Entscheidungsdatum: 12.01.2018
I
Der Kläger wendet sich gegen den Planänderungs- und Ergänzungsbeschluss des Beklagten vom 24. April 2017.
Mit Urteil vom 14. Juli 2011 - 9 A 12.10 - (BVerwGE 140, 149) erklärte der Senat den Planfeststellungsbeschluss für die Ortsumgehung Freiberg im Hinblick auf einen Fehler bei der Verträglichkeitsprüfung für das FFH-Gebiet "Oberes Freiberger Muldetal" und darüber hinaus wegen artenschutzrechtlicher Mängel für rechtswidrig und nicht vollziehbar. Andere Einwendungen des Klägers wurden in dem Urteil als präkludiert angesehen und in der Sache nicht geprüft. Im Hinblick darauf erhob der Kläger Verfassungsbeschwerde, die er unter anderem auf eine zu strenge Anwendung der verfahrensrechtlichen Präklusionsvorschrift stützte.
Nachdem der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 15. Oktober 2015 - C-137/14 [ECLI:EU:C:2015:683] - entschieden hatte, dass die in dem früheren § 2 Abs. 3 UmwRG sowie in § 73 Abs. 4 VwVfG normierte Präklusion von Einwendungen im Hinblick auf UVP-pflichtige Verfahren nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an (Kammerbeschluss vom 18. September 2017 - 1 BvR 361/12 - juris). Die Rüge einer zu strengen Handhabung der verfahrensrechtlichen Präklusionsvorschrift sei jedenfalls wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig. Infolge der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hätten sich dem Beschwerdeführer Möglichkeiten eröffnet, gegen die geltend gemachte Rechtsverletzung im sachnäheren Planergänzungsverfahren und gegebenenfalls im fachgerichtlichen Verfahren vorzugehen.
Im streitgegenständlichen Planänderungs- und Ergänzungsbeschluss, mit dem ein Teil der vom Senat im Verfahren 9 A 12.10 festgestellten Mängel geheilt werden soll, hielt der Beklagte an der Präklusion im Umfang der Rechtskraft der damaligen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts fest. Mit der dagegen erhobenen Klage hat der Kläger unter anderem sein bislang als präkludiert angesehenes Vorbringen erneut geltend gemacht.
II
Der Hinweis ergeht nach Anhörung der Beteiligten im Interesse der Prozessökonomie.
Das in dem Urteil des Senats vom 14. Juli 2011 - 9 A 12.10 - (BVerwGE 140, 149) als präkludiert angesehene Vorbringen des Klägers ist in dem nunmehr anhängigen Rechtsstreit zu berücksichtigen, ohne dass dem die Rechtskraft des damaligen Urteils entgegensteht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beschränkt sich im Falle des § 75 Abs. 1a Satz 2 VwVfG die Rechtskraft eines Urteils mit dem Ausspruch, dass ein Planfeststellungsbeschluss rechtswidrig und nicht vollziehbar ist, nicht auf die Feststellung, dass ein bestimmter Rechtsfehler gegeben ist und im ergänzenden Verfahren behoben werden kann, sondern umfasst auch die Feststellung, dass weitere Fehler des Beschlusses nicht vorliegen. Die durch das rechtskräftige Urteil erlangte Rechtssicherheit wird grundsätzlich nur insoweit aufgegeben, als es zur Beseitigung der gerichtlich festgestellten Mängel im ergänzenden Verfahren erforderlich ist (BVerwG, Beschluss vom 17. Juli 2008 - 9 B 15.08 - Buchholz 451.91 Europ. UmweltR Nr. 35 Rn. 28; Urteile vom 8. Januar 2014 - 9 A 4.13 - BVerwGE 149, 31 Rn. 28 und vom 28. April 2016 - 9 A 9.15 - BVerwGE 155, 91 Rn. 39 jeweils m.w.N.).
Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings bislang nicht entschieden, ob die Rechtskraft eines feststellenden Urteils die Berücksichtigung des nach Auffassung des Gerichts im Planfeststellungsverfahren präkludierten Vortrags in dem anschließenden Rechtsstreit gegen die Planergänzung auch dann hindert, wenn zwischenzeitlich der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass die materielle Präklusion nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. September 2017 - 1 BvR 361/12 - juris Rn. 24). Unter den besonderen Umständen des hier vorliegenden Falles ist diese Frage zu verneinen. Der Senat ist in der hier vorliegenden Fallkonstellation gehalten, den seinem Urteil vom 14. Juli 2011 anhaftenden Mangel, der in der Anwendung der Präklusionsregelung des damaligen § 17a Nr. 7 Satz 2 FStrG (jetzt § 17a FStrG in Verbindung mit § 73 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwVfG) in Verbindung mit dem früheren § 2 Abs. 3 UmwRG liegt (1.), in dem nunmehr gegen den Planänderungs- und Ergänzungsbeschluss vom 24. April 2017 anhängigen Klageverfahren zu beheben (2.).
1. Wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in der Auslegung, die dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Oktober 2015 - C-137/14 [ECLI:EU:C:2015:683], Kommission ./. Deutschland - (Rn. 76 ff.) zugrunde liegt, hätte das vorgenannte Senatsurteil nicht auf den Gesichtspunkt der Präklusion gestützt werden dürfen. Denn danach lässt es Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (jetzt anwendbar in der Fassung vom 15. Mai 2014, ABl. Nr. L 124 S. 1) - UVP-Richtlinie - nicht zu, die Gründe, auf die der Kläger einen gerichtlichen Rechtsbehelf stützen kann, auf die bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Einwendungen zu beschränken.
Allerdings dürfte die gegenteilige Auffassung, die das Urteil des Senats vom 14. Juli 2011 trägt, nicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt haben. Denn der Senat ist in seinem vorerwähnten Urteil (BVerwGE 140, 149 Rn. 18, 25) im Anschluss an seine ständige Rechtsprechung ausdrücklich von einer materiellen Präklusion ausgegangen, die die betreffende Rechtsposition des Klägers beseitigte und daher bereits vor Erlass des gerichtlich anfechtbaren Rechtsakts eingetreten war. Eine derartige Präklusionsregelung ist nicht dem gerichtlichen Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 1982 - 2 BvR 1187/80 - BVerfGE 61, 82 <111 f.>; s. auch BVerwG, Beschluss vom 2. September 2010 - 9 B 12.10 - juris Rn. 5 m.w.N.). Der Fehler, der dem Senat bei der Anwendung der später als unionsrechtswidrig erkannten Präklusionsregelung unterlaufen ist, ist unter dieser Prämisse kein Verfahrensfehler, sondern ein materiell-rechtlicher Mangel.
2. Der Kläger kann unter den hier gegebenen besonderen Umständen verlangen, dass dieser Mangel in dem nunmehr anhängigen Klageverfahren behoben wird. Dies folgt unabhängig davon, ob sich der Kläger als Umweltverband auf die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Garantie effektiven Rechtsschutzes stützen kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. September 2017 - 1 BvR 361/12 - juris Rn. 11), aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsprinzip. Die durch die materielle Rechtskraft des Senatsurteils vom 14. Juli 2011 erreichte Rechtssicherheit muss hier dahinter zurücktreten.
Zwar gebietet das Unionsrecht grundsätzlich nicht, von der Anwendung nationaler Vorschriften über die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung abzusehen. Das gilt auch dann, wenn dadurch ein Verstoß gegen Unionsrecht behoben werden könnte. Mangels unionsrechtlicher Bestimmungen obliegt es der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese dürfen aber zum einen im Hinblick auf das Äquivalenzprinzip nicht ungünstiger sein als diejenigen, die bei ähnlichen innerstaatlichen Sachverhalten gelten. Zum anderen darf nach dem Effektivitätsprinzip die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (EuGH, Urteile vom 16. März 2006 - C-234/04 [ECLI:EU:C:2006:178] - Rn. 21 f., vom 3. September 2009 - C-2/08 [ECLI:EU:C:2009:506] - Rn. 24 und vom 6. Oktober 2015 - C-69/14 [ECLI:EU:C:2015:662] - Rn. 27). Unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsprinzips ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen (EuGH, Urteile vom 3. September 2009 - C-2/08 - Rn. 27 und vom 6. Oktober 2015 - C-69/14 - Rn. 36).
Danach hat der Senat das damals für präkludiert gehaltene Klagevorbringen, soweit es Gegenstand der fristgerecht eingereichten Klagebegründung des vorliegenden Rechtsstreits ist (§ 6 UmwRG), nunmehr zu berücksichtigen. Das ergibt sich allerdings nicht schon allein daraus, dass der ursprüngliche Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 24. Februar 2010 infolge des Urteils des Senats vom 14. Juli 2011 noch nicht vollständig bestandskräftig geworden, insbesondere nicht vollziehbar ist. Denn die durch das rechtskräftige Urteil erlangte Rechtssicherheit wird - wie bereits erwähnt - grundsätzlich nur insoweit aufgegeben, als es zur Beseitigung derjenigen Mängel erforderlich ist, die in dem Urteil festgestellt wurden. Hier besteht aber darüber hinaus die verfahrensspezifische Besonderheit, dass der Kläger schon vor Erhebung der jetzt anhängigen Klage alle ihm zumutbaren Rechtsbehelfsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte, um sich gegen die - seiner Meinung nach jedenfalls im konkreten Fall zu strenge - Handhabung der Präklusionsregelung zu wehren.
So hatte der Kläger im Vorprozess nicht nur seinen diesbezüglichen Rechtsstandpunkt dargelegt, sondern auch angeregt, dem Europäischen Gerichtshof eine die Anwendungsmodalitäten einer nationalen Präklusionsregelung betreffende Frage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen (s. Urteil des Senats vom 14. Juli 2011 - 9 A 12.10 - juris Rn. 49; in BVerwGE 140, 149 insoweit nicht abgedruckt). Er war nicht gehalten, darüber hinaus die Europarechtswidrigkeit der Präklusionsregelung generell geltend zu machen und eine dementsprechende Vorlage anzuregen. Denn es war von vornherein abzusehen, dass er damit angesichts der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolglos geblieben wäre (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. September 2017 - 1 BvR 361/12 - juris Rn. 22). Nachdem das Senatsurteil vom 14. Juli 2011 ergangen war, hat sich der Kläger nicht darauf beschränkt, die Berücksichtigung seiner präkludierten Argumente in dem Klageverfahren gegen den nunmehr angegriffenen Planänderungs- und Ergänzungsbeschluss anzumahnen. Vielmehr hatte er schon zuvor - auch und gerade im Hinblick auf die Handhabung der Präklusionsvorschriften in dieser Senatsentscheidung - Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil erhoben. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Verfassungsbeschwerde, die gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG zur Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils hätte führen können, deshalb nicht zur Entscheidung angenommen, weil es in erster Linie Aufgabe der Fachgerichtsbarkeit sei, die Auswirkungen der maßgeblichen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf die hier vorliegende Verfahrenskonstellation zu klären, wobei eine nachträgliche Berücksichtigung des präkludierten Vortrags nicht ausgeschlossen werden könne (BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. September 2017 - 1 BvR 361/12 - juris Rn. 24).
Unter Berücksichtigung des geschilderten konkreten Verfahrensablaufs widerspräche es dem Effektivitätsprinzip, würde der Senat unter Berufung auf die Rechtskraft des Urteils vom 14. Juli 2011 an der Präklusion festhalten. Denn dem Interesse an einer Beständigkeit der im Hinblick auf den Präklusionsausschluss erzielten Klärung kommt unter den hier vorliegenden besonderen Umständen ein geringeres Gewicht zu als dem vom Kläger geltend gemachten Interesse an einer sachlichen Prüfung des zu Unrecht für präkludiert gehaltenen Vorbringens. Daher hat der Senat die durch die derzeit fehlende (vollständige) Bestandskraft und Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses erleichterte Möglichkeit zu nutzen, um den Rechtsverstoß zu beheben. Maßstab für die Prüfung kann dabei nicht sein, ob die seinerzeit angenommene Präklusion in ihrem konkreten Ausmaß den damals anerkannten Grundsätzen entsprach, insbesondere die nach nationalem Verfassungsrecht in Betracht zu ziehenden Grenzen wahrte. Nicht nur wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, sondern auch im Hinblick auf den nunmehr geltenden § 7 Abs. 4 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG hat sich der Senat vielmehr davon leiten zu lassen, dass eine Präklusion generell unstatthaft ist, soweit in Bezug auf den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss - wie hier - eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen kann.