Entscheidungsdatum: 06.07.2010
Die nach extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte Präimplantationsdiagnostik mittels Blastozystenbiopsie und anschließender Untersuchung der entnommenen pluripotenten Trophoblastzellen auf schwere genetische Schäden hin begründet keine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG. Deren Durchführung ist keine nach § 2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung menschlicher Embryonen .
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 14. Mai 2009 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der missbräuchlichen Anwendung von Fortpflanzungstechniken nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG und der missbräuchlichen Verwendung menschlicher Embryonen nach § 2 Abs. 1 ESchG in drei Fällen freigesprochen. In ihrer hiergegen gerichteten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
1. Der Angeklagte ist als Frauenarzt mit dem Schwerpunkt Kinderwunschbehandlung in Berlin tätig. Im Jahr 2005 wandte sich das Ehepaar T. und F. mit dem Wunsch an ihn, eine extrakorporale Befruchtung durchzuführen. Bei einem der Ehepartner lag eine Translokation (Vertauschung einzelner Erbinformationen auf den Chromosomenarmen) vor. Daraus resultierte die hohe Wahrscheinlichkeit einer genetisch auffälligen Schwangerschaft mit einer Trisomie 13 oder 14. In beiden Fällen ist die Leibesfrucht nicht lebensfähig. Regelmäßig endet die Schwangerschaft mit einem Abort oder einer Totgeburt. Andernfalls verstirbt das Neugeborene wenige Tage nach der Geburt.
Im Hinblick auf die Gefahrenlage und dem Wunsch seiner Patienten entsprechend wollte der Angeklagte eine Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: PID) durchführen. Am Tag 5 nach der Befruchtung sollte eine Blastozystenbiopsie (sachgleich: „Trophectodermbiopsie“) erfolgen, bei der dem Blastozysten (Embryo im Stadium einige Tage nach der Befruchtung) pluripotente, d.h. nicht zu einem lebensfähigen Organismus entwicklungsfähige Trophoblastzellen entnommen werden. Die entnommenen Zellen sollten anschließend mittels Fluoreszenz in situ Hybridisierung (FISH) auf Chromosomenaberrationen hin untersucht werden. Die Untersuchung dient dem Zweck, nur Embryonen ohne genetische Anomalien übertragen zu können.
Der Angeklagte hatte Bedenken, ob er sich mit der Durchführung der PID strafbar machen würde. Er holte deshalb bei „einer auf das Embryonenschutzgesetz und seine Auslegung spezialisierten Hochschullehrerin“ (UA S. 8) ein Rechtsgutachten ein. In ihrem Gutachten vom 25. August 2005 gelangte diese zu dem Ergebnis, dass jedenfalls die §§ 2 und 6 ESchG nicht verletzt seien, wies den Angeklagten darauf hin, dass die Strafrechtslage noch nicht geklärt sei, und riet ihm zur Selbstanzeige.
Das Schreiben verstand der rechtsunkundige Angeklagte so, dass ein Strafbarkeitsrisiko nicht bestehe. Er führte das vorgenannte Verfahren im Dezember 2005 an drei Embryonen (Blastozysten) durch. Die Untersuchung ergab eine Trisomie 16 an der Zelle eines der Embryonen sowie eine Monosomie 13 an der Zelle eines anderen Embryos. Ein Embryo wies keinen Befund auf. Nach Unterrichtung über die Ergebnisse entschied die Patientin, dass nur der Embryo mit negativem Befund in ihre Gebärmutter überführt werden dürfe. In Übereinstimmung damit verfuhr der Angeklagte.
2. Entsprechend dem Rat der Hochschullehrerin erstattete der Angeklagte am 2. Januar 2006 bei der Staatsanwaltschaft Berlin Selbstanzeige. Er wollte eine Bestätigung dafür erhalten, dass die Auffassung von der Straflosigkeit seines Tuns zutreffe. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren am 22. Januar 2006 wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums des Angeklagten nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Ferner wies sie darauf hin, dass sie nicht abschließend zu beurteilen vermöge, ob die Durchführung der PID Strafvorschriften des Embryonenschutzgesetzes verletze. Es sei nicht ihre Aufgabe, abstrakte Aussagen zur Rechtmäßigkeit bestimmter Verhaltensweisen zu treffen.
Nach Erhalt der Einstellungsnachricht bat der Angeklagte die Hochschullehrerin und seinen Verteidiger um Erläuterung, wie die Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu verstehen seien und welche Bedeutung ihnen für weitere Behandlungen zukomme. Mit Schreiben vom 7. bzw. 9. März 2006 teilten ihm der Verteidiger und die Hochschullehrerin unabhängig voneinander mit, dass er nach dem Schreiben der Staatsanwaltschaft einschlägige Behandlungen ohne strafrechtliches Risiko weiter vornehmen könne.
3. Im April 2006 nahm der Angeklagte an extrakorporal befruchteten Eizellen seiner Patientin S. die PID nach dem unter Ziff. 1 näher bezeichneten Verfahren vor. Grund war eine bei ihr festgestellte Translokation der Chromosomen 11/22, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Fehlgeburten bzw. der Geburt von Kindern mit genetisch bedingten Erkrankungen mit sich brachte. Die Patientin hatte bereits eine wegen einer chromosomalen Translokation schwerstbehinderte Tochter. Eine weitere Schwangerschaft war wegen einer nicht regelrechten Chromosomenanzahl bei dem Embryo abgebrochen worden. Die Untersuchung ergab eine partielle Trisomie 22 an einem von zwei untersuchten Embryonen. Eingesetzt wurde auf Weisung der Patientin nur der Embryo mit negativem Befund.
4. Im Mai 2006 führte der Angeklagte die PID an extrakorporal befruchteten Eizellen seiner Patientin W. durch. Grund war eine bei ihr festgestellte Translokation der Chromosomen 2/22. Die Patientin hatte bereits zwei Fehlgeburten erlitten und einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Bei der Untersuchung wurde festgestellt, dass einer von drei untersuchten Embryonen eine Monosomie 22 aufwies, wohingegen die beiden anderen genetisch unauffällig waren. Auf deren Weisung wurden der Patientin nur die beiden unauffälligen Embryonen eingesetzt. Die Patientin wurde schwanger und gebar ein gesundes Mädchen.
5. Bei allen Behandlungen wurden die Embryonen mit positivem Befund nicht weiter kultiviert. Sie starben deshalb ab.
II.
Das Landgericht hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Eine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG sei nicht gegeben, weil der Angeklagte in der Absicht gehandelt habe, seinen Patientinnen zu einer Schwangerschaft zu verhelfen. Die Untersuchung der Embryonen stelle kein durch § 2 Abs. 1 ESchG verbotenes „Verwenden“ dar. Das Absterbenlassen der Embryonen sei als Unterlassen zu werten. Insoweit fehle es dem Angeklagten an einer Garantenstellung. Ferner sei die Entsprechensklausel nach § 13 Abs. 1 StGB nicht erfüllt. Gehe man hingegen von einer Strafbarkeit aus, so habe der Angeklagte im Hinblick auf die ihm erteilten Auskünfte bei der zweiten und dritten Untersuchung in unvermeidbarem Verbotsirrtum (§ 17 Satz 1 StGB) gehandelt. Demgegenüber wäre ein bei der ersten Behandlung gleichfalls gegebener Verbotsirrtum vermeidbar gewesen (§ 17 Satz 2 StGB).
III.
Das Landgericht ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei zu der Ansicht gelangt, dass sich der Angeklagte nicht strafbar gemacht hat.
1. § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ist nicht verletzt. Eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift setzt in der hier einschlägigen Variante voraus, dass das Unternehmen der künstlichen Befruchtung nicht auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft gerichtet ist. Sie tritt dementsprechend nicht ein, wenn der Handelnde eine Schwangerschaft bewirken will. So lagen die Fälle hier. Das Tun des Angeklagten war jeweils von dem Willen getragen, bei den von ihm behandelten Patientinnen – von denen die entnommenen Eizellen auch stammten – eine Schwangerschaft herbeizuführen.
a) § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG verlangt nach allgemeiner Meinung (vgl. Günther in Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2008 vor § 1 Rdn. 38; § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rdn. 18 m.w.N.) Absicht im Sinne eines auf den Erfolg ausgerichteten dolus directus ersten Grades (vgl. BGHSt 9, 142, 146; 18, 151, 155 f.; 29, 68, 72 f.). Kommt es dem Täter auf den Erfolgseintritt an, so stehen der Annahme des Absichtserfordernisses weitere Beweggründe bzw. Nebenzwecke nicht entgegen (BGHSt 18, 151, 156). Gleichfalls ist die Absicht – wie der Vorsatz allgemein – nicht „bedingungsfeindlich“; anerkanntermaßen kann der Täter sein Handeln vom Eintritt objektiver Bedingungen abhängig machen, ohne dass an der Endgültigkeit seines Tatentschlusses zu zweifeln wäre (BGHSt 12, 306, 309 f.).
b) Der Angeklagte war im Zeitpunkt der Befruchtungen entschlossen, die jeweils befruchtete einzelne Eizelle auf seine Patientinnen zu übertragen und auf diese Weise eine Schwangerschaft herbeizuführen. Allerdings wollte er die Schwangerschaft nur mit einem gesunden Embryo bewirken. Für den – nicht erhofften, aber befürchteten – Fall eines positiven Befundes wollte er von der Übertragung absehen.
Letzteres stellt seinen bereits endgültig gefassten Handlungsentschluss in Richtung auf Herbeiführung der Schwangerschaft jedoch nicht in Frage. Nicht etwa war die genetische Untersuchung der eigentliche (und mit § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG unverträgliche) Zweck der Befruchtung (a.M. Beckmann ZfL 2009, 125, 127 ff.). Der negative Befund war nach der gebotenen natürlichen Betrachtungsweise vielmehr objektive Bedingung der Übertragung (vgl. Günther aaO § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rdn. 21; Schneider MedR 2000, 360, 362; Schroth NStZ 2009, 233, 234). Für den Fall ihres Eintritts sollte der Embryo nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten übertragen werden, wobei er nach Lage der Dinge auch mit dem Einverständnis der Patientinnen rechnen durfte. Dass die Patientinnen vor der Übertragung des Embryos in die Gebärmutter nochmals aufgeklärt und um ihr Einverständnis gebeten wurden, entspricht üblichem ärztlichem Vorgehen. Wie bei anderen mehraktigen Behandlungen auch muss es der Patient in der Hand haben, deren Fortführung jederzeit autonom zu beenden. Der Behandlungsablauf liefert deshalb kein Zeugnis dafür, dass die Entscheidung über die Herbeiführung der Schwangerschaft erst nach Abschluss der Untersuchung fallen sollte (a.M. Beckmann aaO S. 128 f.).
c) Der Wille des Angeklagten, die PID durchzuführen, und der Wille, den einzelnen Embryo bei positivem Befund nicht zu übertragen, können nicht als alternative, zur Annahme der Strafbarkeit führende Absichten im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG angesehen werden.
aa) Der Angeklagte wollte die Untersuchung allerdings „unbedingt“ durchführen und hat sie in diesem Sinne „beabsichtigt“. Das ändert jedoch nichts daran, dass der gesamte, die Patientinnen außerordentlich belastende Vorgang der extrakorporalen Befruchtung von dem Willen getragen war, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Die Untersuchung war in diesem Gesamtvorgang unselbständiges Zwischenziel. Sie wäre nicht durchgeführt worden, wenn nicht die Absicht der Herbeiführung der Schwangerschaft bestanden hätte.
(1) In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, dass – ungeachtet seines Haupt- bzw. Endziels – vom Täter verfolgte Zwischenziele eine tatbestandsrelevante Absicht ausmachen können, sofern es ihm auf deren Erreichung ankommt (BGHSt 18, 246, 252 f.; 35, 325, 326 f.; Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 15 Rdn. 66 m.w.N.). Indessen führt nicht jedes Zwischenziel zwingend zur Tatbestandserfüllung. Ob der Absicht eine den Deliktstypus prägende Bedeutung beizumessen ist, muss vielmehr durch Auslegung des jeweiligen Tatbestandes ermittelt werden (Cramer/Sternberg-Lieben aaO). Für das „Alternativabsichtsdelikt“ (Schroeder in Festschrift für Lenckner 1998 S. 333, 341) des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG liegt die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung in besonderem Maße auf der Hand. Es wäre widersinnig, wenn beispielsweise die stets mitverfolgte Gewinnerzielungsabsicht des Arztes (vgl. Renzikowski NJW 2001, 2753, 2755) oder auch sein Wille, in der Fachwelt und bei seinen Patienten Anerkennung zu finden, als „Alternativabsichten“ eine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG begründen würden. Ein Gebot, dass die extrakorporale Befruchtung ausschließlich der Herbeiführung der Schwangerschaft dienen muss, ist durch die Vorschrift dementsprechend auch nicht normiert (vgl. Duttge GA 2002, 241, 247 f.).
(2) Dem Sinn des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ist zu entnehmen, dass die Herbeiführung der Schwangerschaft – wie vorliegend gegeben – jedenfalls „handlungsleitend“ bzw. „bewusstseinsdominant“ (Schroth aaO S. 235) sein muss. Entgegen im Schrifttum vertretenen Meinungen (Schneider aaO; Schroth aaO) ist der Senat dabei der Auffassung, dass Alternativabsichten denkbar sind, die trotz einer „Bewusstseinsdominanz“ der Primärabsicht zur Strafbarkeit führen. Die Absicht, pluripotente Zellen auf schwerwiegende genetische Belastungen hin zu untersuchen, rechnet jedoch nicht hierher. Ein gesetzliches Verdikt gegen eine solche Untersuchung lässt sich mit hinreichender Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG; vgl. auch Duttge aaO S. 248) weder aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG in seiner Einbettung in den Gesamtzusammenhang des Embryonenschutzgesetzes noch aus einem sich in der Entstehungsgeschichte des Embryonenschutzgesetzes abbildenden diesbezüglichen Willen des Gesetzgebers herleiten.
(a) Der historische Gesetzgeber wollte durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG die extrakorporale Befruchtung nur unter der Voraussetzung erlauben, dass sie auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft abzielt; hiermit sollten zugleich vor allem die verbrauchende Embryonenforschung und gespaltene Mutterschaften unter Strafdrohung verboten werden (Regierungsentwurf BTDrucks. 11/5460 S. 6, 8; siehe auch Kabinettsbericht BTDrucks. 11/1856 S. 7 f.). Aussagen des Regierungsentwurfs (aaO S. 12) und Äußerungen außerhalb des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens zur Diagnostik betrafen entwicklungsfähige („totipotente“) Zellen und waren von der Befürchtung getragen, dass jene Zellen geschädigt werden könnten, und zwar mit der Folge von Auswirkungen auf das Leben eines nach der Manipulation ausgetragenen und geborenen Kindes (vgl. Kabinettsbericht aaO S. 8; Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Fortpflanzungsmedizin“ 1988 S. 55 f.). Eine PID an totipotenten Zellen ist dementsprechend in § 2 Abs. 1 und § 6 Abs. 1 ESchG, jeweils i.V.m. § 8 Abs. 1 ESchG, eindeutig untersagt und mit Strafe bedroht (vgl. Günther aaO § 2 Rdn. 16).
Hingegen hatte der Gesetzgeber ersichtlich nicht eine PID an nurmehr pluripotenten Zellen vor Augen, durch die der Embryo den Feststellungen des Landgerichts entsprechend überdies nicht unmittelbar geschädigt, im Übrigen nach derzeitigem medizinisch-naturwissenschaftlichem Erkenntnisstand, soweit ersichtlich, durch den Untersuchungsablauf auch mittelbar nicht nachhaltig gefährdet wird. Dies ist bei der hier durchgeführten Blastozystenbiopsie der Fall. Dem aus 40 bis 80 Zellen bestehenden (Frommel/Taupitz/Ochsner/Geisthövel Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 2010, 96, 99) Blastozysten werden nicht mehr totipotente (vgl. Beier ZaeFQ 2002, 351, 354 ff.) Trophoblastzellen entnommen, die in einem späteren Stadium das (kindliche) Nährgewebe (Placenta) bilden, weswegen der Embryo(-blast) selbst nicht betroffen ist (vgl. zur Unschädlichkeit der Blastozystenbiopsie für die Embryonalentwicklung Neubauer, Medizinisch-naturwissenschaftliche, juristische und ethische Aspekte der Präimplantationsdiagnostik 2009 S. 10 f. m.w.N.).
Derartige Diagnosemethoden standen bei Erlass des Embryonenschutzgesetzes nicht zu Gebote. Die PID wurde seinerzeit erst im Ausland entwickelt (Kaiser in Günther/Taupitz/Kaiser, ESchG 2008 Einf Rdn. A 197; Steinke/Rahner in Steinke/Rahner/Middel/Schräer, Präimplantationsdiagnostik 2009 S. 29; Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens 2006 S. 42 f.; siehe auch Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem 2002 S. 128; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik 2001 S. 58 f.). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich – obgleich im Gesetzgebungsverfahren angesprochen (vgl. die schriftliche Stellungnahme der Bundesärztekammer für die Expertenanhörung in der 73. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 9. März 1990, Protokoll Nr. 73 S. 179 f.) – eine ausdrückliche Ablehnung oder auch Billigung der so erfolgenden PID weder im Wortlaut des Gesetzes noch in den Gesetzesmaterialien niederschlägt.
(b) Eine absolute Unverträglichkeit der auf eine solche Diagnostik ausgerichteten Absicht im Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang des Embryonenschutzgesetzes und den von ihm verfolgten Schutzzwecken nicht. Namentlich gewährleistet das Embryonenschutzgesetz – wie etwa die Regelungen in § 2 Abs. 2, § 6 Abs. 2 und § 7 Abs. 2 ESchG zeigen – keinen umfassenden Lebensschutz des Embryos (Middel aaO S. 44; Schroth aaO S. 238). Ausschlaggebend kommt die in § 3 Satz 2 ESchG getroffene Wertentscheidung des Gesetzgebers hinzu. Mit der dort normierten Ausnahme vom Verbot der Geschlechtswahl durch Verwendung ausgewählter Samenzellen hat der Gesetzgeber der aus dem Risiko einer geschlechtsgebundenen Erbkrankheit des Kindes resultierenden Konfliktlage der Eltern Rechnung getragen. Es könne „einem Ehepaar nicht zugemutet werden“, „sehenden Auges das Risiko einzugehen“, „ein krankes Kind zu erhalten, wenn künftig die Möglichkeit bestehen sollte, durch Spermienselektion ein gesundes Kind zur Welt zu bringen“; darüber hinaus „bestehe die Gefahr, dass dann, wenn ein zu erzeugendes Kind mit einer zum Tode führenden geschlechtsgebundenen erblichen Krankheit belastet sei, eine Abtreibung vorgenommen werde“ (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages in BTDrucks. 11/8057 S. 15).
Eine gleichgelagerte Konfliktsituation ist in Fällen wie den verfahrensgegenständlichen gegeben. Mit dem Ausschluss der PID würde – wie dort – sehenden Auges das hohe Risiko eingegangen, dass ein nicht lebensfähiges oder schwerkrankes Kind geboren wird. Gleichfalls wäre zu besorgen, dass im weiteren Verlauf nach einer – hier ärztlicherseits strikt angezeigten (Kaiser aaO Einf Rdn. A 133) und mit denselben Diagnosemethoden durchgeführten (vgl. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe 2007 S. 216, 297 f.; Kaiser aaO Einf Rdn. A 59, 140, 198, 201) – invasiven genetischen Pränataldiagnostik (s. auch § 15 Abs. 1 Satz 1 GenDG) im Rahmen des „Beratungsmodells“ nach § 218a Abs. 1 StGB innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis, im Rahmen der Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB unter Umständen durch Fetozid (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 218a Rdn. 22) gar bis zum Einsetzen der Eröffnungswehen (vgl. BGHSt 32, 194, 196 f.) ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird. Der Senat betont, dass die in § 218a Abs. 2 StGB normierte „medizinisch-soziale“ Indikation entgegen im Schrifttum gebrauchten Bezeichnungen (vgl. Kaiser aaO Einf Rdn. A 198; Schroth aaO S. 236) keine gesetzliche Legitimierung einer „Schwangerschaft auf Probe“ bedeutet. Für die Indikation maßgebend ist nicht eine Behinderung des Kindes, sondern die dort beschriebene schwerwiegende Beeinträchtigung der Schwangeren (vgl. BGHZ 151, 133, 139 f.; BGH NJW 2003, 3411, 3412; 2006, 1660, 1661; zur ärztlichen Aufklärungspflicht vgl. BGHZ 89, 95, 100 ff.). Allerdings kann die Indikation gerade in den inmitten stehenden Konstellationen unzweifelhaft relevant werden. Der Senat kann in Anbetracht der in § 3 Satz 2 ESchG getroffenen Wertentscheidung und der hierzu gegebenen Begründung nicht annehmen, dass der Gesetzgeber – der die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ohne weitere Voraussetzungen erlaubt hat – die zur Verminderung der genannten gravierenden Risiken geeignete PID an pluripotenten Zellen verboten hätte, wenn sie seinerzeit schon zur Verfügung gestanden hätte.
Aus dem zuletzt genannten Umstand ergibt sich zugleich, dass der Regelung in § 3 Satz 2 ESchG kein Ausschlusscharakter hinsichtlich der Untersuchung und Übertragung von Embryonen beizumessen ist (a.M. Middel aaO S. 41 f. m.w.N.). Mit Rücksicht darauf, dass die hier zu beurteilende Untersuchungsmethode an pluripotenten Zellen im Gesetzgebungsverfahren allenfalls eine ganz untergeordnete Rolle spielte, ist eine bewusste legislatorische Entscheidung in Bezug auf Sachverhalte außerhalb des unmittelbaren Regelungsbereichs von § 3 Satz 2 ESchG nicht erfolgt (ebenso Duttge aaO S. 246).
(c) Ein gesetzliches Verbot der PID kann schließlich nicht aus dem Umstand gefolgert werden, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 des im Wesentlichen am 1. Februar 2010 in Kraft getretenen Gendiagnostikgesetzes vom 31. Juli 2009 (BGBl I S. 2529) vorgeburtliche genetische Untersuchungen (nur) während der Schwangerschaft (vgl. § 2 Abs. 1 GenDG) ausdrücklich erlaubt. Denn der Gesetzgeber hat die Problematik ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausgenommen (BTDrucks. 16/10532 S. 20). Hätte er mit dem Erlass des Gendiagnostikgesetzes die PID strikt ausschließen wollen, so wäre angesichts der ihm bekannten, langjährigen Auseinandersetzungen um die Zulässigkeit der Untersuchung de lege lata eine ausdrückliche Regelung im Gendiagnostikgesetz oder auch im Embryonenschutzgesetz zu erwarten gewesen, zumindest aber dahin zielende eindeutige Aussagen in den Gesetzesmaterialien. Das ist nicht geschehen.
(3) Die durch den Senat vorgenommene Interpretation führt nicht zur Zulässigkeit einer „unbegrenzten Selektion anhand genetischer Merkmale“ (vgl. Middel aaO S. 45 m.w.N.). Entscheidungsgegenstand ist der Wille zur Durchführung der Untersuchung auf schwerwiegende genetische Schäden zur Verminderung der genannten gewichtigen Gefahren im Rahmen der PID. Diese Zwecksetzung stellt keine die Strafbarkeit begründende Alternativabsicht dar. Beispielsweise für die Absicht der Selektion von Embryonen zum Zwecke der Geschlechtswahl gilt dies aber nicht. Die Geschlechtswahl wird vom Embryonenschutzgesetz – ausgenommen die in § 3 Satz 2 ESchG bezeichneten Fälle – eindeutig verurteilt (§ 3 Satz 1 ESchG). Dies muss auf die Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG durchschlagen. Entsprechendes gälte etwa für eine gezielte Zeugung von Embryonen mit bestimmten Immunitätsmustern (vgl. Kaiser aaO Einf Rdn. A 199; Steinke/Rahner aaO S. 30). Ob angesichts der Wertung des – nicht auf die PID anwendbaren (siehe oben) – § 15 Abs. 2 GenDG das Gleiche für die Absicht gälte, genetische Eigenschaften des Embryos für eine Erkrankung festzustellen, die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbricht, hat der Senat nicht zu entscheiden. Dies lässt unberührt, dass eine eindeutige gesetzliche Regelung der Materie wünschenswert wäre.
bb) Der Wille des Angeklagten, den einzelnen Embryo bei positivem Befund nicht zu übertragen, stellt schon keine eigenständige Absicht im Rechtssinn dar. Der Angeklagte hat die Eizellen seiner Patientinnen befruchtet, weil es ihm darauf ankam, eine Schwangerschaft mit einem gesunden Embryo herbeizuführen. Darin und nicht in einer Nichtübertragung des Embryos bei positivem Befund lag sein handlungsleitender Wille. Der Eintritt eines positiven Befundes und die daraus resultierende Nichtübertragung des Embryos sind als außerhalb der Absicht liegende, nicht erwünschte Nebenfolgen zu qualifizieren (vgl. Böckenförde-Wunderlich aaO S. 122).
2. Die Zellentnahmen zum Zweck der Untersuchung der entnommenen Zellen und das „Stehenlassen“ der Embryonen mit positivem Befund verletzen nicht das Verbot des § 2 Abs. 1 ESchG, einen extrakorporal erzeugten menschlichen Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden.
a) Die durch den Angeklagten vollführten Zellentnahmen stellten kein „Verwenden“ der Embryonen dar. Verwendet wurden – zum Zweck der Untersuchung und vom Embryonenschutzgesetz erlaubt – die entnommenen pluripotenten Trophoblastzellen.
aa) Das Merkmal des Verwendens ist in § 2 Abs. 1 ESchG – wie im Rahmen anderer Strafvorschriften auch (vgl. zu § 250 StGB BGH NStZ 2004, 556; 2008, 687; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2010 – 3 StR 556/09) – als zweckgerichteter Gebrauch zu verstehen. Das Verwendungsverbot kann dabei nicht als umfassender Auffangtatbestand gedeutet werden, der die in der Vorschrift weiter aufgeführten Tatvarianten beinhaltet (a.M. Günther aaO § 2 Rdn. 30); insbesondere der Erwerb ist offensichtlich kein Unterfall des Verwendens. Davon bleibt unberührt, dass das Merkmal seinem Wortlaut und Wortsinn nach eine breite Palette von Handlungen beim Umgang mit dem Embryo erfasst. Um mit dem Übermaßverbot staatlichen Strafens unvereinbare und vom Gesetzgeber gewiss nicht beabsichtigte Strafbarkeiten zu vermeiden, bedarf es der Eingrenzung (insoweit zustimmend auch Günther aaO § 2 Rdn. 32). Diese kann nicht allein mit dem in der Vorschrift weiter vorausgesetzten Alternativzweck der Nichterhaltung des Embryos geleistet werden (a.M. Günther aaO). Im Hinblick darauf, dass „Verwenden“ keine Einwirkung auf die Substanz des betreffenden Embryos verlangt, wäre beispielsweise die Beobachtung (sog. „Embryoscoring“) und damit „Verwendung“ des Embryos zu Lern- oder Lehrzwecken tatbestandsmäßig und strafbar; das Gleiche gälte für die Betrachtung des Embryos unter dem Lichtmikroskop (hierzu Griesinger/Felberbaum/Hepp/Diedrich in: Reproduktionsmedizin im internationalen Vergleich 2008 S. 22, 28 ff.), um morphologisch schwer geschädigte Embryonen zu identifizieren (a.M. Günther aaO § 2 Rdn. 31). Die Eingrenzung hat anhand des mit der Vorschrift verfolgten Zwecks und der sonstigen durch das Embryonenschutzgesetz getroffenen Entscheidungen zu erfolgen.
(1) Mit dem Verbot des § 2 Abs. 1 ESchG wollte der Gesetzgeber ausweislich der amtlichen Überschrift der missbräuchlichen Verwendung von Embryonen entgegenwirken. Die Vorschrift soll gewährleisten, dass „menschliches Leben grundsätzlich nicht zum Objekt fremdnütziger Zwecke gemacht werden darf“ (Regierungsentwurf aaO S. 10). Vorrangig gedacht war an die Embryonenforschung (vgl. Kabinettsbericht aaO S. 8 unter lit. c; siehe auch den Vorschlag des Bundesrates unter Nr. 4a und die Stellungnahme der Bundesregierung hierzu in Regierungsentwurf aaO S. 14, 18). Ferner sollte die Abspaltung totipotenter Zellen zum Zweck der Diagnostik untersagt werden, „weil sich eine Schädigung des nach der Abspaltung verbleibenden und zum Embryo-Transfer bestimmten Embryos bisher nicht mit Sicherheit ausschließen“ lasse (vgl. Kabinettsbericht aaO S. 8 unter lit. d; ähnlich Regierungsentwurf aaO S. 11 f.).
(2) Keiner der genannten Hauptzwecke des Gesetzgebers trifft auf die hier zu beurteilende Blastozystenbiopsie zu. Weder wird dadurch der Embryo zu Zwecken außerhalb des Gesamtvorgangs der extrakorporalen Befruchtung instrumentalisiert, noch wird er, wie ausgeführt, durch den Eingriff maßgeblich gefährdet; die Möglichkeit der Biopsie pluripotenter Zellen ohne Beeinträchtigung des Embryos hatte der Gesetzgeber vielmehr nicht im Blick (dazu schon oben III. 1 c) aa) (2) (a)). Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass er sie andernfalls verboten hätte, sind nicht vorhanden. Die Einzelbegründung des Regierungsentwurfs zu § 6 ESchG geht im Gegenteil dahin, dass wegen der mit der Abspaltung totipotenter Zellen verbundenen Gefahren „derzeit“ kein Anlass bestehe, Ausnahmen vom strafrechtlichen Verbot des § 6 ESchG „etwa mit Blick auf die Präimplantationsdiagnostik“ in Erwägung zu ziehen (Regierungsentwurf aaO S. 12).
bb) Die Frage muss demnach unter Einbeziehung der mit dem Embryonenschutzgesetz insgesamt verfolgten Ziele beantwortet werden. Wie schon bei der Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG zieht der Senat maßgebend die in § 3 Satz 2 ESchG getroffene Wertentscheidung des Gesetzgebers heran. Danach kann nicht angenommen werden, dass die den Embryo selbst unberührt lassende Entnahme von Trophoblastzellen zur Vermeidung einer Konfliktlage für die Eltern bis hin zu einem real drohenden Schwangerschaftsabbruch vom Embryonenschutzgesetz als „missbräuchliche Verwendung“ angesehen wird. Davon ausgehend ist das weite Merkmal des Verwendens um die hier zu beurteilende Blastozystenbiopsie zu reduzieren.
b) Der Angeklagte hat die Embryonen mit positivem Befund nicht weiter kultiviert, weswegen sie in der Folge abstarben und verworfen wurden. Gegen § 2 Abs. 1 ESchG hat er dadurch nicht verstoßen.
Das Verhalten des Angeklagten ist als Unterlassen erhaltender Maßnahmen zu werten. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt darin, dass die Zellen nicht weiter versorgt wurden; ihre abschließende „aktive“ Vernichtung, die im Übrigen nicht als „Verwenden“ im Sinne des § 2 Abs. 1 ESchG angesehen werden könnte, vermag daran nichts zu ändern (Schroth aaO S. 236 f. und in Roxin/Schroth [Hrsg.], Handbuch des Medizinstrafrechts 4. Aufl. S. 530, 553). Dahingestellt bleiben kann dabei – was jeweils äußerst zweifelhaft erscheint –, ob dem Arzt eine Garantenstellung gegenüber dem Embryo obliegt (dazu Böcher, Präimplantationsdiagnostik und Embryonenschutz 2004 S. 106 ff.) und ob die Entsprechensklausel nach § 13 Abs. 1 StGB erfüllt ist (vgl. Günther aaO § 2 Rdn. 36). Jedenfalls war es dem Angeklagten weder möglich noch zumutbar, die Embryonen gegen den Willen seiner Patientinnen in deren Gebärmutter zu übertragen und sich dadurch unter anderem nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 ESchG und § 223 StGB strafbar zu machen (vgl. Günther aaO; Böcher aaO S. 110 f.; Böckenförde-Wunderlich aaO S. 138; Middel aaO S. 49; Duttge aaO S. 247). Gleichfalls lässt sich aus dem Embryonenschutzgesetz keine Pflicht zur unbegrenzten Kryokonservierung ableiten (Günther aaO § 2 Rdn. 37; Schroeder aaO S. 337).
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