Entscheidungsdatum: 24.02.2011
Der Antrag des Generalbundesanwalts, die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Juni 2010 nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, wird zurückgewiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach Verkündung des Urteils erklärte der Angeklagte im Anschluss an die Rechtsmittelbelehrung zweimal ausdrücklich: „Ich verzichte auf Einlegung eines Rechtsmittels.“ Gleichwohl hat er unter Widerruf des Verzichts rechtzeitig Revision eingelegt, die sein – neuer – Verteidiger innerhalb eines Monats nach Urteilszustellung begründet hat. Neben der allgemeinen Sachrüge hat der Verteidiger zur Zulässigkeit der Revision ausgeführt, der Angeklagte sei zu dem Rechtsmittelverzicht durch eine unrichtige, irreführende Auskunft eines Arztes des Krankenhauses des Maßregelvollzugs veranlasst worden, der ihm für den Fall der Rechtskraft der Unterbringung eine begrenzte Dauer des Maßregelvollzugs von allenfalls drei Monaten versprochen habe.
Der Senat hält die Revision für zulässig, weil der vom Angeklagten im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht – ausnahmsweise – unwirksam ist. Bei der Annahme einer solchen Ausnahme orientiert sich der Senat an der Wertung der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Fällen dieser Art (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 1999 – 4 StR 693/98, NStZ 1999, 258; vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99, NStZ 1999, 526; vom 19. September 2000 – 4 StR 337/00; vom 5. Januar 2005 – 4 StR 520/04, NStZ-RR 2005, 149; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 302 Rn. 8a mN).
Die außergewöhnlichen Fallbesonderheiten ergeben sich hier aus einer Gesamtschau folgender Umstände: Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war wegen eines schweren psychischen Defekts bei der Begehung von durch Willenserklärungen geprägten Straftaten – Betrug, versuchter Betrug, versuchte Nötigung – aufgehoben; sein Handeln bewegte sich krankheitsbedingt in einem irrationalen Bezugsrahmen (UA S. 84). Er ist für die Allgemeinheit wegen krankheitsbedingt fehlender sozialer Kompetenz gefährlich (UA S. 88). Die Hauptverhandlung störte er wiederholt und nachhaltig durch sachfremde, teils überbordend ausführliche Anträge und Erklärungen. Eine Beratung durch seinen Pflichtverteidiger, dessen Ablösung er wiederholt vergeblich begehrte, lehnte er ab. Die Rechtsmittelverzichtserklärung gab er so ohne jede rechtskundige Beratung unmittelbar nach Verkündung der seine persönliche Freiheit besonders nachhaltig beeinträchtigenden Verurteilung zur Maßregel des § 63 StGB ab. Der zur Zulässigkeit der Revision vorgetragene Motivirrtum legt nahe, dass er die Bedeutung dieser Verurteilung krankheitsbedingt – möglicherweise auch beeinflusst durch ein so verursachtes Missverständnis ärztlicher Erklärungen – nicht durchschaut hat.
Unter diesen Voraussetzungen hätte der Strafkammervorsitzende Zweifeln an der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht nur, wie geschehen, durch wiederholte Nachfrage begegnen dürfen. Er hätte die Verzichtserklärung wegen hierauf bezogener unüberwindbarer Zweifel an einer Verhandlungsfähigkeit des psychisch kranken, anwaltlich faktisch nicht beratenen Angeklagten gar nicht entgegennehmen dürfen. Diese bei der gegebenen besonderen Sachlage auch für das Revisionsgericht nicht überwindbaren Zweifel führen zur Annahme der Unwirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichts.
Da der Generalbundesanwalt – auch hilfsweise – keinen Sachantrag gestellt hat, sieht der Senat hier Anlass für eine Zwischenentscheidung über die Zulässigkeit der Revision zur sachgerechten Förderung des Rechtsmittelverfahrens, welches nunmehr mit einem Sachantrag des Generalbundesanwalts zur rechtzeitig begründeten Revision des Angeklagten weiter zu fördern sein wird.
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