Entscheidungsdatum: 19.10.2011
Im Rahmen der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (juris: SGB 8) 2005 ist nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich.
Die klagende Stadt begehrt als Jugendhilfeträgerin von dem beklagten Landschaftsverband als Sozialhilfeträger die Erstattung der Kosten, die sie im Zeitraum vom 13. Dezember 2006 bis zum 28. Februar 2009 für die vollstationäre Unterbringung eines geistig behinderten Jungen aufgewendet hat.
Das hilfebedürftige Kind wurde im März 1999 geboren. Bei ihm wurde schon früh ein erheblicher Entwicklungsrückstand und eine unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit festgestellt. Er wuchs anfangs bei seiner geistig behinderten Mutter und seinem stark körperlich behinderten Vater in einem Mutter-Kind-Heim auf. Im Jahr 2006 kam es zu einer tiefgreifenden Beziehungskrise zwischen Vater und Mutter und zu gravierenden Problemen im Eltern-Kind-Verhältnis. Der Junge zeigte erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, in deren Verlauf er sein Haustier, ein Meerschweinchen, tötete. Am 29. November 2006 bezog die allein sorgeberechtigte Mutter eine eigene Wohnung und beließ ihren Sohn in der Obhut des Heims. Sie beantragte durch ihre Betreuerin bei der Klägerin die Bewilligung von Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII, weil weder sie noch der Vater die weitere Erziehung ihres Sohnes gewährleisten könnten. Am 13. Dezember 2006 beantragte sie deswegen auch Eingliederungshilfe für behinderte Menschen bei dem Beklagten.
Die Klägerin übernahm vorläufig die Heimpflegekosten und verlangte von dem beklagten Sozialhilfeträger Kostenerstattung. Damit hatte sie außergerichtlich und erstinstanzlich keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung geändert und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die Heimunterbringung von mehr als zwei Jahren in Höhe von 91 050,97 € nebst Zinsen zu zahlen. Im vorliegenden Fall bestehe zum einen eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers nach den Bestimmungen über die Eingliederungshilfe (§§ 53 ff. SGB XII) und zum anderen eine Pflicht der Jugendhilfeträgerin zur Gewährung von Erziehungshilfe nach §§ 27 ff., 34 SGB VIII. In einem solchen Fall kongruenter Leistungspflichten bestimme § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, dass der Sozialhilfeträger vorrangig leistungspflichtig sei.
Mit seiner Revision vertritt der beklagte Landschaftsverband den Standpunkt, dass die Heimunterbringung nicht durch die geistige Behinderung des Kindes, sondern ausschließlich durch Erziehungsprobleme bedingt gewesen sei. Es bestehe daher schon kein Anspruch auf Eingliederungshilfe für die Heimunterbringung. Jedenfalls liege der Schwerpunkt des Falles eindeutig im Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe, was bei der Auslegung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII berücksichtigt werden müsse.
Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt.
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das angegriffene Urteil steht mit Bundesrecht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat insbesondere § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in der für den Zeitraum vom Dezember 2006 bis Februar 2009 maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 8. September 2005 (BGBl I 2005, 2729 - im Folgenden: § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005) rechtsfehlerfrei angewandt. Der Beklagte ist nach dieser Vorschrift als Träger der Eingliederungshilfe vorrangig zur Leistung verpflichtet.
1. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, grundsätzlich der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist ein Leistungsträger nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet wäre. Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (Urteile vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 5 C 19.08 - BVerwGE 135, 159 Rn. 8 und vom 2. März 2006 - BVerwG 5 C 15.05 - BVerwGE 125, 95 <96>).
Für den streitigen Zeitraum bestand im Hinblick auf die Heimunterbringung des hilfebedürftigen Kindes sowohl eine Leistungspflicht der Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe nach §§ 27, 34 SGB VIII (2.) als auch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII gegen den Beklagten als Träger der Sozialhilfe (3.). Dabei ging die auf Eingliederungshilfe gerichtete Leistungsverpflichtung des Beklagten der Verpflichtung zur Leistung von Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 vor (4.).
2. Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht Einigkeit darüber, dass die jugendhilferechtlichen Voraussetzungen für eine Heimunterbringung vorlagen. Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Nach den tatrichterlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts waren die selbst geistig bzw. körperlich behinderten Eltern jedenfalls seit Dezember 2006 aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeits- und Beziehungsprobleme der Erziehungsaufgabe nicht mehr gewachsen, so dass sie ihren bisherigen Erziehungsbeitrag auch in der unterstützenden Umgebung des Mutter-Kind-Heims nicht weiter leisten konnten. Es war daher aus Gründen des Kindeswohls eine umfassende erzieherische Hilfeleistung geboten. Die von der sorgeberechtigten Mutter beantragte Hilfe in Form der Heimerziehung nach § 34 SGB VIII war nach den von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogenen tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls einzig in Betracht kommende Alternative. Die Heimerziehung erwies sich auch rückblickend als geeignete Hilfeform, weil sich die zuvor von dem Kind gezeigten Verhaltensauffälligkeiten während des Heimaufenthalts zurückgebildet haben.
3. Der Hilfeempfänger hatte im entscheidungserheblichen Zeitraum auch einen Anspruch auf Unterbringung nach den Vorschriften der Eingliederungshilfe. Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Dabei zählen zu den Leistungen der Eingliederungshilfe auch vollstationäre Unterbringungen (vgl. Urteil vom 22. Oktober 2009 a.a.O. Rn. 14).
Im vorliegenden Fall gehört der Hilfeempfänger zum Kreis der grundsätzlich leistungsberechtigten Personen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, weil er aufgrund seiner leichten bis mittelgradigen geistigen Behinderung wesentlich in seiner Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, beeinträchtigt und im Vergleich zu anderen Kindern seiner Altersgruppe im weitaus stärkeren Maße auf fremde Hilfe angewiesen ist. Auch besteht die Aussicht, dass die in § 53 Abs. 3 SGB XII umschriebene Aufgabe der Eingliederungshilfe erreicht werden kann. Insbesondere kann die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft erleichtert werden. Dementsprechend besteht grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und nicht nur ein Ermessensanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII.
Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass sich der Umfang der zu gewährenden Sozialhilfeleistungen nach der allgemeinen Regelung des § 9 Abs. 1 SGB XII stets nach den Besonderheiten des Einzelfalls richtet, insbesondere nach der Art des Bedarfs, den örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person oder des Hauhalts bei der Hilfe zum Lebensunterhalt. Aus dem in dieser Norm verankerten Bedarfsdeckungsprinzip folgt, dass im Sozialhilferecht grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf abzudecken ist (vgl. Urteile vom 22. Oktober 1992 - BVerwG 5 C 11.89 - BVerwGE 91, 114 und vom 30. September 1993 - BVerwG 5 C 49.91 - BVerwGE 94, 211). Auf die Gründe für die Notlage kommt es nicht an. Demzufolge ist für die Frage, ob der Anspruch auf Eingliederungshilfe im Einzelfall ambulante, teilstationäre oder vollstationäre Leistungen umfasst, stets auf den konkreten und individuellen Hilfebedarf abzustellen. Nicht entscheidend ist, ob der Hilfebedarf ausschließlich durch die geistige Behinderung des Leistungsberechtigten bedingt ist oder ob andere Umstände - wie der Ausfall elterlicher Betreuungsleistungen - für den Umfang des Hilfebedarfs mitursächlich sind. Der Bedarfsdeckungsgrundsatz lässt es auch grundsätzlich nicht zu, den konkreten Hilfebedarf in einzelne Komponenten aufzuspalten und die bei isolierter Betrachtung hierfür hypothetisch erforderlichen Hilfeleistungen (im Sinne eines erzieherischen oder behinderungsbedingten Bedarfs) gegenüberzustellen. Vielmehr ist der gesamte konkrete Bedarf zugrunde zu legen (vgl. Beschluss vom 10. August 2007 - BVerwG 5 B 187.06 - juris Rn. 9).
Soweit der Beklagte unter Bezugnahme auf Gutachten und amtliche Stellungnahmen geltend macht, dass für die Heimunterbringung ausschließlich ein erzieherischer Bedarf bestanden habe, widerspricht dies den im Revisionsverfahren nach § 137 Abs. 2 VwGO zugrunde zu legenden tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Hilfeempfänger in dem hier maßgeblichen Zeitraum nicht nur in einzelnen klar abgrenzbaren Lebensbereichen, wie etwa dem schulischen Bereich, einen Hilfebedarf hatte, sondern bei seinem gesamten Lebensvollzug auch im Hinblick auf seine Behinderung einer umfassenden Betreuung und Erziehung bedurfte (UA S. 19). Insofern bestand - wie die Klägerin mit Recht hervorhebt - nicht nur ein Bedarf für eine ambulante Hilfe und eine Betreuung in einer Förderschule für geistige Entwicklung, sondern ein Bedarf für eine Unterbringung über Tag und Nacht. Da nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts keine praktische Alternative zu einer vollstationären Unterbringung in einem Heim für geistig behinderte Kinder bestand, war auch das hinsichtlich der Art und des Umfangs der Leistungserbringung grundsätzlich bestehende Ermessen des Beklagten nach § 17 Abs. 2 SGB XII auf Null reduziert. Damit hatte der Hilfeempfänger auch einen sozialhilferechtlichen Anspruch auf Heimunterbringung.
4. Die Klägerin hat auch als Jugendhilfeträgerin einen Erstattungsanspruch gegen den Beklagten als Sozialhilfeträger, weil ihre Leistungspflicht nachrangig im Sinne von § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist. Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 besteht hier vielmehr ein Vorrang der Leistungen der Eingliederungshilfe vor denen der Jugendhilfe. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt. Die Anwendbarkeit der Vorschrift wird entgegen der Rechtsansicht der Revision auch nicht mit Blick darauf, dass der Schwerpunkt des Falles im erzieherischen Bereich liege, ausgeschlossen.
a) § 10 Abs. 4 SGB VIII 2005 regelt das Rangverhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Nach Satz 2 dieser Bestimmung gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach dem Achten Buch (Jugendhilfe) vor. Die vorrangige Leistungsverpflichtung des beklagten Trägers der Eingliederungshilfe gegenüber der klagenden Trägerin der Jugendhilfe besteht daher nur, soweit es um Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung geht. Das ist hier - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - der Fall.
Weitere Voraussetzung für das Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 ist, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe gegeben und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (Urteile des Senats vom 23. September 1999 - BVerwG 5 C 26.98 - BVerwGE 109, 325 <329> und vom 2. März 2006 a.a.O.). Diese Kongruenz der Leistungspflichten ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die hier umstrittene vollstationäre Heimunterbringung ist sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe als auch Inhalt der Jugendhilfeleistung nach § 34 SGB VIII. Beide Leistungspflichten sind hier nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Die jugendhilferechtliche Heimunterbringung umfasst nach § 39 SGB VIII nicht nur die pädagogische Betreuung, sondern auch den laufenden Unterhalt. Nichts anderes gilt für die vollstationäre Unterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe, die ebenfalls nach § 76 Abs. 2 SGB XII Unterkunft und Verpflegung einschließen (vgl. Urteil vom 2. März 2006 a.a.O.).
Für das Erfordernis der vollständigen oder mindestens teilweisen Deckungsgleichheit der Leistungspflichten kommt es nicht darauf an, ob der junge Mensch für beide Leistungen anspruchsberechtigt ist. Im vorliegenden Fall ist der Hilfeempfänger zwar Inhaber des Eingliederungshilfeanspruchs. Hingegen steht der jugendhilferechtliche Anspruch auf Hilfe zur Erziehung seiner sorgeberechtigten Mutter zu. Dieses Auseinanderfallen der Anspruchsberechtigung ist jedoch schon nach dem Wortlaut des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 unschädlich, weil der Wortlaut der Vorschrift nur auf eine Überschneidung der "Leistungen" abstellt. Eine Übereinstimmung der Anspruchsberechtigung ist auch nach dem Sinn und Zweck der Norm nicht erforderlich. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 dient dazu, den vorrangig in der Pflicht stehenden Leistungsträger zu ermitteln, d.h. den primär leistungspflichtigen Schuldner zu bestimmen. Dieses Konkurrenzproblem auf der Seite der Schuldner bedarf auch dann einer Lösung, wenn für dieselbe zu erbringende Leistung zwei unterschiedliche Gläubiger bestehen. Daher genügt es für die Anwendung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005, wenn die miteinander konkurrierenden inhaltsgleichen Leistungen gegenüber demselben jungen Menschen als Leistungsempfänger zu erbringen sind. Dementsprechend ist im Rahmen der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich.
b) Bestehen kongruente Leistungspflichten, genügt dies für die Anwendung der Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 und löst ihre Rechtsfolge, den Vorrang der Eingliederungshilfe, aus. Die Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine eng auszulegende Ausnahme von dem in § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII 2005 angeordneten Vorrang der Jugendhilfe. Sie ist daher auch nicht in dem Sinne einschränkend auszulegen, dass sie nur zur Anwendung käme, wenn der Schwerpunkt des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels im Bereich der Eingliederungshilfe liegt. Vielmehr stellt die Vorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 schon nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut nur auf das formale Kriterium der Gleichartigkeit der Leistungspflichten ab. Sie vermeidet damit die Rechtsunsicherheiten, die mit der Verwendung des materiellen Kriteriums des Schwerpunkts des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels verbunden wären (vgl. Urteile vom 23. September 1999 a.a.O. <329 f.> und vom 22. Oktober 2009 a.a.O. Rn. 32 f.).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Gerade der vorliegende Fall zeigt, zu welchen Auslegungsproblemen das Abstellen auf einen Schwerpunkt der Leistung führen würde. Zwar war hier der Anlass für die separate Heimunterbringung des Kindes der Wegfall des elterlichen Erziehungsbeitrags, so dass man bei einer kausalen Betrachtungsweise, wie sie der Beklagte fordert, von einem vorwiegend erzieherischen Bedarf ausgehen könnte. Hingegen ist bei einer eher finalen Betrachtungsweise des mit der Heimerziehung verfolgten Leistungsziels kein eindeutiger Schwerpunkt im erzieherischen Bereich auszumachen. Da sich das Verhalten des hilfebedürftigen Kindes normalisiert hat, seine geistige Behinderung aber fortbesteht, muss zwangsläufig die Förderung der geistigen Entwicklung im Vordergrund der weiteren Bemühungen stehen. Es könnten sich somit je nach Betrachtungsweise und Lebenssituation unterschiedliche Schwerpunkte des Bedarfs oder der Leistung ergeben, was bei der Bestimmung des vorrangig zuständigen Leistungsträgers zwangsläufig eine erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen müsste.
Ferner muss die Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass in den meisten Ländern für die Eingliederungshilfe von behinderten Menschen aufgrund der erforderlichen Spezialisierung und wegen der mit dieser Aufgabe verbundenen hohen Kosten regionale oder landesweite Körperschaften (Landschaftsverbände, Bezirke etc.) mit entsprechend starker Finanzausstattung zuständig sind. Hingegen wird die Jugendhilfe von den kommunalen Gebietskörperschaften (Städte und Kreise) getragen, die regelmäßig über keine vergleichbare Spezialisierung im Bereich der Behindertenhilfe und über eine deutlich geringere Finanzausstattung verfügen. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 bewirkt, dass die kommunalen Gebietskörperschaften von den speziellen Anforderungen und von den erheblichen Kosten entlastet werden, die die Eingliederungshilfe für junge geistig und körperlich behinderte Menschen mit sich bringt. Diese gesetzgeberische Entscheidung zur Entlastung der kommunalen Jugendhilfeträger enthält bei Bestehen der in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII 2005 vorausgesetzten Doppelzuständigkeit keine Einschränkung. Vielmehr wird der Entlastungseffekt beeinträchtigt, wenn in einer größeren Zahl von Fällen gleichwohl die vorrangige Verantwortung den Jugendhilfeträgern aufgebürdet wird. Auch dies spricht nach geltendem Recht gegen die geforderte Berücksichtigung des Schwerpunkts der Leistung.