Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 30.09.2010


BVerwG 30.09.2010 - 9 B 3/10

Unterbliebene Verkündung des Urteils in öffentlicher Sitzung als Revisionsgrund


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
30.09.2010
Aktenzeichen:
9 B 3/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OVG Lüneburg, 21. Oktober 2009, Az: 7 KS 32/08, Urteil
Zitierte Gesetze

Gründe

1

Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde kann keinen Erfolg haben.

2

1. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) kommt der Rechtssache nicht zu. Die Beschwerde weist in ihrer Begründung zur Divergenzrüge selbst darauf hin, dass höchstrichterliche Rechtsprechung zur der von ihr als grundsätzlich bezeichneten Frage vorliegt, "ob auf die Prüfung der Planrechtfertigung dann verzichtet werden kann, wenn ein Vorhaben nach dem Fernstraßenausbaugesetz Vordringlichkeit hat". Dass gleichwohl noch weiterer Klärungsbedarf besteht, legt sie nicht dar.

3

2. Sämtliche Divergenzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) bleiben ohne Erfolg.

4

Eine die Revisionszulassung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigende Abweichung des angefochtenen Beschlusses von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beschwerde nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise bezeichnet. Es fehlt eine für die hinreichende Benennung einer Divergenz erforderliche Darlegung divergierender, die jeweilige Entscheidung tragender und auf dieselbe Rechtsvorschrift bezogener abstrakter Rechtssätze.

5

Die Beschwerde rügt, das Oberverwaltungsgericht weiche von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, weil es davon ausgehe, "eine Planrechtfertigung sei allein deshalb gegeben, weil das Vorhaben als vordringlich in der Anlage zum Fernstraßenausbaugesetz aufgenommen sei". Diese Rüge geht offensichtlich fehl. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Planrechtfertigung für ein Straßenbauvorhaben aus der auch im gerichtlichen Verfahren verbindlichen gesetzlichen Bedarfsfeststellung folgt. Der Gesetzgeber überschreitet die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens erst, wenn die Bedarfsfeststellung evident unsachlich wäre, weil es z.B. an jeglicher Notwendigkeit für das Vorhaben fehlt (Urteil vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299 Rn. 43). Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts weicht hiervon nicht ab.

6

Ebenfalls nicht durchgreifen kann die Beschwerde, soweit sie rügt, mit der Feststellung, der Kläger sei mit dem Einwand der Existenzgefährdung präkludiert, weiche das angefochtene Urteil von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 1979 - BVerwG 4 N 1.78 u.a. - (BVerwGE 59, 87) ab. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass die behauptete Divergenz nicht nur durch die Angabe der höchstrichterlichen Entscheidung, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch Gegenüberstellung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze dargelegt wird. Hieran lässt es die Beschwerde fehlen. Weder wird erkennbar, welchen Rechtssatz die Beschwerde der zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts entnehmen will, noch, welchen Rechtssatz das Oberverwaltungsgericht aufgestellt haben soll. Die Beschwerde moniert vielmehr, dass die Vorinstanz Rechtssätze im Einzelfall rechtsfehlerhaft angewandt oder daraus nicht die rechtlichen Folgerungen gezogen hat, die sie für geboten hält. Das erfüllt nicht den Tatbestand des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (stRspr; vgl. nur Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).

7

Dies gilt auch für die weitere Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe gegen den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsatz verstoßen, dass die behördliche Abwägungsentscheidung von den Gerichten nicht durch eine eigene abwägende Entscheidung ersetzt werden dürfe. Abgesehen davon, dass das Oberverwaltungsgericht den Kläger mit seinem Einwand schon für präkludiert erachtet hat, hat es auch mit seinen Ausführungen in der Sache keine eigene Entscheidung über das Vorliegen einer Existenzgefährdung getroffen, sondern "die Sachbehandlung durch die Beklagte" (UA S. 12) bei der Ermittlung der Existenzgefährdung als nicht zu beanstanden bezeichnet und in diesem Zusammenhang festgestellt, dass es "ohne weitere Anhaltspunkte für die Beklagte keinen Anlass (gab), den Betrieb des Klägers für in seiner Existenz gefährdet zu halten" (UA S. 13).

8

3. Die Verfahrensrügen i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bleiben ebenfalls ohne Erfolg.

9

a) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe das angefochtene Urteil unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit verkündet, greift nicht durch. Dabei kann dahinstehen, ob die Behauptung des Klägers, es sei am Tag der mündlichen Verhandlung um 16.05 Uhr kein erneuter Aufruf zur Urteilsverkündung erfolgt und kein Urteil verkündet worden, der Wahrheit entspricht oder - wofür die dienstliche Erklärung des Vorsitzenden Richters der Vorinstanz spricht - unzutreffend ist. Sowohl die Öffentlichkeit der Verhandlung als auch die Verkündung der Entscheidungen des Gerichts, gehört zu den nach § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 Nr. 7 ZPO vorgeschriebenen Förmlichkeiten, deren Beachtung gemäß § 105 VwGO i.V.m. § 165 Abs. 1 Satz 1 ZPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann. Solange keine Protokollberichtigung nach § 105 VwGO i.V.m. § 164 ZPO erfolgt ist, muss der Senat für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von dem Inhalt des Protokolls vom 21. Oktober 2009 ausgehen. Danach ist das Urteil am 21. Oktober 2009 nach Wiederaufruf der Sache um 16.05 Uhr verkündet worden.

10

Abgesehen davon könnte die Rüge auch bei einem unterstellten Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit bei der Verkündung der Entscheidung keinen Erfolg haben. Eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit bei der Verkündung einer Entscheidung (§ 55 VwGO, § 169 Satz 1 GVG) stellt keinen absoluten Revisionsgrund i.S.d. § 138 Nr. 5 VwGO dar. § 138 Nr. 5 VwGO beschränkt die Fiktion, dass das Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend angesehen wird, auf den Fall, dass das Urteil "auf eine mündliche Verhandlung" ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind. Die unterbliebene Verkündung des Urteils in öffentlicher Sitzung wird nicht erfasst (Beschlüsse vom 23. November 1989 - BVerwG 6 C 29.88 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 91 S. 37 f. und vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - juris § 279 ZPO Nr. 1 S. 2 nicht abgedruckt>).

11

Ohne Erfolg muss auch die Rüge bleiben, dass Urteil des Oberverwaltungsgerichts sei nicht innerhalb der Frist des § 116 Abs. 2 VwGO der Geschäftsstelle zum Zweck der Zustellung übermittelt worden. Abgesehen davon, dass die Vorschrift nur den hier nicht gegebenen Fall erfasst, dass statt der Verkündung die Zustellung des Urteils gewählt wird, wäre ein Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO ebenso wie ein solcher gegen den bei Zustellung des Urteils entsprechend anwendbaren § 117 Abs. 4 VwGO (Beschluss vom 26. April 1999 - BVerwG 8 B 67.99 - Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 30 S. 6 f.) nur dann erheblich, wenn dargelegt wird, dass das Urteil auf dem Verstoß beruhen kann (Beschluss vom 11. Juni 2001 - BVerwG 8 B 17.01 - Buchholz 310 § 116 VwGO Nr. 26 S. 2 f.). Hieran fehlt es. Es ist auch nichts dafür ersichtlich. Das Urteil ist am 10. November 2009 und damit nur wenige Tage nach Ablauf der Frist auf der Geschäftsstelle eingegangen.

12

Entsprechendes gilt für die Rüge, ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensverstoß liege darin, dass das Oberverwaltungsgericht entgegen § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO nicht innerhalb von zwei Wochen das unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle übermittelt habe. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die getroffene Entscheidung auf einem solchen Verstoß beruhen könnte.

13

b) Keine der Rügen, mit denen die Beschwerde die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) geltend macht, rechtfertigt die Zulassung der Revision.

14

Die Beschwerde rügt die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil das angegriffene Urteil den Kern des Vortrags des Klägers zur Beeinträchtigung der Damwildbestände zu Unrecht nur als natur- und forstwirtschaftlichen Einwand behandelt habe. Tatsächlich habe der Kläger auf seine Betroffenheit als Mitglied der Jagdgenossenschaft und auf die Gefährdung seiner Existenz durch die Beeinträchtigung des Damwildbestandes hingewiesen. Diese Rüge übersieht, dass das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers zur Beeinträchtigung des Damwildbestandes durch die Trassenwahl nicht nur als präkludiert angesehen hat, weil er Ausführungen zu den Wildwechseln erst nach Ablauf der Einwendungsfrist gemacht habe, sondern zu dem die Entscheidung selbständig tragenden Ergebnis gekommen ist, ein Abwägungsfehler liege hinsichtlich der Beurteilung der Auswirkungen des Vorhabens auf den Damwildbestand "offensichtlich nicht vor" (UA S. 9). Dies stützt das Gericht auf Stellungnahmen des Zentralverbands der Jagdgenossenschaften und der als anerkannter Naturschutzverband beteiligten Landesjägerschaft Niedersachsen, die sich wiederum auf die Stellungnahme der örtlichen Kreisjägerschaft, wonach durch die vorgesehene Ortsumfahrung kein bekannter Wildwechsel betroffen werde, bezieht. Bei dieser Sachlage sei die Zurückstellung jagdrechtlicher Belange nicht zu beanstanden, zumal durch Nebenbestimmungen des Planfeststellungsbeschlusses weitere Maßnahmen zur Sicherstellung jagdrechtlicher Belange vorbehalten blieben.

15

Da sich unter diesen Umständen für das Oberverwaltungsgericht Ausführungen sowohl zu der von dem Kläger insoweit behaupteten Existenzgefährdung als auch zu den behaupteten negativen Auswirkungen des Vorhabens auf die Jagdpacht des Klägers erübrigten, liegt auch der von der Beschwerde gerügte Verstoß gegen die Begründungspflicht (§ 138 Nr. 6 VwGO) nicht vor.

16

Das Oberverwaltungsgericht hat den Vortrag des Klägers zu der Arrondierung seines landwirtschaftlichen Betriebs und dessen Lage am Ortsrand zur Kenntnis genommen, wie sich aus dem Tatbestand des Urteils ergibt (UA S. 2 unten und S. 3 oben).

17

Die Beschwerde kann schließlich mit der Rüge keinen Erfolg haben, die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zur Existenzgefährdung seien überraschend gewesen, weil in der mündlichen Verhandlung nur thematisiert worden sei, ob der Kläger mit diesem Einwand präkludiert sei. Es trifft nicht zu, dass die Frage der Existenzgefährdung nur unter dem Aspekt der Präklusion erörtert und der Kläger insoweit in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 21. Oktober 2009 ist im Rahmen der Erörterung die Variantenauswahl "insbesondere im Hinblick auf eine Existenzgefährdung des klägerischen Betriebes" von der Prozessbevollmächtigten des Klägers thematisiert und in diesem Zusammenhang ein kompletter "Ausfall an Überlegungen zur weiteren Existenz bzw. zur Gefährdung der Existenz des klägerischen landwirtschaftlichen Betriebes" gerügt worden. Angesichts dessen kann keine Rede davon sein, dass die angegriffene Entscheidung mit den Ausführungen zur Existenzgefährdung auf Gesichtspunkte gestützt wurde, mit denen der Kläger nicht rechnen konnte und zu denen er keine Gelegenheit zu weiterem Vortrag und zur Stellung von Beweisanträgen gehabt hätte.