Entscheidungsdatum: 11.10.2017
In der Patentnichtigkeitssache
…
gegen
…
betreffend das europäische Patent 1 232 494
(DE 600 29 990.2)
hat der 6. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2017 durch die Vorsitzende Richterin Friehe sowie die Richter Schwarz, Dipl.-Phys. Univ. Dipl.-Wirtsch.-Phys. Arnoldi, Dipl.-Ing. Matter und Dipl.-Phys. Univ. Dr. Haupt
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 1 232 494 wird unter Abweisung der weitergehenden Klage mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die erteilten Patentansprüche 18 bis 20 und 38 bis 40 entfallen und die übrigen Patentansprüche folgende Fassung erhalten:
II. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist seit 1. Juli 2014 eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 1 232 494 (Streitpatent). Das Streitpatent beruht auf der internationalen Anmeldung der Firma Voiceage Corporation mit dem Aktenzeichen PCT/CA2000/001381 vom 17. November 2000, die die Priorität der kanadischen Anmeldung CA 2290037 vom 18. November 1999 beansprucht und die als WO 2001/037264 A1 am 25. Mai 2001 veröffentlicht worden ist. Die Erteilung des Streitpatents ist am 9. August 2006 in der Verfahrenssprache Englisch veröffentlicht worden.
Das Streitpatent trägt die Bezeichnung
„GAIN-SMOOTHING IN WIDEBAND SPEECH AND AUDIO SIGNAL DECODER“
(in Deutsch laut Streitpatentschrift:
„GLÄTTUNG DES VERSTÄRKUNGSFAKTORS IN BREITBANDSPRACH- UND AUDIO-SIGNAL DEKODIERER“)
und umfasst in der erteilten Fassung 92 Patentansprüche.
Das Streitpatent war ursprünglich seitens der Firma HTC Europe Co., Ltd., mit der Nichtigkeitsklage vom 13. März 2015 im Umfang der Ansprüche 1, 2, 5 bis 10, 13, 14, 16, 17, 21, 22, 25 bis 30 und 33, 34, 36, 37, 92 angegriffen worden. Die Klägerin zu 1 ist der Klage der Firma HTC Europe Co., Ltd., mit Schriftsatz vom 4. Juli 2016 als Klägerin beigetreten. Sie greift das Streitpatent in vollem Umfang an. Mit Schriftsatz vom 4. November 2016 hat die Firma HTC Europe Co., Ltd., ihre Nichtigkeitsklage zurückgenommen.
Die Klägerin zu 2, welche mit ihrer am 22. August 2016 erhobenen Nichtigkeitsklage die Nichtigerklärung des Streitpatents nur im Umfang der Ansprüche 1, 21 und 92 begehrt hatte, hat mit Schriftsatz vom 2. August 2017 ihre Klage auf sämtliche Patentansprüche erweitert. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 22. August 2017 erklärt, der Klageerweiterung nicht zuzustimmen.
Die erteilten unabhängigen Patentansprüche 1, 18, 21, 38, 41, 58, 75 und 92 lauten wie folgt:
In deutscher Übersetzung laut Streitpatentschrift lauten sie:
jeweils auf die vorgenannten nebengeordneten Patentansprüche unmittelbar oder mittelbar rückbezogene Unteransprüche.
Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass das Streitpatent wegen unzulässiger Erweiterung und mangels Patentfähigkeit infolge fehlender Neuheit, zumindest aber infolge fehlender erfinderischer Tätigkeit, für nichtig zu erklären sei.
Dies stützen sie insbesondere auf die folgenden Druckschriften, wobei sich die Klägerin zu 1 mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2016 auch auf die bereits von der früheren Klägerin HTC Europe Co., Ltd. eingereichten Druckschriften pauschal berufen hat:
Kurzzeichen der Klägerin zu 1 |
Kurz-zeichen der früheren Klägerin
|
Kurz-zeichen der Klägerin zu 2 |
Druckschrift |
KB1 |
WO 00/11650 A1 |
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KB4 |
AD8 |
WO 99/45532 A1 |
|
NK8 |
AD6 |
EP 1 073 039 A2 |
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NK12 |
3G TS 26.090WB V0.1 (2000-11) Technical Specification. 3rd Generation Partnership Project; Technical Specification Group Services and System Aspects; Mandatory Speech Codec speech processing functions. AMR Wideband speech codec; Transcoding functions. |
||
NK27 |
AD7 |
TS 26.090 V2.0.0 (1999-06) Technical Specification. 3rd Generation Partnership Project (3GPP); TSG-SA Codec Working Group; Mandatory Speech Codec speech processing functions; AMR speech codec; Transcoding functions. |
|
NK28 |
AD10 |
Tasaki, H., Takahashi, S., Post noise smoother to improve low bit rate speech-coding performance, Proceedings der Konferenz IEEE Workshop on Speech Coding, Model, Coders and Error Criteria, Porvoo, Finnland, 20.-23. June 1999, S. 159-161. |
|
NK29a |
Ausdruck der Webseite http://ieeexplore.ieee.org/xpl/Iogin.jsp?tp=&arnumber=781517&url=http%3A%2F%2Fieeexplore.ieee.org%2Fxpls%2Fabs_alI.jsp%3Farnumber%3D781517, Druckdatum 9.3.2016. |
||
NK30 |
AD9 |
JP 10-97296 A |
|
NK31 |
AD9a |
US 6 047 253 A (= Familienmitglied von NK30) |
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o.N. |
Beglaubigte Übersetzung der AD9 aus dem Japanischen vom 15.09.2017. |
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NK32 |
AD5 |
Kondoz, A.M., Digital Speech, Coding for Low Bit Rate Communication Systems, John Wiley & Sons, 1994 (in Auszügen). |
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AD6a |
Titelseite der AD6 |
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AD6b |
Englische Übersetzung der japanischen Prioritätsanmeldung JP 214292/99 vom 28. Juli 1999. |
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AD12 |
Vary, P., RWTH Aachen University: Gutachten zur Patentschrift EP 1 232 494 B1 (o. D.). |
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AD13 |
Tdoc SMS 860/97. Agenda item: 7.10., “AMR, the way forward”, ETSI SMG Meeting #23, Budapest, 13 – 17 October 1997. |
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AD14 |
Tdoc SMG P-99-429. Agenda items: 6.10, “Adaptive Multi-Rate Wideband (AMR-WB) Feasibility study report Version 1.0.0”. ETSI TC SMG Meeting #29, 23 – 25 Juni 1999, Miami, S. 1 – 30. |
||
AD15 |
Rabiner, L.R. et al., Applications of a Nonlinear Smoothing Algorithm to Speech Processing, IEEE Transactions on Acoustics, Speech, and Signal Processing, Band ASSP-23, Nr. 6, Dezember 1975, S. 552-557. |
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AD16 |
Velleman, P. F., Definition and Comparison of Robust Nonlinear Data Smoothing Algorithms, Journal of the American Statistical Association, Band 75, Nr. 371, September 1980, S. 609-615. |
||
AD17 |
Qian, Y. et al., Pseudo-multi-tap pitch filters in a low bit-rate CELP speech coder, Speech Communication 14, 1994, S. 339-358. |
Der Klägerinnen beantragen,
das europäische Patent 1 232 494 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte, welche das Streitpatent nur noch beschränkt verteidigt, beantragt,
die Klage abzuweisen, soweit sie das Patent mit den Ansprüchen 1 bis 17, 21 bis 37 und 41 bis 92 gemäß Schriftsatz vom 20. Juni 2017 verteidigt, hilfsweise, soweit das Patent mit einem der Hilfsanträge 1 bis 5 vom 31. Juli 2017 verteidigt wird.
Wegen des Wortlauts des Hauptantrags der Beklagten wird auf den Urteilstenor, wegen desjenigen der Hilfsanträge 1 bis 5 auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Die Beklagte tritt dem Vortrag der Klägerinnen im Einzelnen entgegen und hält den Gegenstand des Streitpatents zumindest in einer der Fassungen nach dem Hauptantrag oder nach den Hilfsanträgen 1 bis 5 für schutzfähig.
Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis vom 12. Juni 2017 mit einer Frist von 1 Monat zur Stellungnahme auf den Hinweis sowie einer weiteren Frist von 1 Monat zur Stellungnahme auf das jeweilige Vorbringen der Gegenseite zukommen lassen. Der Hinweis ist den Vertretern der Klägerinnen jeweils am 19. Juni 2017 und den Vertretern der Beklagten am 16. Juni 2017 zugestellt worden.
A.
Die Klagen sind zulässig. Soweit die Klägerin zu 2 mit Schriftsatz vom 2. August 2017 ihre Klage mit dem Ziel der Nichtigerklärung des gesamten Patents erweitert hat, ist die hierin liegende Klageänderung (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2012 – X ZR 58/09, Rn. 43 [juris], sowie Urteil vom 19. Juli 2011 – X ZR 25/09, Rn. 9 [juris]) nach § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 263 ZPO als sachdienlich zuzulassen, nachdem die Beklagte der Klageerweiterung mit Schriftsatz vom 22. August 2017 nicht zugestimmt hat. Denn zum einen ist die Frage der Nichtigerklärung des gesamten Patents schon infolge der Klage der Klägerin zu 1 Gegenstand des Verfahrens und zum anderen wird durch eine Überprüfung der Schutzfähigkeit des gesamten Patents ein möglicher weiterer Streit hierüber zwischen den Parteien vermieden.
Die somit zulässigen Klagen sind aber nur teilweise begründet. Soweit sie sich gegen die von der Beklagten nicht mehr verteidigte erteilte Fassung richten, war das Streitpatent ohne Sachprüfung für nichtig zu erklären. Sie erweisen sich dagegen als unbegründet, soweit sie auch die Nichtigerklärung des Streitpatents im Umfang der beschränkten Verteidigung der Beklagten mit dem Hauptantrag begehren, denn insoweit stehen dieser Fassung des Streitpatents entgegen der Auffassung der Klägerinnen keine Nichtigkeitsgründe nach Art. II § 6 Abs. 1 S. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 EPÜ entgegen. Aus diesem Grund ist das Streitpatent nur insoweit für nichtig zu erklären, als es über die im Tenor genannte Fassung hinausgeht. Dabei sind die im Tenor wiedergegebenen Patentansprüche aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 20. Juni 2017 kopiert, in welchem die Beklagte mit den Unterstreichungen lediglich die Zusätze und Änderungen gegenüber der erteilten Fassung markiert hatte; Gegenstand des Urteilstenors sind daher zwar die unterstrichenen Worte, nicht aber die Unterstreichungen als solche. Ob das Streitpatent daneben auch in einer der Fassungen nach den Hilfsanträgen 1 bis 5 Bestand hätte, bedarf bei dieser Sachlage keiner Entscheidung mehr.
I. Zum Gegenstand des Streitpatents
1. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zum Erzeugen eines verstärkungsgeglätteten innovativen Codevektors während der Decodierung eines codierten Breitbandsignals.
Nach den Ausführungen in der Beschreibungseinleitung wachse für viele Anwendungen, wie Audio-Video-Telekonferenzen, Multimedia- und drahtlose Anwendungen, wie auch bei Anwendungen im Internet und bei Paketnetzen, der Bedarf nach effizienten digitalen Breitband-Sprach- bzw. Audio-Codierungsverfahren mit einem guten Kompromiss zwischen subjektiver Qualität und Bitrate (vgl. Streitpatentschrift, Absatz 0002).
Ein Sprachcodierer habe die Aufgabe, das abgetastete und quantisierte Sprachsignal mit einer geringeren Anzahl von Bits darzustellen, sogenannten Modellparametern (synthesis model parameters, vgl. Absatz 0081), und dennoch eine gute subjektive Sprachqualität aufrecht zu erhalten. Die im Codierer erzeugten Modellparameter würden über einen Kommunikationskanal übertragen oder in einem Speichermedium gespeichert. Ein Sprachdecodierer oder -synthesizer verarbeite die übertragenen bzw. gespeicherten Modellparameter, um ein Sprachsignal zu synthetisieren (vgl. Absatz 0003).
Eines der besten Verfahren des Standes der Technik, das einen guten Qualitäts/Bitraten-Kompromiss erreichen könne, sei die so genannte codeangeregte lineare Vorhersagetechnik (CELP = Code Excited Linear Prediction, vgl. Absatz 0004).
Gemäß dem Ausführungsbeispiel des Streitpatents synthetisiere der CELP-Sprachdecodierer das Sprachsignal anhand folgender Modellparameter (synthesis model parameters, vgl. Absatz 0081):
- Kurzzeitprädiktionsparameter (short-term prediction parameters (STP)), die einmal pro Rahmen (frame) übertragen werden,
- Langzeitprädiktionsparameter (long-term prediction (LTP) parameters) für jeden Unterrahmen sowie
- Index des innovativen Codebuchs und Verstärkungsfaktor des innovativen Codevektors ck für jeden Unterrahmen (subframe),
wobei ein Rahmen des Sprachsignals eine vorgegebene Anzahl L von Abtastwerten des Sprachsignals umfasse, die etwa einer Sprachdauer von 10-30 ms entsprächen, und jeder Rahmen weiter in Unterrahmen von N Abtastwerten unterteilt sei, die üblicherweise einer Sprachdauer von 4-10 ms entsprächen (vgl. Absatz 0004).
Ein bei synthetisierten Sprachsignalen festgestelltes Problem sei die Verminderung der Decodiererleistung, falls im abgetasteten Sprachsignal ein Hintergrundrauschen vorhanden sei. Auch verwende das CELP-Verfahren auf der Decodiererseite Nachfilter- und Nachbearbeitungsverfahren, um das erhaltene synthetisierte Signal zu verbessern. Diese Verfahren müssten zur Eignung für Breitbandsignale angepasst werden (vgl. Absatz 0011).
2. Vor diesem Hintergrund schlägt das Streitpatent mit den unabhängigen Ansprüchen 1 und 21 in der nach Hauptantrag verteidigten Fassung ein Verfahren bzw. eine Vorrichtung vor, die sich wie folgt gliedern lassen:
Anspruch 1 gemäß Hauptantrag vom 11. Oktober 2017:
A method
1.1 for producing a gain-smoothed innovative codevector
1.1.1 during decoding of an encoded wideband signal
1.1.2 from a set of signal encoding parameters,
said method comprising:
1.2 finding an innovative codevector (ck) and an innovative codebook gain (g) in relation to at least one first (k) and at least one second (g) signal encoding parameters of said set;
1.3 calculating (501, 502) a first factor (rv, λ) representative of a degree of voicing in the wideband signal in response to at least one third signal encoding parameter (b, vT) of said set;
1.4 calculating (503, 504) a second factor (θ) representative of a degree of stability of said wideband signal in response to at least one fourth signal encoding parameter (LP) of said set;
1.5 calculating a smoothed gain (gs) using a non linear operation related to the first and second factors (rv, λ; θ) and applied to the found innovative codebook gain (g); and
1.6 amplifying the found innovative codevector (ck) with said smoothed gain (gs) to thereby produce said gain-smoothed innovative codevector.
Anspruch 21 gemäß Hauptantrag vom 11. Oktober 2017:
A device
1.1 for producing a gain-smoothed innovative codevector
1.1.1 during decoding of an encoded wideband signal
1.1.2 from a set of signal encoding parameters,
said device comprising:
1.2 means for finding an innovative codevector (ck) and an innovative codebook gain (g) in relation to at least one first (k) and at least one second (g) signal encoding parameters of said set;
1.3 means for calculating (501, 502) a first factor (rv, λ) representative of a degree of voicing in the wideband signal in response to at least one third signal encoding parameter (b, vT) of said set;
1.4 means for calculating (503, 504) a second factor (θ) representative of a degree of stability of said wideband signal in response to at least one fourth signal encoding parameter (LP) of said set;
1.5 means for calculating a smoothed gain (gs) using a non linear operation related to the first and second factors (rv, λ; θ) and applied to the found innovative codebook gain (g); and
1.6 means for amplifying the found innovative codevector (ck) with said smoothed gain (gs) to thereby produce said gain-smoothed innovative codevector.
Die Ansprüche 41, 58, 75, und 92 nach Hauptantrag betreffen ein zellulares Kommunikationssystem, ein Netzwerkelement, ein bidirektionales drahtloses Kommunikationssubsystem sowie ein Mobiltelefon, welche jeweils die im Anspruch 21 beanspruchte Vorrichtung umfassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen der übrigen Patenansprüche nach Haupt- und Hilfsanträgen, wird auf die Akte verwiesen.
3. Der zuständige Fachmann, als welchen der Senat einen Diplom-Ingenieur der Elektro- oder Nachrichtentechnik mit Universitätsabschluss und mehrjähriger Berufserfahrung sowie einschlägigen Kenntnissen auf dem Gebiet der digitalen Signalverarbeitung, insbesondere der Codierung von Sprachdaten ansieht, wird die Angaben in den gemäß Hauptantrag geltenden Ansprüchen wie folgt verstehen:
a) Unter einem Breitbandsignal (wideband signal, vgl. Merkmal 1.1.1) versteht der Fachmann insbesondere ein Breitband-Sprachsignal, d. h. ein Sprachsignal mit einer Bandbreite im Bereich von 50-7.000 Hz bzw. ein mit beispielweise 16 kHz abgetastetes oder mit 12,8 kHz unterabgetastetes Sprachsignal (vgl. Streitpatentschrift, Absätze 0002, 0032, 0038). Das beanspruchte Verfahren bzw. die Vorrichtung müssen daher geeignet sein, in Reaktion auf ein codiertes Breitband-Sprachsignal die im Merkmal 1 genannte Wirkung zu erreichen (for producing a gain-smoothed innovative codevector).
b) Die Streitpatentschrift unterscheidet in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Fachwissen des Fachmanns konsistent zwischen einem Tonhöhencodebuch (adaptive codebook) und einem innovativen Codebuch (innovative codebook, fixed codebook, vgl. Absatz 0004, Zeilen 29 bis 31). Dem Fachmann ist bekannt, dass das Tonhöhencodebuch zur Abbildung des quasi-periodischen Signalanteils im sogenannten Anregungssignal verwendet wird und das innovative Codebuch rauschartige Sequenzen zur Modellierung des nicht-periodischen Signalanteils umfasst. Das innovative Codebuch (vgl. Merkmal 1.2) ist in der Streitpatentschrift als ein indexierter Satz von N-Abtastwerten langen Folgen definiert, welche als N-dimensionale innovative Codevektoren ck bezeichnet werden (vgl. Absatz 0005; Absatz 0033, Zeile 32).
c) Die Anweisung, etwas zu finden (finding sth., vgl. Merkmal 1.2), ist kein Fachbegriff mit feststehendem Bedeutungsinhalt. Welche Maßnahmen der Fachmann ergreifen wird, um diese Anweisung auszuführen, richtet sich nach den zur Verfügung stehenden Ausgangsdaten und dem gewünschten Ergebnis. So umfasst die Anweisung im Merkmal 1.2 alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um ausgehend von dem mindestens einen ersten (k) und dem mindestens einen zweiten Signalcodierungsparameter (g) zu dem innovativen Codevektor (ck) und seinem Verstärkungsfaktor (g) zu gelangen. Die Maßnahmen zum Finden eines Codevektors (ck) können sich von den Maßnahmen zum Finden des Verstärkungsfaktors (g) unterscheiden. Nach dem nicht patentbeschränkenden Ausführungsbeispiel ergreift der Fachmann etwa folgende Maßnahmen, um zum Verstärkungsfaktor des innovativen Codebuchs zu gelangen: das Extrahieren des (codierten) Verstärkungsfaktors aus den binären Informationen im digitalen Eingangskanal und das Decodieren des Verstärkungsfaktors (vgl. Absatz 0081: extracts the synthesis model parameters from the binary information received from a digital input channel, Absatz 0082: decoded gain factor g). Der Verstärkungsfaktor des innovativen Codebuchs wird im Folgenden kurz als innovativer Verstärkungsfaktor bezeichnet. Im Falle des ersten Signalcodierungsparameters (k) muss dieser nach dem Extrahieren bzw. Decodieren aus den binären übertragenen Informationen zusätzlich noch mit den Indizes der im innovativen Codebuch gespeicherten innovativen Codevektoren (ck) verglichen werden, um den richtigen innovativen Codevektor (ck) aufzufinden.
d) Die Begriffe Signalcodierungsparameter (signal encoding parameter, vgl. Merkmal 1.1.2) und Synthesemodellparameter (synthesis model parameters, vgl. Absatz 0081) bezeichnen denselben Gegenstand. Als Signalcodierungsparameter versteht der Fachmann diejenigen Informationen, die bei der Codierung aus dem Sprachsignal abgeleitet werden und die bei der Decodierung zur Wiederherstellung bzw. Synthese des Signals erforderlich sind. Ein Satz von Signalcodierungsparametern (set of signal encoding parameters, vgl. Merkmal 1.1.2) ist eine Gruppe in bestimmter Hinsicht zusammengehöriger Signalcodierungsparameter, wobei in den gemäß Hauptantrag verteidigten unabhängigen Ansprüchen unbestimmt bleibt, auf Grund welcher Eigenschaft diese Signalcodierungsparameter zusammengehören. Erst in den Unteransprüchen (vgl. etwa Ansprüche 3, 4 und 5 gemäß Hauptantrag) sind konkrete erste/dritte/vierte Signalcodierungsparameter wie Index des innovativen Codebuchs, Tonhöhenverstärkung, Tonhöhennacheilung, Index des Tiefpassfilters und Koeffizienten eines linearen Vorhersagefilters genannt, wobei der erste und der dritte Signalcodierungsparameter jeweils den Index des innovativen Codebuchs umfassen können (vgl. Ansprüche 3, 4 gemäß Hauptantrag). Der Fachmann versteht die Bezeichnungen als erste/zweite/dritte/vierte Signalcodierungsparameter daher in dem Sinn, dass diese keine disjunkten Mengen ausbilden müssen.
e) Der Begriff der Stimmhaftigkeit in einem Breitbandsignal (voicing in the wideband signal, vgl. Merkmal 1.3) ist in der Streitpatentschrift nicht definiert. Der Fachmann bezieht die Bezeichnung als stimmhaft bzw. stimmlos üblicherweise darauf, ob ein Sprachlaut mit oder ohne Beteiligung der Stimme ausgesprochen wird, in dem Sinne, dass die Stimmbänder bei der Artikulation eines Lautes eine aktive Rolle spielen oder nicht (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Stimmhaftigkeit). Stimmhafte Abschnitte des Sprachsignals enthalten z. B. Vokale, stimmlose Abschnitte enthalten z. B. bestimmte Frikative. In den unabhängigen Ansprüchen gemäß Hauptantrag ist nicht angegeben, für welchen Zeitraum und nach welchem Verfahren der Grad der Stimmhaftigkeit in dem Breitbandsignal (degree of voicing in the wideband signal, vgl. Merkmal 1.3) ermittelt werden soll. Gemäß der Beschreibung kann der Grad der Stimmhaftigkeit in einem Unterrahmen durch verschiedene Verfahren bestimmt werden (vgl. Streitpatentschrift, Absätze 0085, 0086). Erst in den Unteransprüchen 6 bzw. 8 werden konkrete Berechnungsvorschriften für den Grad der Stimmhaftigkeit rv bzw. der Stimmlosigkeit λ angegeben:
r v = (Ev-Ec) / (Ev+Ec),
λ = 0,5 (1-r v ).
Dabei bezeichnet Ev die Energie des skalierten adaptiven Codevektors und Ec die Energie des skalierten innovativen Codevektors. In der Weiterbildung nach dem Unteranspruch 6 ist der Grad der Stimmhaftigkeit somit die Energiedifferenz zwischen dem periodischen und dem nicht-periodischen Signalanteil (Ev-Ec) normiert auf die Gesamtenergie des Anregungssignals (Ev+Ec). Folglich bezeichnet der Faktor λ gemäß der Weiterbildung nach Unteranspruch 8 einen Grad der Stimmlosigkeit. Die unabhängigen Ansprüche sind jedoch weder auf diese konkreten Berechnungsverfahren noch auf den Zeitabschnitt eines Unterrahmens beschränkt. Der Fachmann wird unter dem Grad der Stimmhaftigkeit vielmehr jegliche Abstufung verstehen können, die in einem nicht näher bestimmten Zeitabschnitt das mehr oder weniger starke Vorhandensein der Eigenschaft „Stimmhaftigkeit“ im Signal angibt. Dem Fachmann ist bekannt, dass das Sprachsignal in einem bestimmten Zeitabschnitt nicht nur rein stimmhaft oder rein stimmlos sein kann, sondern stimmhafte Sprachabschnitte auch eingebettete stimmlose Intervalle enthalten können. Der Fachmann versteht daher, dass der Wertevorrat eines Faktors, welcher repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal ist, mehr als zwei Werte umfassen muss, um diese grundlegende Eigenschaft des Sprachsignals in irgendeiner Art und Weise charakterisierend abzubilden.
f) In den unabhängigen Ansprüchen ist nicht angegeben, für welchen Zeitraum und für welche Signaleigenschaft der sog. Grad der Stabilität des Breitbandsignals (degree of stability of said wideband signal, vgl. Merkmal 1.4) ermittelt werden soll. Erst in der Ausbildung gemäß den Unteransprüchen 11 bzw. 12 werden konkrete Berechnungsverfahren für den Grad der Stabilität Ds bzw. θ angegeben:
Θ = 1.25 –D s /400000.0
Den im Unteranspruch 11 angegebenen, offensichtlich durch einen Textsatzfehler entstandenen Term stellt der Fachmann ohne weiteres als richtig (vgl. Streitpatentschrift, Seite 4, Zeile 25 oder Seite 15, Zeile 4). In der Weiterbildung nach den Unteransprüchen 11 bzw. 12 ist die Stabilität des Signals somit durch die Stabilität des linearen Vorhersagefilters bestimmt, welche als sog. Immitanz-Spektralpaar-Abstandsmaß Ds, bzw. davon abgeleiteter Wert θ angegeben werden kann. Die in den Unteransprüchen angegebenen Berechnungsverfahren können jedoch nicht einschränkend zur Auslegung der unabhängigen Ansprüche herangezogen werden. Der Fachmann wird als Grad der Stabilität des Signals vielmehr jegliche graduelle Abstufung verstehen, welche die zeitliche Veränderung bestimmter Signalcodierungsparameter kennzeichnet. Eine graduelle Abstufung, die das mehr oder weniger starke Vorhandensein der Stabilität des Signals kennzeichnet, setzt die Möglichkeit eines Vergleichs von verschieden starken Abstufungen voraus und erfordert daher, dass zumindest ein bestimmter Grad der Stabilität existiert, zu dem ein höherer/größerer und ein geringerer/kleinerer Grad der Stabilität angegeben werden kann.
g) Der Begriff der Glättung (calculating a smoothed gain, vgl. Merkmal 1.5) ist im Streitpatent nicht definiert. Der Fachmann wird die Glättung des Verstärkungsfaktors als irgendwie geartete Vergleichmäßigung oder Mittelung der Verstärkungsfaktoren aus unterschiedlichen Zeitabschnitten verstehen. Erst in der Ausbildung nach Unteranspruch 15 bzw. 35 ist vorgegeben, dass die Berechnung des geglätteten Verstärkungsfaktors einen Vergleich der Verstärkung im aktuellen Unterrahmen mit der Verstärkung im unmittelbar vorausgehenden Unterrahmen umfasst.
h) Im Merkmal 1.5 des Anspruchs 1 ist von einer nichtlinearen Operation bezogen auf den ersten und zweiten Faktor die Rede, die auf den gefundenen Verstärkungsfaktor angewendet werden soll (calculating a smoothed gain using a nonlinear operation related to the first and second factors and applied to the found gain). Die nichtlineare Operation ist somit eine Zuordnungsvorschrift, die drei Eingangsgrößen, erster Faktor (rv, λ), zweiter Faktor (ϴ) und gefundener Verstärkungsfaktor (g), auf eine Ausgangsgröße, den geglätteten Verstärkungsfaktor (gs), abbildet. Der Fachmann wird eine solche Zuordnungsvorschrift dann als nichtlinear ansehen, wenn sie für eine einzige oder mehrere ihrer drei Eingangsgrößen (rv, λ), (ϴ) oder (g) die Linearitätsbedingungen (homogen, additiv) nicht erfüllt. Die im Ausführungsbeispiel des Streitpatents angegebene Vorschrift zur Berechnung des geglätteten Verstärkungsfaktors (vgl. Absätze 0092 bis 0094),
g s = S m * g o + (1-S m ) * g,
S m = λ Θ ,
if g < g -1 then g 0 =g*1.19 bounded by g 0 ≤ g -1,
if g ≥ g -1 then g 0 =g/1.19 bounded by g 0 ≥ g -1 .
ist nichtlinear in Bezug auf den ersten (λ) und den zweiten Faktor (θ), denn sie enthält ihr Produkt (λ θ). Die Funktion ist auch nichtlinear in Bezug auf g, denn der anfangsmodifizierte Verstärkungsfaktor (g0) ist eine Stufenfunktion von g. Diese im Ausführungsbeispiel des Streitpatents offenbarten nichtlinearen Funktionen beschränken jedoch nicht den Begriff der nichtlinearen Operation im Anspruch 1, denn dem Fachmann sind zahlreiche weitere nichtlineare Operationen bekannt.
II. Zur beschränkten Verteidigung des Streitpatents in der Fassung nach dem Hauptantrag
1. Unzulässige Erweiterung
Entgegen der Ansicht der Klägerinnen ist das Streitpatent in der nach Hauptantrag verteidigten Fassung nicht nach Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. c) EPÜ für nichtig zu erklären.
1.1 Hiernach darf der Gegenstand eines Patentanspruchs nicht über das hinausgehen, was den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen als zur angemeldeten Erfindung gehörend zu entnehmen ist. Dieser prüfende Vergleich bezieht sich nicht nur auf die in der Anmeldung formulierten Patentansprüche; entscheidend ist vielmehr, was der Fachmann des betreffenden Gebiets der Technik der Gesamtheit der ursprünglichen Unterlagen als zur Erfindung gehörend entnehmen kann (st. Rspr., vgl. z. B. BGH, Urteil vom 19. Juli 2016 – X ZR 36/14, juris, Rn. 26 -; Urteil vom 17. Juli 2012 – X ZR 117/11, BGHZ 194, 107 Rn. 45 m. w. N. - Polymerschaum I).
Für die Beurteilung, ob der erteilte Patentanspruch über die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen hinausgeht, gelten nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts die Grundsätze der Neuheitsprüfung. Danach ist erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann (st. Rspr., vgl. z. B. BGH, Urteil vom 19. Juli 2016 – X ZR 36/14, juris, Rn. 27 – m. w. N.).
1.2 Die Anweisungen in den einzelnen Merkmalen des nach Hauptantrag geltenden Anspruchs 1 gehen in zulässiger Weise auf folgende Stellen der ursprünglich eingereichten Unterlagen zurück – wobei der Senat davon ausgeht, dass die ursprünglichen Anmeldeunterlagen mit der Offenlegungsschrift WO 01/37264 A1 übereinstimmen:
Merkmale 1.1, 1.1.1, 1.1.2:
ursprünglicher Anspruch 1;
Merkmal 1.2: ursprünglicher Anspruch 1; ursprüngliche Beschreibung, Seite 28, Zeile 29 bis Seite 29, Zeile 18, ursprüngliche Fig. 2:
Merkmal 1.3: ursprünglicher Anspruch 1 und ursprüngliche Beschreibung, Seite 30, Zeile 9;
Merkmal 1.4: ursprünglicher Anspruch 1;
Merkmal 1.5: ursprünglicher Anspruch 1 und ursprüngliche Beschreibung, Seite 29, Zeilen 27 bis 31;
Merkmal 1.6: ursprünglicher Anspruch 1.
Entgegen der Auffassung der Klägerinnen geht insbesondere der Teil der Anweisung im Merkmal 1.2, wonach ein innovativer Verstärkungsfaktor (g) in Bezug auf mindestens einen zweiten (g) Signalcodierungsparameter des Satzes zu finden ist,
1.2 finding … an innovative codebook gain (g) in relation to … at least one second (g) signal encoding parameters of said set,
in zulässiger Weise auf die vorstehend angegebenen Fundstellen in den ursprünglich eingereichten Unterlagen zurück.
In den Ursprungsunterlagen ist zwar die Anweisung, den Verstärkungsfaktor zu finden, nicht wortwörtlich enthalten, ursprungsoffenbart ist jedoch, dass die Signalcodierungsparameter (synthesis model parameters) in einem Demultiplexer aus der im digitalen Eingangskanal empfangenen Binärinformation extrahiert werden und die aus jedem empfangenen Rahmen extrahierten Parameter neben dem Index k des innovativen Codebuchs auch die innovative Verstärkung g für jeden Unterrahmen umfassen (vgl. ursprüngliche Beschreibung, Seite 28, Zeile 29 bis Seite 29, Zeile 18). Weiter ist ursprungsoffenbart, dass der innovative Codevektor ck mit dem decodierten Verstärkungsfaktor g skaliert wird (vgl. ursprüngliche Beschreibung, Seite 29, Zeilen 16 bis 18). In der ursprünglichen Fig. 2 sind diese zwei Schritte, um aus der empfangenen Binärinformation (222) den innovativen Verstärkungsfaktor (g) abzuleiten, als „DEMUX AND DECODE“ bezeichnet.
Ausschnitt aus der ursprünglich eingereichten Fig. 2
Weder der Begriff des Extrahierens noch der Begriff des Decodierens des Verstärkungsfaktors ist in den ursprünglichen Unterlagen näher bestimmt. Insbesondere ist in der Ursprungsoffenbarung nicht vorgegeben, auf welche Art und Weise der Verstärkungsfaktor in der Binärinformation codiert ist. Es bleibt somit dem Fachmann überlassen, welche Einzelmaßnahmen zu ergreifen sind, um den Verstärkungsfaktor zu decodieren. Das Decodieren eines codierten Parameters kann insbesondere auch Berechnungen und Korrekturschritte erfordern. Der Bedeutungsinhalt der ursprungsoffenbarten Anweisungen des Extrahierens und Decodierens ist vielmehr lediglich dadurch beschränkt, dass die Ausgangsdaten, der im digitalen Eingangskanal eintreffende Bitstrom mit Signalcodierungsparametern, und das gewünschte Ergebnis, der innovative Verstärkungsfaktor, vorgegeben sind.
Die Anweisung im Merkmal 1.2 des nach Hauptantrag verteidigten Anspruchs 1 ist nicht breiter als die Ursprungsoffenbarung, denn der Bedeutungsinhalt des Begriffes „Finden“ ist gleichermaßen durch die im Merkmal 1.2 angegebenen Ausgangsdaten, mindestens einen zweiten (g) Signalcodierungsparameter des Satzes, und das gewünschte Ergebnis beschränkt, den innovativen Verstärkungsfaktor.
1.3 Hinsichtlich des Anspruchs 21 gemäß Hauptantrag gelten ähnliche Überlegungen.
1.4 In Bezug auf die übrigen Ansprüche 2 bis 17, 22 bis 37 und 41 bis 92 gemäß Hauptantrag hat der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass die hier enthaltenen Merkmale in unzulässiger Weise über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen. Entsprechendes haben die Klägerinnen auch nicht geltend gemacht.
2. Erweiterung des Schutzbereichs
Der beschränkten Fassung nach Hauptantrag steht auch nicht der Nichtigkeitsgrund nach Art. II § 6 Absatz 1 Nr. 4 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Absatz 1 Buchst. d) EPÜ entgegen. Denn anders als die erteilte Fassung betrifft die Fassung des Patents nach Hauptantrag nunmehr nur noch eine Teilmenge von Codevektoren und Verstärkungsfaktoren, nämlich innovative Codevektoren und ihre Verstärkungsfaktoren. Der Schutzbereich des Patents ist damit gegenüber der erteilten Fassung nicht erweitert.
3. Patentfähigkeit
Der nach Hauptantrag verteidigten Fassung des Streitpatents steht auch nicht der Nichtigkeitsgrund nach Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. a), Art. 52, 56 EPÜ entgegen, denn die Lehre der unabhängigen Ansprüche gilt gegenüber dem Stand der Technik als neu und auch als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend.
3.1 Stand der Technik
Der nach Angaben der Klägerinnen am 3. November 2000 veröffentlichte Entwurf einer AMR-WB-Spezifikation
NK12 3GTS 26.090WB V0.1 (2000-11). 3rd Generation Partnership Project; Technical Specification Group Services and System Aspects; Mandatory Speech Codec speech processing functions. AMR Wideband speech codec; Transcoding functions.
ist kein Stand der Technik für das Streitpatent in der nach Hauptantrag verteidigten Fassung, da diese die Unionspriorität der kanadischen Anmeldung 2290037 vom 18. November 1999 wirksam in Anspruch nimmt.
3.1.1 Die Inanspruchnahme einer Priorität ist wirksam, wenn Vor- und Nachanmelder identisch sind (Anmelderidentität) und es sich bei Vor- und Nachanmeldung um dieselbe Erfindung (Art. 87 EPÜ) handelt (Erfindungsidentität). Die Erfindungsidentität ist gegeben, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann (Große Beschwerdekammer des EPA, GRUR Int. 2002, 80). Dies ist nach ständiger Rechtsprechung anhand des Offenbarungsgehalts des Prioritätsdokuments zu beurteilen, wofür die Prinzipien der Neuheitsprüfung heranzuziehen sind (vgl. BGH 11. Sep-tember 2001, BGHZ 148, 383 – Luftverteiler, BGH, GRUR 2004, 133, 135 – Elektronische Funktionseinheit; Große Beschwerdekammer des EPA a. a. O.). Die Priorität aus der Erstanmeldung kann daher beansprucht werden, soweit diese – wäre sie als Stand der Technik heranzuziehen – den Gegenstand der beanspruchten europäischen Anmeldung neuheitsschädlich vorwegnähme. Dabei brauchen einzelne Merkmale in der Prioritätsanmeldung nicht ausdrücklich erwähnt zu sein, vielmehr reicht es, wenn der Fachmann sie auf Grund seines Fachwissens allein, bei der Nacharbeitung der offenbarten Erfindung oder durch Vornahme einfacher Versuche der Prioritätsanmeldung entnehmen kann.
3.1.2 Vorliegend sind sowohl die Anmelder- als auch die Erfindungsidentität gegeben.
Da sowohl die Prioritätsschrift als auch die Anmeldung des Streitpatents von der Fa. Voiceage Corp. angemeldet worden war, besteht an der Anmelderidentität kein Zweifel.
Die Erfindungsidentität wiederum ergibt sich daraus, dass die Anweisungen in den einzelnen Merkmalen des nach Hauptantrag verteidigten Anspruchs 1 dem Fachmann an folgenden Stellen der Prioritätsanmeldung offenbart sind:
Merkmal 1.1: Anspruch 2;
Merkmal 1.1.1 Anspruch 2 und Beschreibung, Seite 28, Zeile 1;
Merkmale 1.1.2 und 1.2:
Beschreibung, Seite 28, Zeilen 2-23, Seite 29, Zeilen 22, 23, Seite 30, Zeile 26;
Merkmal 1.3: Anspruch 2 und Beschreibung, Seite 29, Zeilen 16-24;
Merkmal 1.4: Anspruch 2 und Beschreibung, Seite 29, Zeile 6-9;
Merkmal 1.5: Anspruch 2 und Beschreibung, Seite 29, Zeilen 4-6;
Merkmal 1.6: Anspruch 2.
Soweit die Klägerinnen hiergegen u. a. geltend machen, dass der im Merkmal 1.1.2 beanspruchte Satz von Signalcodierungsparametern nicht auf Parametern des aktuellen Rahmens oder des dazugehörigen Unterrahmens beschränkt sei, sondern gerade auch Parameter von anderen, angrenzenden Rahmen beinhalten könne, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen entnimmt der Fachmann dies nämlich schon der Prioritätsanmeldung. Denn zum einen stellt eine Glättung des Verstärkungsfaktors nichts anderes als eine Vergleichmäßigung oder Mittelung der Verstärkungsfaktoren aus unterschiedlichen Zeitabschnitten dar, erfordert also regelmäßig Verstärkungsfaktoren und somit Signalcodierungsparameter aus unterschiedlichen Unterrahmen bzw. Rahmen (vgl. Prioritätsdokument, Seite 32, Zeilen 19 bis 21: gain smoothing calculator 228 by comparing the fixed codebook gain g to a threshold given by the initial modified gain from the past subframe, g-1). Zum anderen offenbart das Ausführungsbeispiel der Prioritätsanmeldung die Berechnung des Stabilitätsgrads Ds, der in die Glättung des Verstärkungsfaktors eingehen soll, nach der auf Seite 30, Zeile 26 angegebenen Vorschrift:
Demnach gehen in den geglätteten Verstärkungsfaktor auch über den Stabilitätsgrad Ds Signalcodierungsparameter sowohl aus dem aktuellen n-ten Rahmen als auch aus dem vorhergehenden n-1-ten Rahmen ein.
Die im Ausführungsbeispiel der Prioritätsanmeldung offenbarten Signalcodierungsparameter b, T, g, k, , g-1 (vgl. Prioritätsdokument, Seite 29, Zeilen 22, 23, 26, Seite 31, Zeilen 20, 21) bilden für den Fachmann schon deshalb einen Satz von Signalcodierungsparametern, weil aus diesen Parametern der verstärkungsgeglättete innovative Codevektor bestimmt wird.
In Bezug auf die Offenbarung der im Merkmal 1.2 des Anspruchs 1 enthaltenen Anweisung in der Prioritätsanmeldung gelten ähnliche Überlegungen wie vorstehend zur unzulässigen Erweiterung ausgeführt. Denn der Abschnitt „Gain smoothing“ in der Prioritätsanmeldung, der ab Seite 29, Zeile 3 bis Seite 32, Zeile 10 ein Ausführungsbeispiel der Glättung des Verstärkungsfaktors beschreibt, entspricht nahezu wortidentisch dem Abschnitt „Gain smoothing“ von Seite 29, Zeile 25 bis Seite 33, Zeile 19 der ursprünglichen Anmeldung.
3.1.3 Hinsichtlich des Anspruchs 21 gemäß Hauptantrag gelten vergleichbare Überlegungen.
3.1.4 In Bezug auf die übrigen Ansprüche 2 bis 17, 22 bis 37 und 41 bis 92 gemäß Hauptantrag ist für den Senat nicht erkennbar, aus welchem Grund diese die Priorität nicht wirksam in Anspruch nehmen sollten. Entsprechendes haben die Klägerinnen auch nicht geltend gemacht.
3.2 Patentfähigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 nach Hauptantrag
3.2.1 Stand der Technik nach der Offenlegungsschrift EP 1 073 039 A2 (= NK8, AD6)
Die europäische Anmeldung EP 1 073 039 A2 mit Prioritätsdatum 28. Juli 1999, welche am 31. Januar 2001 und damit nach dem Anmeldetag des Streitpatents veröffentlicht wurde, ist Stand der Technik nach Art. 54 Abs. 3 EPÜ und wird gemäß Art. 56 Satz 2 EPÜ bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hauptantrag gilt gegenüber dem Stand der Technik nach der Offenlegungsschrift EP 1 073 039 A2 als neu.
Die Offenlegungsschrift EP 1 073 039 A2 – im Folgenden als Schrift NK8 bezeichnet – offenbart entsprechend den Anweisungen in den Merkmalen 1.1 bis 1.1.2 des Anspruchs 1 nach Hauptantrag ein Verfahren zum Erzeugen eines verstärkungsgeglätteten (performing smoothing processing) innovativen Codevektors (sound source signal) während der Decodierung eines codierten Breitbandsignals aus einem Satz von Signalcodierungsparametern (based on the decoded information, vgl. NK8, Anspruch 1). Denn das Tonquellensignal (sound source signal) stellt einen Vektor in einem festen Codebuch, d. h. einen innovativen Codevektor dar (vgl. NK8, Absatz 0009), und der vom Decodierer empfangene Bitstrom ist dadurch bestimmt, dass das Sprachsignal im Codierer mit einer Abtastrate von z. B. 16 KHz abgetastet wurde (vgl. NK8, Absatz 0047). Ein solches mit 16 KHz abgetastetes Sprachsignal sieht der Fachmann nach den vorstehenden Ausführungen zum Verständnis des Streitpatents als Breitband-Sprachsignal an.
Das aus der Schrift NK8 entnehmbare Verfahren umfasst entsprechend den Anweisungen in dem Merkmal 1.2 des Anspruchs 1 nach Hauptantrag auch den Schritt des Findens eines innovativen Codevektors (sound source vector) und eines Verstärkungsfaktors des innovativen Codebuchs (second gain) in Bezug auf mindestens einen ersten (index corresponding to a sound source vector) und mindestens einen zweiten Signalcodierungsparameter (index corresponding to the second gain) dieses Satzes (vgl. NK8, Absatz 0048, Zeilen 22 bis 27).
Die Schrift NK8 offenbart zwar das Berechnen eines ersten Faktors (identification flag Svs), welcher angibt, ob das Breitband-Sprachsignal im aktuellen Rahmen stimmhaft oder stimmlos ist (vgl. NK8, Absatz 0057: Svs = 1 corresponds to voiced speech, and Svs = 0 corresponds to unvoiced speech …), als Reaktion auf mindestens einen dritten Signalcodierungsparameter (LSP, Smode, Êrms) dieses Satzes (vgl. NK8, Absatz 0052) und das Berechnen eines zweiten Faktors (classification flag Snz), welcher angibt, ob sich die Frequenzcharakteristik des Rauschens im Breitband-Sprachsignal unstetig oder stetig mit der Zeit ändert (vgl. NK8, Absatz 0062: Snz = 1 corresponds to noise whose frequency characteristics unsteadily change over time, and Snz = 0 corresponds to noise whose frequency characteristics steadily change over time …), als Reaktion auf mindestens einen vierten Signalcodierungsparameter (LSP) dieses Satzes (vgl. NK8, Absätze 0054, 0056). Entgegen der Auffassung der Klägerinnen ist das Identifizierungsflag Svs jedoch kein Faktor entsprechend Merkmal 1.3 des Anspruchs 1 nach Hauptantrag, welcher repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal ist, denn das Identifizierungsflag Svs stellt keine Abstufung des mehr oder weniger starken Vorhandenseins der Eigenschaft Stimmhaftigkeit dar, sondern kann lediglich die beiden Werte 1 (stimmhaft) oder 0 (stimmlos) annehmen. Entsprechendes gilt für das Klassifizierungsflag Snz hinsichtlich des Stabilitätsgrads des Breitbandsignals (vgl. Merkmal 1.4), denn auch das Klassifizierungsflag Snz kann nur die beiden Werte 0 oder 1 annehmen.
Nach Auffassung der Klägerinnen könne alternativ der sog. Intra-Rahmen-Mittelwert des Tonhöhenvorhersagegewinns G̅emem(n) (vgl. NK8, Absatz 0084: pitch predition gain … intra-frame average G̅emem(n)) als Faktor angesehen werden, welcher repräsentativ für einen Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal sei. Der Langzeit-Mittelwert d̄q1(n) der Variation der linearen Vorhersagekoeffizienten (LSP) könne als Faktor angesehen werden, welcher repräsentativ für einen Stabilitätsgrad des Breitbandsignals sei (vgl. NK8, Absatz 0054: A variation amount dq(n) of the LSP in the nth frame …, Absatz 0056: A long-term average d̄q1(n) of dq(n) is calculated ...).
Einem solchen Verständnis der Schrift NK8 kann sich der Senat nicht vollumfänglich anschließen. Die Parameter G̅emem(n) und d̄q1(n) mögen zwar jeweils einen Wertevorrat von mehr als zwei Werten umfassen und der Parameter d̄q1(n) mag auch repräsentativ für einen Stabilitätsgrad des Breitbandsignals sein. An keiner Stelle der Schrift NK8 wird jedoch der Parameter G̅emem(n) als repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal bezeichnet (vgl. Merkmal 1.3). Eine solche Bedeutung liest der Fachmann in der Schrift NK8 auch nicht ohne weiteres mit, denn dort wird ein Sprachsegment als stimmhaft klassifiziert (Svs=1), welches die Bedingung
d̄ q1 (n) ≥ C th1 (vgl. NK8, Absatz 0057, Zeile 33)
erfüllt, andernfalls ist das Sprachsegment stimmlos (Svs=0). In dieses Entscheidungskriterium geht der Parameter G̅emem(n) nicht ein. Schon aus diesem Grund kann der Parameter G̅emem(n) nach der Lehre aus der Schrift NK8 nicht repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Signal sein. Für die als stimmlos klassifizierten Sprachsegmente (Svs=0) wird mit einem zweiten Entscheidungskriterium geprüft, ob diese Zuweisung berichtigt werden muss. Das zweite Entscheidungskriterium wertet die Parameter Êrms und Smode aus und lautet:
If ( Ê rms ≥ C rms and S mode ≥ 2) then S vs =1
else S vs =0 (vgl. NK8, Absatz 0058, Zeile 42).
Da der Parameter Smode aus dem Parameter G̅emem(n) abgeleitet wird (vgl. NK8, Absatz 0084), mag der Parameter G̅emem(n) somit zwar als Hilfskriterium in die Entscheidung darüber eingehen, ob ein Rahmen als stimmhaft oder stimmlos erkannt wird, da für die Entscheidung jedoch insgesamt drei Parameter berücksichtigt werden müssen, nämlich die Parameter d̄q1(n), G̅emem(n) und Êrms, liest der Fachmann in der Schrift NK8 nicht ohne weiteres mit, dass bereits der Parameter G̅emem(n) repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Signal ist.
Insoweit kann der Senat auch nicht den Ausführungen in dem von der Klägerin im Verfahren 6 Ni 60/16 (EP) eingereichten Gutachten
Vary, P., RWTH Aachen University: Gutachten zur Patentschrift EP 1 232 494 B1 (= AD12)
– im Folgenden kurz als Gutachten AD12 bezeichnet – beitreten, in dem der Parameter gemem(m) (bzw. dessen logarithmierter Wert Gemem(m)) als primärer Voicing-Faktor bezeichnet wird, der ein direktes primäres Maß für den Grad der Stimmhaftigkeit liefere (vgl. AD12, Seite 12, letzter Absatz sowie Seite 13, vorletzter und letzter Absatz), und aus dem die Parameter G̅emem(n) und ein sekundärer Voicing-Faktor Smode abgeleitet werde (vgl. AD12, Seite 14, erster Absatz). Nach der Lehre aus der Schrift NK8 gibt vielmehr allein das Identifizierungsflag Svs an, ob das Sprachsignal stimmhaft oder stimmlos ist. Eine Bedeutung der Parameter Gemem(m) bzw. Smode als primärer bzw. sekundärer Voicing-Faktor ist nicht als allgemeines Fachwissen des Fachmanns nachgewiesen, denn im Teil B des Gutachtens AD12, das ausweislich der Einführung auf Seite 2, fünfter Absatz das allgemeine Fachwissen des Fachmanns betrifft, finden sich keine Aussagen zur Stimmhaftigkeit oder zu Parametern wie G̅emem(m) bzw. Smode.
Somit offenbart die Schrift NK8 in keiner der von den Klägerinnen geltend gemachten Zuordnungsvarianten alle Anweisungen im Merkmal 1.3 des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag.
Insoweit spielt es keine Rolle, dass die Schrift NK8 im Absatz 0067 die Lehre vermittelt, dass eine zweite Umschaltschaltung (2210) abhängig vom konkreten Wert des Identifizierungflags Svs und des Klassifizierungsflags Snz im aktuellen Rahmen n die für die einzelnen Unterrahmen m gefundenen Verstärkungsfaktoren ĝ2 (m)(n) im Fall Svs=0 und Snz=0 an das vierte Filter (2250), im Fall Svs=0 und Snz=1 an das fünfte Filter (2260) und im Fall Svs=1 an das sechste Filter (2270) ausgibt. Die Klägerin im Verfahren 6 Ni 10/16 (EP) hat diesen Sachverhalt zutreffend in der folgenden Grafik dargestellt:
Grafik aus dem Schriftsatz der Klägerin im Verfahren 6 Ni 10/16 (EP)
vom 2. August 2017, Seite 9
Für jeden Unterrahmen empfängt entweder das vierte oder das fünfte oder das sechste Filter (2250, 2260, 2270) den gefundenen innovativen Verstärkungsfaktor (second gain ĝ2 (m)(n)) und glättet diesen unter Verwendung eines linearen oder nichtlinearen Filters (vgl. NK8, Absätze 0068 bis 0070). Die Klägerinnen haben in der mündlichen Verhandlung auch zu Recht geltend gemacht, dass die beispielhaft im Absatz 0068 und 0069 angegebenen linearen Filterfunktion des vierten (2250) und fünften Filters (2260) entgegen der im qualifizierten Hinweis, Abschnitt III.3.3, geäußerten vorläufigen Meinung des Senats gerade nicht identisch sind, denn diese unterscheiden sich durch die Parameter ḡ2,1 (m-1)(n) und ḡ2,2 (m-1)(n), also durch den geglätteten innovativen Verstärkungsfaktor (second gain, vgl. Angabe „2“ an der ersten Position des Tiefindex ḡ2,1 (m-1)(n) bzw. ḡ2,2 (m-1)(n)), welcher im vorhergehenden, m-1-ten Unterrahmen des n-ten Rahmens durch den vierten bzw. fünften Filter (vgl. Angabe „1“ bzw. „2“ an der zweiten Position des Tiefindex) erzeugt wurde.
Damit offenbart die Schrift NK8 zwar gemäß einem Teil des Merkmals 1.5 das Berechnen eines geglätteten Verstärkungsfaktors (vgl. NK8, Absatz 0056 bis 0070: smoothed gain ḡ2,1 (m)(n), ḡ2,2 (m)(n), ḡ2,3 (m)(n)) unter Anwendung einer nichtlinearen Operation (smoothes it using a linear or non-linear filter) in Bezug auf das Identifizierungflag Svs und das Klassifizierungsflag Snz und Anwendung auf den gefundenen Verstärkungsfaktor des innovativen Codebuchs (second gain ĝ2 (m)(n)) sowie gemäß Merkmal 1.6 im Übrigen auch das Verstärken des gefundenen innovativen Codevektors mit dem geglätteten Verstärkungsfaktor, um dadurch den verstärkungsgeglätteten innovativen Codevektor zu erzeugen (vgl. NK8, Absatz 0011: multiplies the first sound source vector and the second gain to decode a second sound source vector).
Da das Identifizierungsflag Svs nach den vorstehenden Überlegungen jedoch kein erster Faktor im Sinne des Merkmals 1.3 ist, also kein Faktor, der den Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal kennzeichnet, sind die Anweisungen in den Merkmalen 1.3 und 1.5 des Anspruchs 1 nach Hauptantrag der Schrift NK8 nur teilweise entnehmbar.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hauptantrag gilt somit gegenüber dem Stand der Technik nach der Schrift EP 1 073 039 A2 als neu.
3.2.2 Stand der Technik nach der Spezifikation TS 26.090 V2.0.0 (1999-06) (= NK27, AD7)
a) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag gilt gegenüber dem Stand der Technik nach der Technischen Spezifikation TS 26.090 V2.0.0 als neu.
Die Technische Spezifikation TS 26.090 V2.0.0 – im Folgenden als Spezifikation NK27 bezeichnet – offenbart auf den Seiten 38, 39, Kapitel 6.1, insbesondere Abschnitt 4), die Anweisungen in den Merkmalen 1.1 und 1.1.2 sowie einem Teil des Merkmals 1.1.1, nämlich ein Verfahren zum Erzeugen eines verstärkungsgeglätteten innovativen Codevektors ( 4) Smoothing of the fixed codebook gain …) während der Decodierung eines codierten Signals aus einem Satz von Signalcodierungsparametern (vgl. NK27, Seiten 38, 39, Kapitel 6.1, Abschnitte 2) bis 4): … received algebraic codebook index … received index … 10 LSPs). Die Spezifikation NK27 betrifft jedoch die Decodierung eines Sprachsignals, welches im Codierer mit einer Abtastrate von 8 kHz abgetastet wurde (vgl. NK27, Seite 5, Kapitel 1: The sampling rate is 8 000 samples/s), und somit nicht die Decodierung eines codierten Breitbandsignals gemäß Restmerkmal 1.1.1 des Anspruchs 1 nach Hauptantrag.
Weiterhin sind der Spezifikation NK27 die Anweisungen im Merkmal 1.2 des Anspruchs 1 entnehmbar, nämlich das Finden eines innovativen Codevektors (algebraic codevector c(n)) und eines Verstärkungsfaktor des innovativen Codebuchs (quantified fixed codebook gain ĝc) in Bezug auf mindestens einen ersten (algebraic codebook index) und mindestens einen zweiten Signalcodierungsparameter (received index) dieses Satzes (vgl. NK27, Seite 38, Kapitel 6.1, Abschnitte 2) und 3)).
Die Spezifikation NK27 offenbart auf den Seiten 38, 39, Kapitel 6.1, Abschnitt 4) einen Teil des Merkmals 1.4 des Anspruchs 1: das Berechnen eines zweiten Faktors (diffm), welcher repräsentativ für einen Stabilitätsgrad des Signals ist (stationarity of the short-term spectrum), als Reaktion auf mindestens einen vierten Signalcodierungsparameter (10 LSPs) dieses Satzes. Von einem Faktor, welcher repräsentativ für Grad der Stimmhaftigkeit im Signal ist, ist in der Spezifikation NK27 jedoch nicht die Rede. Die Klägerinnen sehen den auf Seite 38, Kapitel 6.1, Abschnitt 3) der Spezifikation NK27 beschriebenen quantisierten Verstärkungsfaktor ĝp des Tonhöhencodebuchs (quantified adaptive codebook gain, ĝ p ) als repräsentativ für Grad der Stimmhaftigkeit im Signal an und verweisen auf Absatz 0099 der Streitpatentschrift, in dem ausgeführt ist, dass der Verstärkungsfaktor des Tonhöhencodebuchs einen Anhaltspunkt für die Periodizität des Sprachsignals liefert (provides an indication of periodicity).
Unterstellt, der quantisierte Verstärkungsfaktor ĝp des Tonhöhencodebuchs wäre ein Faktor, welcher repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Signal ist, welcher als Reaktion auf mindestens einen dritten Signalcodierungsparameter (received index) dieses Satzes berechnet wird (Teilmerkmal 1.3), geht die Offenbarung der Spezifikation NK27 in Bezug auf das Merkmal 1.5 des Anspruchs 1 über Folgendes nicht hinaus (vgl. NK27, Seite 39, insbesondere Gleichungen (72), (74) und den dazugehörenden Text): das Berechnen eines geglätteten Verstärkungsfaktors ĝc
ĝ c = ĝ c * k m + g̅ c * (1-k m ) . (74)
unter Anwendung einer nichtlinearen Operation
k m = min(K 2 , max(0, diff m - K 1 ))/K 2 , (72)
in Bezug auf den zweiten Faktor (diffm) und Anwendung auf den gefundenen Verstärkungsfaktor des innovativen Codebuchs (ĝc), denn in die Operation zur Berechnung der geglätteten Verstärkung ĝc geht der zweite Faktor diffm durch die Maximum-Funktion max(0, diffm-K1) in nichtlinearer Weise, nicht jedoch der Faktor ĝp ein.
Die Anweisung im Merkmal 1.6 des Anspruchs 1, das Verstärken des gefundenen innovativen Codevektors (c(n)) mit dem geglätteten Verstärkungsfaktor (ĝc), um dadurch den verstärkungsgeglätteten innovativen Codevektor (ĝc c(n)) zu erzeugen, ergibt sich in der Spezifikation NK27 aus der Gleichung (75) auf Seite 40:
u(n) = ĝ p v(n) + ĝ c c(n) . (75).
Die Spezifikation NK27 offenbart somit weder die Decodierung eines codierten Breitbandsignals (Restmerkmale 1.1.1, 1.3, 1.4) noch das Berechnen eines geglätteten Verstärkungsfaktors unter Anwendung einer Operation in Bezug auf einen ersten Faktor, welcher repräsentativ für den Grad der Stimmhaftigkeit im Breitbandsignal ist (Restmerkmal 1.5).
b) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht ausgehend vom Stand der Technik nach der Spezifikation NK27 auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.
aa) Entgegen der Auffassung der Klägerinnen legt der Stand der Technik nach der Spezifikation NK27 dem Fachmann das im Anspruch 1 gemäß Hauptantrag beanspruchte Verfahren nicht nahe.
Die Klägerinnen haben sinngemäß vorgetragen, der Fachmann habe vor dem Hintergrund der Offenbarung der Spezifikation NK27 und seines allgemeinen Fachwissens die Veranlassung, auch die Stimmhaftigkeit des Signals bei der Glättung des Verstärkungsfaktors heranzuziehen. Denn nach Auffassung der Klägerinnen enthalte die Spezifikation NK27 schon selbst einen unmittelbaren Hinweis bzw. eine Motivation, auch die Stimmhaftigkeit des Signals bei der Glättung des innovativen Verstärkungsfaktors heranzuziehen. So spreche die Spezifikation NK27 davon, dass die Glättung der Verstärkung des innovativen Codevektors erfolgt, um unnatürliche Fluktuationen in der Energiekontur des Signals zu vermeiden (vgl. NK27, Seite 38, letzter Absatz). Dem Fachmann sei es bekannt, dass es allein mit dem Stabilitätsparameter nicht möglich sei, stimmhafte Signalabschnitte mit hoher Stabilität (z. B. lang anhaltende Vokale) von stationärem Hintergrundrauschen zu unterscheiden, denn beide seien Signale mit relativ hoher Stabilität. Bei stimmhaften Abschnitten würden aber sprunghafte Änderungen der Verstärkungen zum Sprachsignal gehören, seien also natürliche Fluktuationen, die im rekonstruierten Sprachsignal zwecks besserer Verständlichkeit wiedergegeben werden sollten. Im stationären Hintergrundrauschen seien solche Sprünge jedoch Artefakte, die durch die abschnittsweise Codierung „hereinkommen“ würden, also unnatürliche Fluktuationen. Nach Auffassung der Klägerinnen seien diese Zusammenhänge dem Fachmann bekannt; er werde daher angesichts des Hinweises in der Spezifikation NK27, unnatürliche Fluktuationen zu vermeiden, naheliegenderweise zusätzlich die Stimmhaftigkeit des Signals bei der Verstärkungsglättung heranziehen, um zu vermeiden, dass durch die Glättung auch (natürliche) Sprünge in den stimmhaften Signalabschnitten "weggebügelt" würden. Zur Stützung Ihrer Auffassung verweisen die Klägerinnen auf das Gutachten AD12, und zwar dort auf Seite 4/5, den Brückenabsatz und Seite 17, vorletzter Absatz.
Diesem Vortrag der Klägerinnen kann sich der Senat aus den folgenden Gründen nicht anschließen: Zum einen ist für den Senat nicht offenbar, dass die genannten Fundstellen im Gutachten AD12, Seite 17 und Seite 4/5 das allgemeine Fachwissen des Fachmanns beschreiben. Ausweislich der Einführung in das Gutachten, Seite 2, vorletzter Absatz betrifft vielmehr der Teil B des Gutachtens das allgemeine Fachwissen. In diesem Teil B ab Seite 30 des Gutachtens sind keine Ausführungen in Bezug auf Stimmhaftigkeit oder unnatürliche Fluktuationen des Signals enthalten. Die von den Klägerinnen in Bezug genommene Fundstelle im Brückenabsatz auf Seite 4/5 betrifft ausweislich der Kapitelüberschrift auf Seite 3 die wesentlichen Elemente der Streitpatentschrift. Die zweite von den Klägerinnen in Bezug genommene Fundstelle auf Seite 17, vorletzter Absatz, betrifft ausweislich der Kapitelüberschrift auf Seite 11 den Stand der Technik nach der Schrift EP 1 073 039 A2, welche bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen wird.
Die Klägerinnen haben nicht nachgewiesen, dass der Fachmann auf Grund seines allgemeinen Fachwissens den Begriff der „unnatürlichen Fluktuation“ mit der Stimmhaftigkeit eines Sprachsignals in Verbindung bringt. Der Begriff der unnatürlichen Fluktuation wird vielmehr in der Spezifikation NK27 ausschließlich in Verbindung mit einer Glättung verwendet, die auf einem Maß für die Stationarität des Kurzzeitspektrums in der q-Domäne basiert (vgl. NK27, Seite 38, letzter Absatz). An keiner Stelle der Spezifikation NK27 werden unnatürliche Fluktuationen in Verbindung mit Langzeitprädiktionsparametern oder gar der Stimmhaftigkeit des Signals gebracht.
Wenn der Senat unterstellt, dass die vorstehend in Bezug genommenen Fundstellen im Teil A) des Gutachtens AD12 zum allgemeinen Fachwissen des Fachmanns gehören, dann muss dies auch für die Ausführungen im Gutachten AD12, Seite 25, zweiter und dritter Absatz gelten:
„In stimmhaftem Sprachabschnitten (im Gegensatz zu Hintergrundrauschen) sind Fluktuationen nicht unnatürlich, sondern gehören - im Gegenteil - zum Sprachsignal.
So können stimmhafte Abschnitte z. B. kurze eingebettete stimmlose Intervalle enthalten. Die resultierenden Fluktuationen des innovativen Gainfaktors sollten nicht durch Glättung beseitigt werden.“
Falls der innovative Verstärkungsfaktor also weder in rein stimmhaften Sprachsegmenten noch in Sprachsegmenten zu glätten wäre, welche sowohl stimmhafte als auch stimmlose Abschnitte enthalten, dann zieht der Fachmann gerade nicht in Betracht, den innovativen Verstärkungsfaktors anhand des Grades der Stimmhaftigkeit zu glätten (vgl. Merkmal 1.5 des Anspruchs 1).
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ergibt sich für den Fachmann somit vor dem Hintergrund der Offenbarung der Spezifikation NK27 und seines wie angegeben unterstellten allgemeinen Fachwissens nicht in naheliegender Weise.
bb) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht gegenüber einem Stand der Technik bei Zusammenschau der Spezifikation NK27 und dem Artikel
Tasaki, H., Takahashi, S., Post noise smoother to improve low bit rate speech-coding performance, Proceedings der Konferenz IEEE Workshop on Speech Coding, Model, Coders and Error Criteria, Porvoo, Finnland, 20.-23. June 1999, Seiten 159-161. (= NK28, S7, Tasaki)
– im Folgenden als Aufsatz NK28 bezeichnet – auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Es mag zutreffen, dass dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents das Problem von Hintergrundgeräuschen bei der Codierung/Dekodierung von Sprache nach den herkömmlichen Verfahren bekannt war. Die Klägerinnen verweisen hierzu z. B. auf die Machbarkeitsstudie
ETSI TC SMG Tdoc SMG P-99-429. Agenda items: 6.10. Meeting #29. 23rd – 25th June, 1999, Miami. Adaptive Multi-Rate Wideband (AMR-WB) Feasibility study report Version 1.0.0. (= AD14),
welche ein Leistungsziel eines künftigen Breitband-Codierungsverfahren im Falle von Hintergrundrauschen formuliere (vgl. AD14, Seite 9, Tabelle III. Zeile „Office noise (SNR=20 dB)“). Der Fachmann dürfte daher bestrebt gewesen sein, Maßnahmen zur verbesserten Filterung dieser Geräusche zu entwickeln. Im Zuge dessen wäre er ausgehend von der Spezifikation NK27 unter Berücksichtigung dieser Problemstellung auf den Aufsatz NK28 gestoßen. Soweit folgt der Senat noch dem Vortrag der Klägerinnen.
Entgegen der Auffassung der Klägerinnen wird in dem Aufsatz NK28 für das Problem des Hintergrundrauschens jedoch keineswegs vorgeschlagen, den innovativen Verstärkungsfaktor unter Berücksichtigung eines Maßes der Stimmhaftigkeit zu glätten. Vielmehr offenbart der Aufsatz NK28 - seine Vorveröffentlichung unterstellt - dem Fachmann ein Verfahren, bei dem decodierte Sprache (performed on the decoded speech) durch Glättung des Hintergrundrauschens (post noise smoother) nachbearbeitet wird (post-process, vgl. NK28, Abstract). Die Nachbearbeitung des Sprachsignals erfolgt, indem drei mit unterschiedlichen Verstärkungsfaktoren (g0, gs, gA) skalierte Signalversionen addiert werden, um das endgültige Sprachsignal zu erzeugen (vgl. NK28, Abstract und Seite 159, rechte Spalte, zweiter Absatz), nämlich:
- das nachgefilterte decodierte Sprachsignal (a conventionally post-filtered decoded speech (S0)),
- eine spektral geglättete Variante des decodierten Sprachsignals (a spectrally smoothed decoded speech (Ss))
- und eine automatisch generierte Nachahmung eines Rauschsignals (an average background noise (SA)).
Das Verfahren aus dem Aufsatz NK28 nimmt keinen Zugriff auf die während der Decodierung des Signals vorliegenden innovativen Codevektoren oder deren Verstärkung (Merkmal 1.2) und glättet diese auch nicht (vgl. Merkmale 1.1, 1.6). Weiterhin ist an keiner Stelle des Aufsatzes NK28 von einem Grad der Stimmhaftigkeit die Rede (Merkmal 1.3). In dem Aufsatz NK28 wird vielmehr vorgeschlagen, das Verhältnis R des Hintergrundrauschens zu den übrigen Signalanteilen im decodierten Signal (ratio of the background noise in a decoded signal) mittels einer Histogrammanalyse abzuschätzen. Hierzu wird das decodierte Sprachsignal invers gefiltert unter Verwendung der mittleren linearen Prädiktionsfilterkoeffizienten des Hintergrundrauschabschnitts (the average LSP of the background noise section). Nach dieser inversen Filterung liegt ein Restsignal vor, dessen Leistungswert P berechnet wird. Der Leistungswert Pn des Hintergrundrauschabschnitts wird bestimmt und nach der folgenden Vorschrift das Verhältnis R der Hintergrundrauschleistung zu der Leistung der übrigen Signalanteile im decodierten Signal berechnet (vgl. NK28, Seite 159, rechte Spalte, Abschnitt 2.2):
R = log(P n )-log(P)
Falls dieses Verhältnis R in einem Rahmen des Sprachsignals klein ist (low), enthält das Signal wenig Hintergrundrauschen, es ist sprachähnlich (Speech-like), falls das Verhältnis R groß ist (high), ist das Signal rauschähnlich (Noise-like, vgl. NK28, Seite 160, Fig. 2). In Abhängigkeit dieses Rauschverhältnisses R werden die Verstärkungsfaktoren g0, gs, gA für die eingangs erwähnten Signalversionen S0, Ss, SA gewählt (vgl. NK28, Fig. 2). Das Verhältnis R des Hintergrundrauschens zu den übrigen Signalanteilen im decodierten Signal versteht der Fachmann nicht als Grad der Stimmhaftigkeit (Merkmal 1.3). Denn sprachähnliche Signale (Speech-like) können stimmhafte und stimmlose Segmente enthalten und bei einem stimmlosen Sprachsegment kann nicht gefolgert werden, dass es sich dabei nicht um Sprache (Speech-like), sondern vielmehr um Hintergrundrauschen (Noise-like) handelt.
Daher kann auch eine Zusammenschau der technischen Spezifikation NK27 mit dem Aufsatz NK28 das Restmerkmal 1.5 nicht nahe legen, den innovativen Verstärkungsfaktor unter Anwendung einer Operation in Bezug auf den Grad der Stimmhaftigkeit zu glätten.
Über die von der Beklagten bestrittene Vorveröffentlichung des Aufsatzes NK28 musste daher nicht entschieden werden.
cc) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht gegenüber einem Stand der Technik bei Zusammenschau der Spezifikation NK27 und der Offenlegungsschrift
WO 99/45532 A1 (= KB4, AD8, Hagen)
– im Folgenden als Schrift KB4 bezeichnet – auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Wie vorstehend ausgeführt, mag der Fachmann ausgehend vom Stand der Technik nach der Technischen Spezifikation NK27 das Problem von Hintergrundgeräuschen bei der Codierung/Dekodierung von Sprache nach den herkömmlichen Verfahren erkannt haben. Der Fachmann dürfte daher bestrebt gewesen sein, Maßnahmen zur verbesserten Filterung dieser Geräusche zu entwickeln. Im Zuge dessen wäre er ausgehend von der Spezifikation NK27 unter Berücksichtigung dieser Problemstellung auch auf die Schrift KB4 gestoßen.
Dieser Schrift KB4 konnte der Fachmann zwar entnehmen, dass dann, wenn der Verstärkungsfaktor (AG) des Tonhöhencodebuchs groß ist, das Sprachsegment wahrscheinlich stimmhaft ist, und dann, wenn der Verstärkungsfaktor (AG) des Tonhöhencodebuchs klein ist, das Signal entweder stimmlos ist oder Hintergrundrauschen enthält (vgl. KB4, Seite 4, Zeile 31 bis Seite 5, Zeile 3). Entgegen der Auffassung der Klägerinnen führt dieser Hinweis in der Schrift KB4 den Fachmann jedoch nicht in naheliegender Weise zu der Anweisung im Merkmal 1.5 des Anspruchs 1, den innovativen Verstärkungsfaktor unter Anwendung einer nichtlinearen Operation in Bezug auf den Grad der Stimmhaftigkeit und den Stabilitätsgrad zu glätten.
Denn die Schrift KB4 präsentiert dem Fachmann im selben Absatz auf Seite 5, Zeilen 2 bis 8 die Lehre, auf welche Weise das Signal zu behandeln ist. Demnach ist das Signal in Abhängigkeit des Werts des Verstärkungsfaktors zu modifizieren, in stimmlosen Segmenten oder bei Hintergrundrauschen stärker als in stimmhaften Segmenten. Die Modifikation besteht darin, den skalierten innovativen Codevektor (coded signal estimate from the fixed codebook after application of the gain FG) abhängig von dem Wert des adaptiven (AG) und innovativen Verstärkungsfaktors (FG) zu verändern (vgl. KB4, Seite 4, Zeilen 24 bis 26 und Fig. 2).
Ausschnitt aus Fig. 2 der KB4
Eine solche Veränderung des skalierten innovativen Codevektors stellt keine Glättung des innovativen Verstärkungsfaktors (vgl. Merkmal 1.6), d. h. keine Vergleichmäßigung oder Mittelung der innovativen Verstärkungsfaktoren aus unterschiedlichen Sprachsegmenten, sondern eine sog. Anti-Sparseness-Filterung des skalierten innovativen Codevektors dar (vgl. KB4, Seite 9, Zeilen 30 bis 32). Das Gutachten AD12 beschreibt diese Filterung auf Seite 24, erster Absatz, wie folgt:
„Unter "sparseness" (dt. etwa: "Seltenheit") versteht AD8 die Eigenschaft von Vektoren des innovativen Codebuchs, nur wenige von Null verschiedene Komponenten aufzuweisen, wie beispielhaft in Fig. 10 von AD8 gezeigt ist. Durch Anwendung eines ,,Allpass-Filterung" (anti-sparseness filter) wird die Energie der wenigen von Null verschiedenen Komponenten über den Vektor verteilt, wie in Fig. 11 von AD8 veranschaulicht ist.“
Auch die Spezifikation NK27 sieht auf Seite 39, Abschnitt 5) einen Schritt „Anti-Sparseness processing“ vor. Die Zusammenschau der Spezifikation NK27 mit der Schrift KB4 legt es dem Fachmann daher allenfalls nahe, dieses „Anti-Sparseness processing“ gemäß der Lehre aus der Schrift KB4 durchzuführen.
Der Hinweis der Klägerinnen, dass in der Spezifikation NK27 bereits ausgeführt sei, dass die Glättung des innovativen Verstärkungsfaktors unnatürliche Fluktuationen in der Energie des decodierten Sprachsignals vermeiden soll, hilft hier nicht weiter, denn in der gesamten Schrift KB4 ist von einem Vermeiden unnatürlicher Fluktuationen in der Energie des decodierten Sprachsignals nicht die Rede.
Daher kann es auch eine Zusammenschau der technischen Spezifikation NK27 mit der Schrift KB4 nicht nahe legen, den innovativen Verstärkungsfaktor unter Anwendung einer nichtlinearen Operation in Bezug auf den Grad der Stimmhaftigkeit und den Stabilitätsgrad zu glätten (Merkmal 1.5).
3.2.3 Weiterer von den Klägerinnen genannter Stand der Technik
Auch gegenüber dem übrigen von den Klägerinnen genannten, weiter abliegenden Stand der Technik, insbesondere dem nach den Schriften
WO 00/11650 A1 (= KB1) und
JP 10-97296 A (= NK30, AD9)
ist der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hauptantrag neu.
Soweit der entgegengehaltene Stand der Technik bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Betracht zu ziehen wäre, legt auch eine Zusammenschau des gesamten von den Klägerinnen genannten Standes der Technik den Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hauptantrag nicht nahe.
3.2.3.1 Stand der Technik nach der Offenlegungsschrift WO 00/11650 A1 (= KB1)
Die im Prioritätsintervall des Streitpatents als WO 00/11650 A1 veröffentlichte ältere Anmeldung – im Folgenden kurz als Schrift KB1 bezeichnet – betrifft die Kompensierung von Störgeräuschen bei der Codierung und Decodierung von Sprachsignalen (vgl. KB1, Seite 3b, erster Absatz). Insbesondere vermittelt sie dem Fachmann die Lehre, Verstärkungsfaktoren unter Einsatz eines Faktors β sub (n) zu glätten (vgl. Seite 43, zweiter Absatz, letzter Satz und Anspruch 6). Der Wert dieses Glättungsfaktor βsub(n) wird dadurch bestimmt,
- ob ein Unterrahmen Sprache oder Hintergrundrauschen enthält (VAD, Voice Activity Detection), und insbesondere
- ob stationäre rauschähnliche Segmente von Sprach-, Musik-, tonähnlichen Signalen, nicht-stationärem Rauschen usw. vorliegen (vgl. Seite 43, erster Absatz).
Denn nach der Schrift KB1 geht in den Glättungsfaktor βsub(n) u. a. der Parameter speech_mode ein (vgl. Seite 48, Abschnitt „2. Classify subframe and calculate smoothing:“), der durch die Sprachaktivität VAD bestimmt wird (vgl. Seite 46, Abschnitt „3. Classify subframe:“). Ein VAD-Algorithmus wird verwendet, um den aktuellen Sprachrahmen entweder als aktiven oder inaktiven Sprachrahmen (Hintergrundrauschen oder Stille) zu klassifizieren (vgl. Seite 24, zweiter Absatz). Damit erfolgt beim Verfahren aus der Schrift KB1 die Glättung der Verstärkungsfaktoren des innovativen Codevektors zwar mittels eines Faktors, welcher repräsentativ für den Stabilitätsgrad des Signals ist, denn eine Aussage darüber, ob ein Signal stationär ist oder nicht, betrifft den Stabilitätsgrad eines Signals.
An keiner Stelle ist der Schrift KB1 jedoch entnehmbar, den Verstärkungsfaktor des innovativen Codevektors unter Anwendung einer Operation in Bezug auf den Grad der Stimmhaftigkeit des Breitbandsignals zu glätten (vgl. Teilmerkmal 1.5).
Zwar wird bei dem Verfahren aus der Schrift KB1 die Stimmhaftigkeit des Signals bestimmt (voiced/unvoiced decision, VUV, vgl. Seite 25, vorletzter Absatz und Seite 24, vorletzter Absatz). Diese geht dort jedoch lediglich in die Berechnung der Tonhöhennacheilung (vgl. Seite 30, erster Absatz) und in die Entscheidung ein, ob der Verstärkungsfaktor normalisiert werden soll (vgl. Seite 62, erster und zweiter Absatz). Die Normalisierung eines Verstärkungsfaktors in Bezug auf die Energie des Signals im aktuellen Unterrahmen ist für den Fachmann etwas anderes als eine Glättung der Verstärkungsfaktoren aus unterschiedlichen Zeitabschnitten. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen kommt es insbesondere nicht auf den Faktor β(n) an, der die Linienspektralfrequenzen (LSF, Line Spectral Frequencies) glättet, denn Linienspektralfrequenzen stellen keine Codevektoren dar, sondern sind andere Darstellungen der linearen Prädiktionskoeffizienten (vgl. Seite 71, vorletzter Absatz).
Die Entgegenhaltung KB1 offenbart im Übrigen auch kein Breitbandsignal (vgl. Teilmerkmal 1.1.1 des Anspruchs 1), denn auf Grund der Abtastrate von 8 kHz (vgl. Seite 17, zweiter Absatz) enthält das abgetastete Signal nur Frequenzkomponenten bis maximal 4 kHz. Auch eine Filterung mit einem Hochpass mit einer unteren Grenzfrequenz von 80 Hz (vgl. Seite 22, zweiter Absatz) kann das Frequenzband des abgetasteten Signals nicht erweitern.
3.2.3.2 Stand der Technik nach der Offenlegungsschrift JP 10-97296 A (= NK30, AD9)
Die Offenlegungsschrift JP 10-97296 A beschreibt ausweislich ihres Familienmitglieds US 6 047 253 A (= NK31, AD9a) – im Folgenden kurz als Schrift NK31 bezeichnet – einen Decodierer für Sprachsignale (vgl. NK31, Bezeichnung), wobei im Decodierer Anteile von Rauschen zu stimmhaften und stimmlosen Anteilen des Sprachsignals addiert werden, um das rekonstruierte Sprachsignal natürlicher klingen zu lassen (vgl. Spalte 1, Zeilen 43 bis 53).
Die Fig. 4 zeigt ein Ausführungsbeispiel des Decodierers, welcher separate Verarbeitungszüge für stimmhafte (V) und stimmlose (UV) Sprachabschnitte aufweist (vgl. z. B. Spalte 9, Zeilen 37 bis 41), insbesondere umfassend zwei separate Nachbearbeitungsfilter (238v, 238u) zur Nachbearbeitung decodierter stimmhafte bzw. stimmlose Abschnitte, welche anschließend in einem Addierer (239) zusammengefügt werden.
Die Fig. 17 zeigt eine Glättungsoperation, die in den beiden Nachbearbeitungsfiltern (238v, 238u) ausgeführt wird (vgl. Spalte 10, Zeilen 40 bis 44, Spalte 10, Zeile 65 bis Spalte 11, Zeile 5). Entgegen den Anweisungen im Merkmal 1.5 des Streitpatents erfolgt die Glättung des Verstärkungsfaktors aufeinanderfolgender Zeitabschnitte nach der Lehre aus der Schrift NK31 weder unter Anwendung einer nichtlinearen Operation noch in Bezug auf den Grad der Stimmhaftigkeit oder den Stabilitätsgrad des Sprachsignals. Insbesondere geht auch der sog. Pitch-Intensitäts-Informations-Parameter (105) (vgl. Fig. 3 und 6 aus NK31/S6a) nicht in die Glättungsoperation in den beiden Nachbearbeitungsfiltern (238u, 238v) ein. Denn gemäß Fig. 17 erfolgt die Glättung vielmehr als einfache lineare Interpolation zwischen den Verstärkungsfaktoren aufeinanderfolgender Zeitabschnitte, ohne dass dort Faktoren wie Stimmhaftigkeitsgrad oder Stabilitätsgrad des Signals eingehen.
Im Übrigen betrifft die Glättungsoperation aus der Schrift NK31 entgegen dem Merkmal 1.6 des Anspruchs 1 des Streitpatents keinen Verstärkungsfaktor zum Verstärken eines innovativen Codevektors, sondern einen Verstärkungsfaktor G zum Verstärken des decodierten Sprachsignals (vgl. Fig. 15, BZ 443 und Spalte 18, Zeilen 1 bis 12).
3.3 Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend auch für den nebengeordneten Anspruch 21 gemäß Hauptantrag, dessen Gegenstand eine Vorrichtung zur Durchführung eines Verfahrens mit den im Anspruch 1 genannten Merkmalen ist.
Die übrigen nebengeordneten Ansprüche 41, 58, 75, und 92 betreffen ein zellulares Kommunikationssystem, ein Netzwerkelement, ein bidirektionales drahtloses Kommunikationssystem sowie ein Mobiltelefon, welche jeweils die im Anspruch 21 beanspruchte Vorrichtung umfassen. Auch hinsichtlich dieser Ansprüche gelten die vorstehenden Ausführungen sinngemäß.
Weiterhin begegnen auch den Unteransprüchen nach Hauptantrag, welche vorteilhafte Ausgestaltungen des Erfindungsgegenstands betreffen, keine Bedenken. Gegenteiliges haben auch die Klägerinnen nicht geltend gemacht.
4. Sonstige Nichtigkeitsgründe
Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass der Schutzfähigkeit des Streitpatents in der Fassung nach Hauptantrag sonstige Nichtigkeitsgründe entgegenstehen könnten. Solche haben die Klägerinnen auch nicht geltend gemacht.
III.
Da somit der mit Hauptantrag vorgelegte Anspruchssatz zulässig ist und ihm keine Nichtigkeitsgründe entgegenstehen, war das Streitpatent mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland nur insoweit teilweise für nichtig zu erklären, als es über die Fassung laut Hauptantrag hinausgeht, und die weitergehenden Klagen abzuweisen.
B.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 92 Abs. 1 und § 100 Abs. 1 ZPO. Der Senat hat dabei berücksichtigt, inwieweit sich die beschränkte Verteidigung des Streitpatents auf den wirtschaftlichen Wert des Streitpatents auswirkt. Da sich dieser nach Einschätzung des Senats infolge der Beschränkung in etwa halbiert haben dürfte, ist es gerechtfertigt, die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben, wobei die Klägerinnen hinsichtlich der Gerichtskosten nach § 100 Abs. 1 ZPO nach Kopfteilen haften.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.