüfung der Ruhensanordnung durch Krankenkasse oder Gericht - Amtsermittlungsgrundsatz)


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
08.03.2016
Aktenzeichen:
B 1 KR 31/15 R
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend SG Osnabrück, 10. Juni 2014, Az: S 13 KR 141/14, Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 4. November 2014, Az: L 4 KR 247/14, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 16 Abs 3a S 1 SGB 5 vom 17.07.2009
§ 16 Abs 3a S 2 SGB 5 vom 17.07.2009
§ 16 Abs 3a S 2 SGB 5 vom 16.07.2015
§ 16 Abs 3a S 4 SGB 5 vom 16.07.2015
§ 20 SGB 10

Leitsätze

1. Das Ruhen der Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung von säumigen versicherten Beitragszahlern tritt nicht ein oder endet, wenn diese Versicherten hilfebedürftig sind oder werden.

2. Krankenkassen und Gerichte müssen bei Prüfung einer Ruhensanordnung der Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung von Amts wegen Feststellungen zum Eintritt von Hilfebedürftigkeit des Versicherten treffen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 4. November 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über das Ruhen der Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

2

Der Kläger ist seit Juni 2013 bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert (§ 5 Abs 1 Nr 13 SGB V). Die Beklagte mahnte den Kläger wegen rückständiger Beiträge, Säumniszuschläge und Mahngebühren in Höhe von insgesamt 1107,07 Euro und wies auf die drohenden Ruhensfolgen hin (Bescheid vom 23.1.2014). Sie stellte ua - insoweit allein noch streitig - das Ruhen der Leistungsansprüche aus der GKV ab 17.2.2014 fest (Bescheid vom 10.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 11.4.2014). Der Kläger hat zur Begründung seiner Rechtsmittel vorgetragen, bei Beitragszahlung verfüge er nicht mehr über sein Existenzminimum. Grundsicherungs- und Sozialhilfeträger seien zur Feststellung seines Hilfebedarfs beizuladen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 10.6.2014), das LSG hat die Berufung zurückgewiesen, ohne dem Beiladungsersuchen stattzugeben und auf den Eintritt von Hilfebedürftigkeit ausdrücklich einzugehen (Urteil vom 4.11.2014).

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Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung von § 16 Abs 3a S 2 SGB V, seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) und des Gebots der Amtsermittlung (§ 103 SGG).

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Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 4. November 2014 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 10. Juni 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 aufzuheben,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 4. November 2014 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

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Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Der erkennende Senat kann darüber, ob die beklagte KK rechtmäßig das Ruhen der Leistungsansprüche des Klägers feststellte, mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Es beruht auf der Verletzung des § 16 Abs 3a SGB V. Die Beklagte und die Vorinstanzen haben verkannt, dass der Eintritt von Hilfebedürftigkeit des betroffenen Versicherten der Anordnung des Ruhens der Leistungsansprüche und der Fortdauer dieser Anordnung entgegensteht. Das LSG hat keine Feststellungen zum geltend gemachten Eintritt von Hilfebedürftigkeit des Klägers getroffen.

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1. Für die statthafte und zulässige isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Fall 1 SGG) gegen die Feststellung des Ruhens der Leistungsansprüche ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats maßgeblich. Denn die angegriffene Ruhensfeststellung ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Bei der isolierten Anfechtungsklage wird zwar grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsaktes als maßgebend erachtet (BSGE 15, 127, 131 = SozR Nr 4 zu § 170 SGG S Da 2 R f; BSGE 43, 1, 5 = SozR 2200 § 690 Nr 4 S 16). Dies gilt jedoch nicht für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Bei ihnen wirkt die getroffene Regelung über den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes fort, und die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines solchen Verwaltungsaktes kann von nachträglichen Änderungen der Rechts- und Sachlage abhängen (vgl dazu BSGE 7, 129, 134 f; BSGE 61, 203, 205 = SozR 4100 § 186a Nr 21 S 55; BSGE 109, 265 = SozR 4-2600 § 2 Nr 15, RdNr 15).

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2. Sowohl die bei Erlass der angefochtenen Verwaltungsentscheidung geltende Regelung des § 16 Abs 3a SGB V (aF; idF durch Art 15 Nr 01 Buchst a Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.7.2009, BGBl I 1990 mWv 23.7.2009) als auch die im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats geltende Fassung dieser Norm (nF; § 16 Abs 3a S 2 SGB V idF durch Art 1 Nr 3 Buchst a Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 16.7.2015, BGBl I 1211 mWv 23.7.2015; § 16 Abs 3a S 4 SGB V eingefügt durch Art 1 Nr 3 Buchst b GKV-VSG mWv 23.7.2015) haben - soweit hier von Bedeutung - den gleichen Regelungsgehalt: Das Ruhen tritt nicht ein oder endet, wenn Versicherte hilfebedürftig im Sinne des SGB II oder SGB XII sind oder werden (entsprechend § 16 Abs 3a S 4 SGB V nF). Das folgt aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck bereits des § 16 Abs 3a SGB V aF.

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Schon der Wortlaut der ursprünglich betroffenen Gesetzesfassung verdeutlicht, dass das Bestehen oder der Eintritt von Hilfebedürftigkeit der Ruhensanordnung entgegensteht. Nach § 16 Abs 3a S 1 SGB V aF ruht der Anspruch auf Leistungen für nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) Versicherte, die mit einem Betrag in Höhe von GKV-Beitragsanteilen für zwei Monate im Rückstand sind und trotz Mahnung nicht zahlen, nach näherer Bestimmung des § 16 Abs 2 KSVG. § 16 Abs 2 KSVG (idF durch Art 12 6. SGGÄndG vom 17.8.2001, BGBl I 2144 mWv 2.1.2002) bestimmt: Ist der Versicherte mit einem Betrag in Höhe von GKV-Beitragsanteilen für zwei Monate im Rückstand, hat ihn die Künstlersozialkasse (KSK) zu mahnen. Ist der Rückstand zwei Wochen nach Zugang der Mahnung noch höher als der Beitragsanteil für einen Monat, stellt die KSK das Ruhen der Leistungen fest; das Ruhen tritt drei Tage nach Zugang des Bescheides beim Versicherten ein. Voraussetzung ist, dass der Versicherte in der Mahnung nach Satz 1 auf diese Folge hingewiesen worden ist. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Ruhensbescheid haben keine aufschiebende Wirkung. Das Ruhen endet, wenn alle rückständigen GKV-Beitragsanteile und die auf die Zeit des Ruhens entfallenden Beitragsanteile nach Abs 1 (betreffend den Beitragsanteil zur GKV) sowie nach § 16a Abs 1 KSVG (betreffend den Beitragsanteil zur sozialen Pflegeversicherung) gezahlt sind. Die KSK kann bei Vereinbarung von Ratenzahlungen das Ruhen vorzeitig für beendet erklären. Die zuständige KK ist von der Mahnung sowie dem Eintritt und dem Ende des Ruhens zu unterrichten.

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§ 16 Abs 3a S 2 SGB V aF ordnet an, dass Entsprechendes für Mitglieder nach den Vorschriften des SGB V gilt, die mit einem Betrag in Höhe von Beitragsanteilen für zwei Monate im Rückstand sind und trotz Mahnung nicht zahlen, ausgenommen sind Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten nach den §§ 25 und 26 SGB V und Leistungen, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind; das Ruhen endet, wenn alle rückständigen und die auf die Zeit des Ruhens entfallenden Beitragsanteile gezahlt sind oder wenn Versicherte hilfebedürftig im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches werden. Der Wortlaut "hilfebedürftig … werden" schließt zwanglos die Fälle ein, in denen die Mitglieder bereits in dem Zeitpunkt hilfebedürftig sind oder werden, in dem die KK über die Ruhensanordnung entscheidet. Das "Ruhen endet" in diesem Falle bereits vor seiner Anordnung.

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Auch die Entstehungsgeschichte unterstreicht, dass eine gegenwärtig bestehende Hilfebedürftigkeit des Versicherten nach dem SGB II oder dem SGB XII einer Ruhensanordnung entgegensteht. Die Regelung des § 16 Abs 3a S 2 SGB V beruht auf der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit (<14. Ausschuss>; BT-Drucks 16/4200 S 12 zu Nr 9a zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes, BT-Drucks 16/3100). Danach sollte neben der Erhebung von Säumniszuschlägen die Nichtzahlung von Beiträgen weiterhin für den Versicherten im Interesse der Versichertengemeinschaft spürbare Konsequenzen haben. Entsprechend dem über § 16 Abs 3a S 1 SGB V in Bezug genommenen § 16 Abs 2 KSVG sollte das Ruhen erst enden, wenn alle rückständigen und die auf die Zeit des Ruhens entfallenden Beitragsanteile gezahlt sind (vgl Bericht des 14. Ausschusses, BT-Drucks 16/4247 S 31 Zu Nummer 9 <§ 16>). Zusätzlich sollte das Ruhen beendet werden, wenn Versicherte hilfebedürftig im Sinne des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden, um dieser besonderen Situation gerecht zu werden und ein Ruhen auf Dauer zu vermeiden. Das schließt die Fälle ein, in denen Hilfebedürftigkeit bereits besteht.

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Regelungssystem und Regelungszweck des Beendigungstatbestands sprechen ebenfalls dafür, dass es einer Ruhensanordnung entgegensteht, wenn betroffene Mitglieder hilfebedürftig sind. Der Gesetzgeber vermeidet damit nicht zumutbare, verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Belastungen der Betroffenen (vgl zum verfassungsrechtlichen Schutz des Existenzminimums BVerfGE 125, 175, 223 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135; BSGE 100, 221 = SozR 4-2500 § 62 Nr 6, RdNr 31; BSGE 107, 217 = SozR 4-4200 § 26 Nr 1, RdNr 33; BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 34 mwN).

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Die Regelung des § 16 Abs 3a S 4 SGB V nF spricht die gleiche Rechtsfolge lediglich klarer aus, nämlich dass das Ruhen nicht eintritt oder endet, wenn Versicherte hilfebedürftig sind oder werden. Zutreffend bezeichnet dies die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung eines GKV-VSG als eine "redaktionelle Klarstellung" und verweist darauf, dass § 193 Abs 6 Versicherungsvertragsgesetz eine solche Regelung bereits enthält (vgl BT-Drucks 18/4095 S 71 Zu Nr 3 <§ 16> Zu Buchst b).

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3. Ist eine KK - wie hier die Beklagte - nach § 16 Abs 3a S 2 SGB V entsprechend § 16 Abs 2 S 2 KSVG ermächtigt, das Ruhen der Leistungen festzustellen, wenn der gesetzlich geregelte Beitragsrückstand trotz Mahnung besteht (vgl dazu Peters in Kasseler Komm, Stand September 2015, § 16 SGB V RdNr 27), muss sie dementsprechend prüfen und feststellen, dass der betroffene Versicherte nicht hilfebedürftig ist oder dies mit der Ruhensanordnung oder in der Folgezeit wird. Das LSG hat hierzu ebenso wie die Beklagte keine Feststellungen getroffen, obwohl der Kläger geltend gemacht hat, hilfebedürftig zu sein. Das LSG wird die gebotenen Feststellungen nunmehr nachzuholen haben.

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Dafür kann es genügen, den Kläger für den Zeitraum beginnend mit dem dritten Tage nach Zugang der Ruhensanordnung seine wirtschaftlichen Verhältnisse darlegen zu lassen, ggf ergänzt um brauchbare Beweismittel, und hierzu eine Auskunft des zuständigen Leistungsträgers einzuholen. Sind zuständige Leistungsträger für den betroffenen Zeitraum bereits von Hilfebedürftigkeit des Klägers in einer Entscheidung ausgegangen, ist es möglich, diese Feststellungen auch für die Entscheidung über die Ruhensanordnung und ihre Dauer zugrunde zu legen, soweit dem keine Besonderheiten entgegenstehen. Lehnte der zuständige Leistungsträger Leistungen bereits ab, enthebt dies das LSG nicht von eigenen Ermittlungen und Feststellungen zur Hilfebedürftigkeit.

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4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.