Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 20.04.2010


BSG 20.04.2010 - B 1/3 KR 21/08 R

Krankenversicherung - Soziotherapie - Dreijahreszeitraum - Leistungsgrenze


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
20.04.2010
Aktenzeichen:
B 1/3 KR 21/08 R
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend SG Reutlingen, 26. September 2007, Az: S 2 KR 3235/06, Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 16. September 2008, Az: L 11 KR 1171/08, Urteil
Zitierte Gesetze
Nr 8 STRL
Nr 12 STRL
Nr 17 STRL

Leitsätze

Versicherte können innerhalb von drei Jahren je Krankheitsfall höchstens 120 Stunden Soziotherapie von ihrer Krankenkasse beanspruchen, sind aber bei einer über drei Jahre hinaus andauernden Erkrankung nicht mit erneuten Ansprüchen auf Soziotherapie ausgeschlossen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Pflicht der Beklagten, der Klägerin über einen Dreijahreszeitraum hinaus weitere Soziotherapie zu gewähren.

2

Die 1945 geborene Klägerin ist bei der beklagten AOK (KK) versichert. Sie leidet an einer schweren psychischen Erkrankung aus dem Bereich des schizophrenen Formenkreises (ICD-10-Nr F.20.5) mit einem Schweregrad von 35 nach der GAF-Skala ("Global assessment of functioning scale"), die durch Fähigkeitsstörungen wie zB eine Störung des Antriebs, eine Unfähigkeit zu Strukturieren und Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit gekennzeichnet ist. Die Beklagte bewilligte ihr entsprechend ärztlicher Verordnung, beginnend mit dem 21.5.2003, zweimal je 30 Einheiten Soziotherapie, die die Klägerin annähernd ausschöpfte und zuletzt am 17.5.2007 in Anspruch nahm. Die Beklagte lehnte eine weitere Gewährung von Soziotherapie über den 20.5.2006 hinaus ab, die Psychiater Dr. S. zur Vermeidung von Krankenhausbehandlung verordnete (25.3.2006 und 18.1.2007); § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V begrenze den Anspruch auf einen Behandlungszeitraum von maximal drei Jahren (Bescheid vom 15.5.2006; Widerspruchsbescheid vom 1.8.2006; Bescheid vom 1.2.2007).

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Während das SG die Klage auf weitere Gewährung von Soziotherapie über den 20.5.2006 hinaus abgewiesen hat (Urteil vom 26.9.2007), hat das LSG die Beklagte antragsgemäß verurteilt: Die gesetzliche Beschränkung auf einen Zeitraum von drei Jahren je Krankheitsfall bedeute, dass anschließend ein neuer Dreijahreszeitraum beginne, in dem auch bei andauernder Erkrankung erneut Soziotherapie gewährt werden dürfe (Urteil vom 16.9.2008).

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Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V. Die Regelung sei so zu verstehen, dass bei einem länger als drei Jahre dauernden, Soziotherapie erfordernden Krankheitsfall nach drei Jahren kein Anspruch auf Soziotherapie mehr in Betracht komme. Deshalb sei § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V anders als § 48 SGB V formuliert, der von Leistungen "innerhalb von je drei Jahren" spreche. Soziotherapie solle nicht zur dauerhaften Begleitung chronisch psychisch Kranker eingesetzt werden.

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Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. September 2008 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. September 2007 zurückzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision der beklagten KK ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG das SG-Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, denn sie ist verpflichtet, der Klägerin über den 20.5.2006 hinaus Soziotherapie zu gewähren. Dieses Begehren hat die Klägerin zulässig im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht (dazu 1.). Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Soziotherapie sind erfüllt (dazu 2.), ohne dass die Begrenzungsregelung § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V entgegensteht (dazu 3.).

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1. Der Anspruch auf Soziotherapie ist durch eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) geltend zu machen, weil über die begehrte Leistung zunächst ein Verwaltungsakt zu ergehen hat. Dass die KK über die Bewilligung von Soziotherapie vor ihrer Erbringung entscheiden muss, beruht auf den Regelungen in Abschnitt VI der Soziotherapie-Richtlinien (Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Soziotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung - Soziotherapie-RL vom 23.8.2001, BAnz 2001 Nr 217 S 23735). Nr 25 Soziotherapie-RL regelt, dass mit Ausnahme der Verordnung nach Nr 16.1 - um die es hier nicht geht - jede Verordnung von Soziotherapie der "vorherigen Genehmigung" durch die KK des Versicherten bedarf. Deshalb setzt der Anspruch auf Soziotherapie nicht nur eine vertragsärztliche Verordnung, sondern darüber hinaus die Leistungsbewilligung der KK vor Leistungsbeginn voraus.

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Die Soziotherapie-RL haben rechtmäßig ein solches Bewilligungserfordernis begründet. Nach § 37a Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte, die wegen schwerer psychischer Erkrankung nicht in der Lage sind, ärztliche oder ärztlich verordnete Leistungen selbstständig in Anspruch zu nehmen, Anspruch auf Soziotherapie, wenn dadurch Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird, oder wenn diese geboten, aber nicht ausführbar ist. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bestimmt in den Richtlinien nach § 92 das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der Versorgung nach Abs 1 (so § 37a Abs 2 SGB V aF, eingefügt durch Art 1 Nr 18 GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 22.12.1999, BGBl I 2626 mit Wirkung vom 1.1.2000). Nr 25 Soziotherapie-RL hält sich in diesem gesetzlichen Rahmen.

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Die 2001 erlassenen Soziotherapie-RL gelten fort, obwohl seit dem 1.1.2004 § 37a Abs 2 SGB V nF (idF durch Art 1 Nr 28 Buchst a GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190) den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Regelung beruft. Das GMG passte damit § 37a Abs 2 SGB V lediglich an die Änderung des § 91 SGB V an (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/Die Grünen eines GMG, BT-Drucks 15/1525 S 90 rechte Spalte zu Nr 28 zu Buchst a), ohne die Fortgeltung der bisher erlassenen Soziotherapie-RL auszuschließen.

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2. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Gewährung von Soziotherapie sind nach den Feststellungen des LSG erfüllt. Der Senat hat als Revisionsgericht diese Feststellungen des LSG zugrunde zu legen, da sie von den Beteiligten nicht angegriffen werden (§ 163 SGG). Insbesondere besteht die Indikation für Soziotherapie entsprechend Nr 8 Soziotherapie-RL und es ist entsprechend Nr 12 Soziotherapie-RL zu erwarten, dass die Klägerin die Therapieziele erreichen kann. Ebenso steht die Zuzahlungspflicht im Rahmen des Gesetzes nicht in Frage. Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, leisten nämlich als Zuzahlung je Kalendertag der Leistungsinanspruchnahme den sich nach § 61 Satz 1 SGB V ergebenden Betrag an die KK (§ 37a Abs 3 SGB V nF).

13

3. Die Begrenzungsregelung des § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V steht dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen. Danach besteht der Anspruch "für höchstens 120 Stunden innerhalb von drei Jahren je Krankheitsfall". Diese Regelung schließt es lediglich aus, dass innerhalb von drei Jahren je Krankheitsfall mehr als 120 Stunden Soziotherapie geleistet werden. Dauert ein Krankheitsfall länger als drei Jahre an und wird innerhalb des ersten Dreijahreszeitraums Soziotherapie gewährt, verbietet § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V dagegen nicht, dass in einem weiteren Dreijahreszeitraum erneut höchstens 120 Stunden Soziotherapie geleistet werden. Das folgt aus der Auslegung der Regelung nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, System und Zweck.

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Der Wortlaut des § 37a Abs 1 Satz 3 SGB V lässt ohne Weiteres ein Normverständnis zu, wonach der Anspruch auf Soziotherapie je Krankheitsfall jeweils für höchstens 120 Stunden innerhalb von drei Jahren besteht, nach Ablauf des Dreijahreszeitraums jedoch erneut entstehen kann (vgl zB Padé in jurisPK-SGB V, Stand: 10.11.2009, § 37a RdNr 29.1). Diese Lesart entspricht dem Zweck der Regelung, den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, unnötige Krankenhausaufenthalte schwer psychisch Kranker zu vermeiden und damit verbundene unnötige Kostenbelastungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gar nicht erst entstehen zu lassen (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/Die Grünen eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 , BT-Drucks 14/1245 S 57 linke Spalte zu Nr 8). Zugrunde liegt dem die Erkenntnis, dass schwer psychisch Kranke häufig nicht in der Lage sind, Leistungen, auf die an sich ein Anspruch besteht, selbstständig in Anspruch zu nehmen. Dies kann zu wiederkehrenden stationären Aufenthalten führen (sog "Drehtüreffekt"). Um solche Wirkungen zu vermeiden, hat der Gesetzgeber die Leistung "Soziotherapie" als eine neue Betreuungsleistung eingeführt (vgl BT-Drucks 14/1245 S 66 linke Spalte zu Nr 20 <§ 37a zu Abs 1>). Gesetzessystematisch handelt es sich um eine ergänzende Leistung, die an der Nahtstelle zwischen Krankenbehandlung und allgemeiner Lebenshilfe angesiedelt ist (vgl Großer Senat, BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, jeweils RdNr 20).

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Soziotherapie ist nach ihrem dargelegten Zweck eine Leistung, die wegen derselben Krankheit durchaus in einem über drei Jahre hinausgehenden Zeitraum benötigt werden kann. Allerdings kann Soziotherapie nach der gesetzlichen Konzeption von vornherein nicht eine Dauerleistung sein, da sie nicht nur die im Einzelfall erforderliche Koordinierung der verordneten Leistungen umfasst, sondern auch die Anleitung und Motivation zu deren Inanspruchnahme (§ 37a Abs 1 Satz 2 SGB V). Anleitung und Motivation haben aber nur dann einen Sinn, wenn die Chance zu einer Beeinflussung des Betroffenen besteht.

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Diese Vorgaben des Gesetzes hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den Soziotherapie-RL rechtmäßig konkretisiert. Er - und nunmehr der GBA - ist insbesondere dazu berufen, in den Richtlinien das Nähere über ua Umfang und Dauer der Soziotherapie zu bestimmen (§ 37a Abs 2 Nr 2 SGB V). Nr 17 Soziotherapie-RL legt gesetzeskonform fest, dass die Dauer und die Frequenz der soziotherapeutischen Betreuung von den individuellen medizinischen Erfordernissen abhängig sind. Es können insgesamt höchstens bis zu 120 Stunden je Krankheitsfall innerhalb eines Zeitraumes von drei Jahren erbracht werden. Unter einem Krankheitsfall im Sinne dieser Richtlinien ist eine Phase der Behandlungsbedürftigkeit bei einer der in Abschnitt II aufgeführten Indikationen von bis zu drei Jahren zu verstehen.

17

Diese Regelung hat zur Folge, dass ein "Krankheitsfall" im Sinne der Soziotherapie-RL bis zu drei Jahre lang andauern kann, spätestens mit Ablauf dieser Zeitspanne jedoch in jedem Fall ein neuer "Krankheitsfall" beginnt. Die Konsequenz ist, dass spätestens nach Ablauf von drei Jahren - soweit alle übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind - erneut die Gewährung von Soziotherapie im Umfang von insgesamt höchstens bis zu 120 Stunden in Betracht kommt, auch wenn dem Therapiebedarf unverändert dieselbe Krankheitsursache zugrunde liegt. Endet eine Phase der Behandlungsbedürftigkeit bei einer der in Abschnitt II Soziotherapie-RL aufgeführten Indikationen schon früher, endet bereits damit auch der Krankheitsfall, ohne dass sich hierfür die Dreijahresgrenze ausgewirkt hat.

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.