Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 30.08.2011


BGH 30.08.2011 - 5 StR 235/11

Sicherungsverwahrung: Anforderungen an den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung; Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts bei der Sicherungsverwahrung nach dem Jugendgerichtsgesetz


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
30.08.2011
Aktenzeichen:
5 StR 235/11
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Neuruppin, 7. März 2011, Az: 539 Js 23753/01 - 21 NSV (1/10), Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 7. März 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

1

Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft Neuruppin auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung durch Urteil als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

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1. Der zur damaligen Tatzeit 20 Jahre und fünf Monate alte Verurteilte wurde vom Landgericht mit Urteil vom 15. März 2002 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Mordes zu der Einheitsjugendstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt.

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Im Oktober 2010 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, gemäß § 7 Abs. 2 JGG nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Ihre Einschätzung, dass der Verurteilte nach einer Entlassung aufgrund seiner erheblichen Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Verbrechen gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, begründete sie mit dem Charakter der Anlasstat, Erkenntnissen aus einem Prognosegutachten sowie dem Vollzugsverhalten des Verurteilten: Gemeinsam mit einem ebenfalls heranwachsenden Mittäter hatte der Verurteilte in der Tatnacht im August 2001 den 61-jährigen alkoholkranken und stark alkoholisierten Geschädigten insgesamt dreimal in dessen Wohnung aufgesucht und jedes Mal derart heftig misshandelt, dass das Opfer aufgrund der zahlreichen schwersten Verletzungen verstarb. Das Anlassurteil bejahte das Mordmerkmal der Mordlust. Anhaltspunkte für eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Verurteilten sah es angesichts der Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens durch den damals gehörten Sachverständigen nicht. Der Antrag der Staatsanwaltschaft stützte sich ferner auf ein forensisch-psychiatrisches Prognosegutachten aus dem Jahr 2007. Dieses gelangte – laut Antragsschrift – zu dem Ergebnis, dass nunmehr eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliege und bei dem Verurteilten, verglichen mit anderen Menschen, die einen Mord begangen hätten, ein hohes bis sehr hohes Rückfallrisiko bestehe. Darüber hinaus listet die Antragsschrift eine Reihe von disziplinarischen Verstößen während des Strafvollzugs auf, mehrheitlich Beleidigungen und Bedrohungen von Vollzugsbediensteten, in drei Fällen aber auch Tätlichkeiten gegen Mitgefangene.

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2. Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft als unzulässig verworfen, weil die Antragsschrift nicht die Voraussetzungen erfülle, die an ihren Inhalt zu stellen seien. Schon aus ihr müssten Tatsachen erkennbar sein, die es zumindest nahe legten, dass es sich bei dem Verurteilten wegen seiner außergewöhnlichen Gefährlichkeit um einen der wenigen Ausnahmefälle handele, in denen die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 JGG in Betracht komme: Der Verurteilte sei bis zur Anlasstat lediglich geringfügig strafrechtlich in Erscheinung getreten. Es habe sich um eine Gelegenheitstat gehandelt, bei der gruppendynamische Prozesse eine Rolle gespielt hätten. Das Tatmotiv der Mordlust sei nach den Feststellungen des Anlassurteils keine „in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegte Triebfeder“ (UA S. 5). Eine ihr innewohnende „spezifische Mordlust“ ergebe sich auch nicht aus dem von der Staatsanwaltschaft in Bezug genommenen Prognosegutachten des Sachverständigen R.   aus dem Jahr 2007. Die dort festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstörung sowie die prognostizierten erheblichen Risiken der erneuten Begehung einer schweren Gewalttat in kritischen Konstellationen reichten für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht aus. Gleiches gelte für die von der Staatsanwaltschaft angeführten Vorfälle während des Vollzugs. Diese bildeten vielmehr in ihrer Gesamtheit gerade einen Beleg dafür, dass der Verurteilte „selbst in Konfliktsituationen sein Gewaltverhalten so dosieren kann, dass gerade kein Mensch maßgeblich verletzt wird“ (UA S. 7).

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3. Das Landgericht durfte den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht als unzulässig zurückweisen.

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a) Im Ansatz zutreffend geht die Jugendkammer davon aus, dass eine Verwerfung des Antrags durch Prozessurteil auch im Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung möglich ist. Die Zulässigkeit der Durchführung des Verfahrens ist davon abhängig, dass seine Verfahrensvoraussetzungen vorliegen. Diese hat das Gericht – angesichts des Verzichts des Gesetzes auf ein Zwischenverfahren entsprechend §§ 199 ff. StPO (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 – 1 StR 441/05, NStZ 2006, 178) – zu Beginn der Hauptverhandlung zu prüfen.

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b) § 275a StPO macht die Durchführung eines Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig; dieser ist Verfahrensvoraussetzung (Rissing-van Saan/Peglau in LK, 12. Aufl., § 66b Rn. 184; KMR-Voll, 58. EL [August 2010], § 275a, Rn. 25). Die Staatsanwaltschaft kann einen solchen Antrag erst stellen, nachdem sie in einem Vorprüfungsverfahren (§ 275a Abs. 1 StPO) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die formellen Voraussetzungen der Maßregel vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2005 – 3 StR 345/05, BGHR StPO § 275a Abs. 1 Antrag 1 und 2).

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Anforderungen an den Inhalt der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft regelt § 275a StPO nicht. Solche sind indes durch den Bundesgerichtshof entwickelt worden. Danach muss der Antrag jedenfalls eine Begründung enthalten (BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284, 289 ff.). Diese darf sich nicht in der pauschalen Behauptung erschöpfen, die formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung lägen vor. Vielmehr muss sie die Entschließung der Staatsanwaltschaft nachvollziehbar machen und die formellen Voraussetzungen der für gegeben erachteten Anordnungsnorm im Einzelnen darlegen; ferner muss sie die Behauptung enthalten, dass nach vorläufiger Einschätzung der Staatsanwaltschaft die materiellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung im weiteren Verfahren festgestellt werden können (BGH, Beschluss vom 3. November 2005, aaO). Diesen Anforderungen genügt die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft Neuruppin (vgl. oben 1.).

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c) Darüber hinaus ist – angelehnt an eine teilweise in der Literatur vertretene Auffassung (KMR-Voll, aaO, Rn. 23; Zschieschack/Stadthagen/Rau, JR 2006, 8, 9) – zu verlangen, dass die Staatsanwaltschaft die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nur dann beantragen kann, wenn nach Schlüssigkeitsprüfung und vorläufiger Bewertung die begründete Erwartung besteht, dass die Maßregel verhängt werden kann. Diese Vorbewertung unterliegt gleichfalls der tatgerichtlichen Überprüfung. Ohne eine derartige inhaltliche Vorprüfung würde das Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung den Betroffenen insbesondere angesichts der drohenden gravierenden Folgen und der Belastung durch den Gang des Verfahrens übermäßig beschweren. Daneben stellt die zwingend durchzuführende Hauptverhandlung unter Hinzuziehung von zwei Sachverständigen eine Bürde für die ohnehin knappen Ressourcen der Justiz dar. Erhöhte Prognoseanforderungen an die staatsanwaltschaftliche Entschließung und deren tatgerichtliche Überprüfung dienen daher der Vermeidung unbegründeter Anträge.

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d) Auch nach diesem Maßstab durfte indes das Landgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht durch Urteil als unzulässig ablehnen.

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aa) Die Urteilsbegründung (vgl. UA S. 3) lässt besorgen, dass das Landgericht verkannt haben könnte, dass es im vorliegenden Fall nicht der Darlegung neuer Tatsachen („nova“) bedarf. Der Darstellung ihrer Erkennbarkeit und Aussagekraft für die Gefährlichkeit des Verurteilten kommt zwar für Anträge nach § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB aF ausschlaggebende Bedeutung zu (BGH, Beschluss vom 3. November 2005, aaO). Demgegenüber setzt die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 JGG nicht das Vorliegen neuer Tatsachen voraus. Der Antrag der Staatsanwaltschaft muss dementsprechend lediglich nachvollziehbar darlegen, dass vor Ende des Vollzugs Tatsachen erkennbar gewesen sind, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Dies ist hier unter Bezugnahme auf den besonderen Charakter der Anlasstat, Erkenntnisse aus dem Prognosegutachten des Sachverständigen R.   sowie aggressive Verhaltensauffälligkeiten des Verurteilten im Vollzug geschehen.

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bb) Indem es die von der Staatsanwaltschaft zur Begründung ihrer vorläufigen Gefährlichkeitseinschätzung dargelegten Tatsachen als nicht aussagekräftig beurteilt, nimmt das Landgericht Wertungen vor, die es nicht im Rahmen eines Prozessurteils lediglich aufgrund eigener Sachkunde ohne Einholung von Sachverständigengutachten treffen durfte. Die Notwendigkeit sachverständiger Beratung zeigt sich in Folgendem: Auch ohne dass es sich bei dem Tatmotiv der Mordlust um „eine in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegte Triebfeder“ handelt, weist die Anlasstat (Tötung „aus Spaß“ mit sadistischen Zügen und ohne Sicherungstendenzen) Besonderheiten auf, die auf eine besonders gravierende Gefährlichkeit des Verurteilten hindeuten können. Bei seiner Beurteilung der einzelnen Vollzugsvorfälle lässt das Landgericht den gegenüber dem minderen Gewicht eines jeden Einzelvorfalls gegenläufigen Aspekt außer Acht, dass sie sogar unter den kontrollierenden Bedingungen des Strafvollzugs auftraten (vgl. Folkers, NStZ 2006, 426, 429). Seine Auswertung des forensisch-psychiatrischen Prognosegutachtens aus dem Jahr 2007 berücksichtigt nicht, dass dieses vom Prognosemaßstab des § 88 JGG auszugehen und mithin keine Aussage zu den Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 JGG zu treffen hatte.

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4. Die Revision muss danach – ungeachtet aller gebotenen Zurückhaltung bei Anwendung der verfassungswidrigen, nurmehr vorübergehend noch geltenden, ohnehin nur für Ausnahmefälle konzipierten Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG – zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. Der Senat weist auf Folgendes hin:

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Das neu berufene Tatgericht hat seiner Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die im zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, 1931; vgl. auch BVerfG – Kammer –, Beschluss vom 8. Juni 2011 – 2 BvR 2846/09) entwickelten Maßstäbe zugrunde zu legen. Unter deren Berücksichtigung kann eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach der generell für verfassungswidrig erklärten, unter den Aspekten der Rückwirkung und des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes eher noch gegenüber § 66b StGB in stärkerem Maße bedenklichen Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG nachträglich nur noch dann angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Verurteilten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. Dass die zuständige Staatsanwaltschaft diese Voraussetzungen als gegeben ansieht, belegt ihre Antragsschrift derzeit nicht.

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Nach den oben unter 3 b) und c) dargelegten Grundsätzen wird daher zunächst die Staatsanwaltschaft eine ergänzende Prüfung durchzuführen haben, ob sie ihren Antrag auch unter Beachtung der Maßstäbe des genannten Urteils des Bundesverfassungsgerichts aufrechterhält oder ihn – was hier auch nach zunächst erfolgter, nunmehr aber aufgehobener gerichtlicher Ablehnung des ursprünglich gestellten Antrags möglich sein wird – zurücknimmt. Bei Aufrechterhaltung wird sie die Begründung ihres Antrags entsprechend zu ergänzen haben.

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