Entscheidungsdatum: 09.01.2013
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Dezember 2011 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, bleibt ohne Erfolg.
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben. Der näheren Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, dass es an einer ordnungsgemäßen Feststellung des Abschlusses des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO fehle und die Protokolle von überwachten Telefongesprächen, auf die das Landgericht seine Überzeugung von Art und Umfang der Tatbeteiligung des Angeklagten stützt, sowie zwei Gutachten über Menge und Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel in den Fällen 3 und 7 der Urteilsgründe somit nicht wirksam in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien (§ 261 StPO).
1. Der Verfahrensrüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Im Hauptverhandlungstermin vom 9. November 2011 ordnete die Vorsitzende der Strafkammer hinsichtlich zweier Gutachten über Menge und Wirkstoffgehalt sichergestellter Betäubungsmittel sowie mehrerer weiterer Urkunden das Selbstleseverfahren an. Ferner ordnete die Vorsitzende im Termin vom 16. November 2011 bezüglich einer Vielzahl von Wortprotokollen überwachter Telefongespräche ebenfalls das Selbstleseverfahren an. Der Verteidiger des Beschwerdeführers erhob hiergegen Widerspruch und beantragte die Entscheidung des Gerichts. Nachdem die Vorsitzende die Selbstleseanordnung im Termin vom 22. November 2011 um ein weiteres Telefonprotokoll ergänzt hatte, begründete der Verteidiger seinen Widerspruch im Termin vom 28. November 2011. Am selben Hauptverhandlungstag wurden die Selbstleseanordnungen nebst Ergänzungen durch Gerichtsbeschluss bestätigt. Im Fortsetzungstermin vom 7. Dezember 2011 wurde Folgendes protokolliert: „Es wurde festgestellt, dass die Schöffen und die Berufsrichter Kenntnis genommen haben von den jeweiligen Selbstleseanordnungen und die Verteidiger, Angeklagten und Vertreterin der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme hatten.“ Weitere Feststellungen zur Kenntnisnahme der in den Anordnungen bezeichneten Urkunden erfolgten ebenso wenig wie eine Verlesung der Urkunden. Deren Inhalt wurde lediglich hinsichtlich einiger Telefonate durch Abspielen und Übersetzung durch den Sprachsachverständigen, im Übrigen aber nicht auf andere Weise in die Hauptverhandlung eingeführt.
2. Eine Verletzung des § 261 StPO i.V.m. § 249 Abs. 2 Satz 1 und 3 StPO liegt nicht vor. Durch die protokollierte Feststellung der Vorsitzenden sind die von den Selbstleseanordnungen umfassten Urkunden wirksam zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20, und vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10, BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 6).
Allerdings ist ausweislich des Wortlauts des Hauptverhandlungsprotokolls lediglich hinsichtlich der Selbstleseanordnungen, nicht aber des Wortlauts der von diesen betroffenen Urkunden die Kenntnisnahme der Richter und die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch die übrigen Verfahrensbeteiligten festgestellt worden. Eine von der Staatsanwaltschaft beantragte Protokollberichtigung ist nicht zustande gekommen, weil die Protokollführerin sich nicht an die Vorgänge in der Hauptverhandlung erinnern konnte. Damit bleibt hinsichtlich des Wortlauts der Feststellung der Vorsitzenden der Protokollinhalt für die revisionsgerichtliche Prüfung maßgeblich. Neben der – hier gescheiterten – ordnungsgemäßen Protokollberichtigung kommt eine freibeweisliche – und damit an geringere Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren geknüpfte – Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, vom 22. Dezember 2010 – 2 StR 386/10, StV 2011, 267 mwN, und vom 30. September 2009 – 2 StR 280/09, StV 2010, 225). Ein Fall krasser Widersprüchlichkeit oder offenkundiger Fehler- oder Lückenhaftigkeit des Protokolls, der insoweit unter Umständen eine Ausnahme zuließe (vgl. BGH aaO), liegt schon deshalb nicht vor, weil die inhaltliche Fehlerhaftigkeit der protokollierten Äußerung nicht nur auf einen Protokollierungsfehler, sondern ebenso auf ein Formulierungsversehen der Vorsitzenden zurückzuführen sein kann. Im letzteren Fall würde das Protokoll indes die Vorgänge in der Hauptverhandlung zutreffend wiedergeben. Ein freibeweislicher Rückgriff auf die der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft beigefügten dienstlichen Erklärungen der Vorsitzenden und der Berichterstatterin scheidet in diesem Zusammenhang aus den vorgenannten Gründen aus.
Wenngleich somit davon auszugehen ist, dass die gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in das Protokoll aufgenommene Feststellung der Vorsitzenden ihrem Wortlaut nach nicht die Einhaltung der in § 249 Abs. 2 StPO geregelten Verfahrensweise wiedergibt, liegt dennoch im Ergebnis ein ordnungsgemäßer Abschluss des Selbstleseverfahrens vor. Als gerichtliche Prozesserklärung ist die protokollierte Feststellung der Vorsitzenden nach allgemeinen Regeln der Auslegung zugänglich, bei der es nicht allein auf den Wortlaut, sondern vor allem auf den erkennbar gemeinten Sinn ankommt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10, BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 6, und vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20; Urteil vom 11. Oktober 2012 – 1 StR 213/10 Rn. 23 ff.; Pfeiffer/Hannich in KK, StPO, 6. Aufl., Einleitung Rn. 125, 128; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., § 22 B II 1; vgl. ferner zur Auslegung des Protokollinhalts: Jahn, ZWH 2012, 386).
Danach war aber für alle Verfahrensbeteiligten klar ersichtlich, dass die Vorsitzende durch ihre in das Protokoll aufgenommene Erklärung die Kenntnisnahme der Berufsrichter und der Schöffen von den in den Selbstleseanordnungen bezeichneten Urkunden und die entsprechende Gelegenheit zur Kenntnisnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten feststellen wollte. Dies folgt zum einen aus der prozessualen Sinnlosigkeit der Protokollierung einer Kenntnisnahme von Selbstleseanordnungen, die an früheren Hauptverhandlungstagen erfolgt und ihrerseits in das Protokoll aufgenommen worden waren, womit den diesbezüglichen gesetzlichen Anforderungen des § 249 Abs. 2 StPO Genüge getan ist und woraus sich im Übrigen bereits die Kenntnisnahme der Verfahrensbeteiligten von diesen Anordnungen ergibt. Zum anderen lässt der bisherige Verfahrensablauf – die Anordnung des Selbstleseverfahrens bezüglich zahlreicher Urkunden am 9. und 16. November 2011 mit Ergänzung am 22. November 2011 sowie die zeitgleiche Verteilung der diese Urkunden enthaltenden Ordner – erkennen, dass die Vorsitzende im Termin vom 7. Dezember 2011 beabsichtigte, die von den Selbstleseanordnungen erfassten Urkunden durch die Feststellung der Kenntnisnahme der Richter von den einzuführenden Urkunden bzw. der Gelegenheit zur Kenntnisnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen und somit das Selbstleseverfahren abzuschließen. Zudem liegt angesichts des Wortlauts der protokollierten Äußerung „dass die Schöffen und die Berufsrichter Kenntnis genommen haben von den jeweiligen Selbstleseanordnungen und die Verteidiger, Angeklagten und Vertreterin der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme hatten“ ein Formulierungsversehen in Form einer Auslassung auf der Hand. Gemeint waren – für alle Verfahrensbeteiligten offensichtlich erkennbar – nicht die Selbstleseanordnungen, sondern die in den Selbstleseanordnungen bezeichneten Urkunden. Im Ergebnis fehlt es somit trotz des Formulierungs- oder Protokollierungsversehens nicht an einer ordnungsgemäßen Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO.
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Dölp Bellay