Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 27.04.2017


BVerwG 27.04.2017 - 5 C 12/16

Jugendhilferechtliche Zuständigkeit bei Übertragung sämtlicher Angelegenheiten der elterlichen Sorge nach § 1630 Abs. 3 BGB


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsdatum:
27.04.2017
Aktenzeichen:
5 C 12/16
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2017:270417U5C12.16.0
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 9. Juni 2016, Az: 4 L 140/15, Urteilvorgehend VG Magdeburg, 17. August 2015, Az: 6 A 351/15 MD
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Ein Elternteil ist auch dann nicht personensorgeberechtigt im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII (juris: SGB 8), wenn das Familiengericht sämtliche Angelegenheiten der elterlichen Sorge nach § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB auf eine Pflegeperson übertragen hat.

Tatbestand

1

Die klagende Stadt begehrt als örtliche Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe von dem beklagten Landkreis die Erstattung von Kosten, die sie im Rahmen der Gewährung von Hilfe zur Erziehung aufwandte.

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Der von der Hilfegewährung begünstigte Jugendliche fand bereits kurz nach seiner Geburt im Oktober 1997 Aufnahme in dem Haushalt seiner im Bezirk der Klägerin wohnhaften Großmutter mütterlicherseits. Mit Beschluss vom 2. November 1999 übertrug das Amtsgericht - Familiengericht - auf entsprechende Anträge der alleinerziehenden Kindesmutter und deren Mutter "die elterliche Sorge" für das Kind nach Maßgabe des § 1630 Abs. 3 BGB unbefristet auf die Großmutter als Pflegeperson. Zugleich wies es darauf hin, dass dieser infolge der Übertragung die Rechte und Pflichten eines Pflegers wie auch im Rahmen der Übertragung die Rechtsstellung eines gesetzlichen Vertreters zustünden. Die ursprünglich mit in dem Haushalt ihrer Mutter lebende Kindesmutter verzog im September 2009 in den Bezirk des Beklagten. Der mit ihr nicht verheiratete Kindesvater lebte weiterhin im Bezirk der Klägerin. In dem Zeitraum vom 20. Oktober 2011 bis zum 10. September 2013 gewährte die Klägerin der Großmutter ambulante Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft.

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Ohne Erfolg begehrte die Klägerin erstmals im Februar 2013 und hiernach im November 2013 von dem Beklagten die Erstattung der Kosten für die in dem vorbezeichneten Zeitraum erbrachten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 14 153,43 €. Die daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Ihre gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es unter anderem ausgeführt, die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII lägen nicht vor, da die Klägerin zwar auf der Grundlage ihrer örtlichen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII Jugendhilfeleistungen erbracht habe, vor Beginn dieser Jugendhilfeleistungen indes nicht der Beklagte, sondern die Klägerin selbst gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 Halbs. 1 SGB VIII örtlich zuständig gewesen sei. Nachdem das Familiengericht die elterliche Sorge für den Jugendlichen auf dessen Großmutter übertragen habe, habe der Kindesmutter die Personensorge nicht länger im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII und des § 86 Abs. 3 SGB VIII zugestanden. Beide Vorschriften knüpften an die Berechtigung zur Ausübung, nicht hingegen an die Entziehung der Personensorge an. Nach einer vollständigen Übertragung der elterlichen Sorge gemäß § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB stehe die Berechtigung zur Ausübung der Personensorge nicht mehr den Eltern, sondern allein der Pflegeperson zu.

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Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie macht im Wesentlichen geltend, ohne die durch § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII bewirkte Zuständigkeitsdurchbrechung wäre der Beklagte nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständiger Träger der Jugendhilfe gewesen. Der in dessen Zuständigkeitsbereich aufhältigen Kindesmutter sei die Personensorge durch die familiengerichtliche Entscheidung nach § 1630 Abs. 3 BGB nicht entzogen worden. Gegenstand dieser Entscheidung sei allein die Berechtigung zur Ausübung der Personensorge, nicht hingegen eine Entziehung der Personensorge im Sinne des § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB. Nur Letztere begründe ein "Nicht-Zustehen" der Personensorge im Sinne des § 86 Abs. 3 SGB VIII. Die Übertragung nach § 1630 Abs. 3 BGB verfolge das Ziel, die Familienpflege zu erleichtern, ohne die Eltern aus ihrer Rolle zu drängen. Daher sei davon auszugehen, dass nicht nur ein Rest der Personensorge, sondern auch ein Teil der Berechtigung zur Ausübung derselben bei der Mutter des Jugendlichen verblieben sei.

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Der Beklagte verteidigt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht mit Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO im Einklang. Das Oberverwaltungsgericht geht zu Recht davon aus, dass der Beklagte aus der allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden Bestimmung des § 89a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl. I S. 1108), nicht verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten für die von dieser im Zeitraum vom 20. Oktober 2011 bis zum 10. September 2013 erbrachten Jugendhilfeleistungen zugunsten des betroffenen Jugendlichen in Höhe von 14 153,43 € zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Antragstellung zu erstatten. Gemäß § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet hat (1.), von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre (2.).

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1. Die Beteiligten nehmen wie auch die Vorinstanzen zu Recht an, dass die Klägerin auf der Grundlage einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Gewährung ambulanter Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII in Form einer Erziehungsbeistandschaft gemäß § 30 SGB VIII Kosten in Höhe von 14 153,43 € aufgewendet hat. Lebt ein Kind oder ein Jugendlicher zwei Jahre bei einer Pflegeperson (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. September 2011 - 5 C 20.10 - BVerwGE 140, 305 Rn. 11 ff.) und ist sein Verbleib bei dieser auf Dauer zu erwarten (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 31.12 - Buchholz 436.511 § 89a SGB VIII Nr. 9 Rn. 14), so ist oder wird gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII abweichend von den Absätzen 1 bis 5 der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dass während der Zeit, in der der Jugendliche bei der Pflegeperson lebt, Leistungen der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII noch nicht erbracht werden, steht der Annahme einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII nicht entgegen (BVerwG, Urteil vom 1. September 2011 - 5 C 20.10 - BVerwGE 140, 305 Rn. 17). Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass der betroffene Jugendliche vor der Gewährung der Leistungen, deren Kosten die Klägerin erstattet wissen möchte, für die Dauer von mehr als zwei Jahren Aufnahme über Tag und Nacht in dem Haushalt seiner Großmutter gefunden hatte und sein dortiger Verbleib auch auf Dauer zu erwarten war. In dem Leistungszeitraum hatte seine Großmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Bereich der Klägerin.

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2. § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vermittelt dem nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson örtlich zuständig werdenden Träger einen Erstattungsanspruch gegen den örtlichen Träger, der zuvor zuständig war (Alt. 1) oder gewesen wäre (Alt. 2). Erstattungspflichtig im Sinne der Vorschrift ist der ohne die Zuständigkeitsdurchbrechung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zuständige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, mithin derjenige örtliche Träger, der - bliebe die Zuständigkeitsdurchbrechung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII außer Betracht - nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII für die Leistung zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Maßgeblicher zeitlicher Bezugspunkt ist - wie die Anknüpfung des Wortes "zuvor" an die Wörter "aufgewendet hat" verdeutlicht - der Zeitpunkt der Aufnahme der Leistungsgewährung durch den nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zuständig gewordenen Träger (BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 25.12 - Buchholz 436.511 § 89a SGB VIII Nr. 10 Rn. 17 m.w.N.). § 89a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB VIII bezieht sich auf Fallgestaltungen, bei denen die Leistungsgewährung auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII unmittelbar an eine Gewährung von Leistungen durch einen anderen Träger anschließt. Der Anwendungsbereich des § 89a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII ist eröffnet, wenn der Leistungsgewährung auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII unmittelbar keine Gewährung von Leistungen durch einen anderen Träger vorangegangen ist. Erstattungspflichtig ist derjenige Träger, der im Zeitpunkt der Leistungsgewährung auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig gewesen wäre, wenn die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht begründet worden wäre.

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Gemessen daran war der Beklagte unstreitig nicht im Sinne des § 89a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB VIII zuständig, da Jugendhilfeleistungen vor der Aufnahme der Leistungsgewährung durch die Klägerin am 20. Oktober 2011 nicht erbracht worden waren. Für deren Bewilligung wäre der Beklagte auch nicht im Sinne des § 89a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII zuständig gewesen. Denn im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Aufnahme der Leistungsgewährung durch die Klägerin am 20. Oktober 2011 wäre nicht er nach Maßgabe des insoweit allein in Betracht zu nehmenden § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig gewesen.

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Gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII ist für den Fall, dass die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben, derjenige örtliche Träger der Jugendhilfe zuständig, in dessen Bereich der personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; dies gilt nach § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB VIII auch dann, wenn ihm einzelne Angelegenheiten der Personensorge entzogen sind. § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII regelt die örtliche Zuständigkeit für die Fallgestaltung bereits bei Hilfebeginn auch geographisch über den Bereich eines Jugendhilfeträgers hinaus getrennt lebender Kindeseltern dahingehend, dass Anknüpfungskriterium für die örtliche Zuständigkeit grundsätzlich die alleinige Personensorgeberechtigung eines Elternteils für den betroffenen Minderjährigen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Februar 2008 - 5 B 109.06 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 6 Rn. 5). Diese Voraussetzungen waren hier in dem vorbezeichneten maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt nicht erfüllt. Zwar hatten am 20. Oktober 2011 beide Elternteile des Jugendlichen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Bereichen verschiedener Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Die Mutter des Jugendlichen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten hatte, war jedoch nicht personensorgeberechtigt im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII.

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a) Ein Elternteil ist auch dann nicht personensorgeberechtigt im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII, wenn - wie hier - sämtliche Angelegenheiten der elterlichen Sorge nach § 1630 Abs. 3 BGB auf eine Pflegeperson übertragen wurden (a.A. VGH München, Urteil vom 16. November 2004 - 12 B 00.3364 - FEVS 56 (2005) S. 539 <542 f.> zu § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII).

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aa) Für dieses Normverständnis sprechen bereits mit einer deutlichen Tendenz Wortlaut und Systematik der Norm. Der Begriff "personensorgeberechtigt" ist in § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII mit Wirkung für das gesamte Achte Buch des Sozialgesetzbuches definiert. Danach ist Personensorgeberechtigter, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht. Die Auslegung des Merkmals "personensorgeberechtigt" in § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII hat sich deshalb auch an den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zu orientieren.

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Gemäß § 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB, bezogen auf den hier maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 27. Juli 2011 (BGBl. I S. 1600), haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst nach § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). Gemäß § 1631 Abs. 1 BGB beinhaltet die Personensorge insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Geben die Eltern das Kind für längere Zeit in Familienpflege, so kann das Familiengericht gemäß § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB auf Antrag der Eltern oder der Pflegeperson Angelegenheiten der elterlichen Sorge auf die Pflegeperson übertragen. Für die Übertragung auf Antrag der Pflegeperson ist nach § 1630 Abs. 3 Satz 2 BGB die Zustimmung der Eltern erforderlich. Im Umfang der Übertragung hat die Pflegeperson gemäß § 1630 Abs. 3 Satz 3 BGB die Rechte und Pflichten eines Pflegers. Es kann hier dahingestellt bleiben, welche Auswirkungen die Übertragung nach § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB im Einzelnen hat. Jedenfalls sind die Eltern an der Ausübung der elterlichen Sorge bzw. an deren Wahrnehmung im Umfang der Übertragung gehindert (vgl. etwa Huber, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1630 BGB Rn. 28; Peschel-Gutzeit, in: Staudinger, BGB, 2015, § 1630 BGB Rn. 56; Gierke, Familienpflege - Die rechtliche Stellung von Pflegeeltern, 2009, S. 20; weitergehend wohl Henne, Die Rechte der leiblichen Eltern von Pflegekindern, 2009, S. 52 Fn. 264).

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Wurden - wie hier - sämtliche Angelegenheiten der elterlichen Sorge und wurde damit die Personensorge in vollem Umfang übertragen, sind die Eltern uneingeschränkt an der Ausübung der elterlichen Sorge gehindert. Es liegt insoweit genauso wie bei dem angeordneten Ruhen der elterlichen Sorge nach § 1674 Abs. 1 i.V.m. § 1675 BGB. Für diesen Fall hat der Senat angenommen, dass mit Blick darauf, dass während des Ruhens der elterlichen Sorge diese nicht ausgeübt werden kann, die Personensorge den Eltern oder dem betroffenen Elternteil nicht zusteht im Sinne des § 86 Abs. 3 SGB VIII (BVerwG, Beschluss vom 13. September 2004 - 5 B 65.04 - EuG 2007, 187 <188>). Es spricht ganz Überwiegendes dafür, dass dies für das Merkmal "personensorgeberechtigt" in § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII entsprechend gilt.

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bb) Das grammatisch-systematische Verständnis des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII wird durch das Ergebnis der teleologischen Auslegung der Norm bestätigt. Den Zuständigkeitsbestimmungen des § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII liegt die gesetzgeberische Einschätzung zu Grunde, dass ein Kind oder Jugendlicher aus rechtlicher und pädagogischer Sicht grundsätzlich im Zusammenhang mit den Personen zu sehen ist, die für es oder ihn die Erziehungsverantwortung innehaben. Dies sind regelmäßig die Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil, deren natürliches Recht und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht die Pflege und Erziehung ihres Kindes ist. Denn im Regelfall vermitteln die Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil die Nähe zur Lebenswelt des Kindes oder Jugendlichen. Demgemäß "wandert" die örtliche Zuständigkeit im Falle eines Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern oder des personensorgeberechtigten Elternteils grundsätzlich mit diesen beziehungsweise diesem "mit" (BVerwG, Urteile vom 1. September 2011 - BVerwG 5 C 20.10 - BVerwGE 140, 305 Rn. 14 und vom 14. November 2013 - 5 C 25.12 - Buchholz 436.511 § 89a SGB VIII Nr. 10 Rn. 36). Soweit in § 86 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit auf den personensorgeberechtigten Elternteil abgestellt wird, beruht dies auf der Annahme, dass dieser Elternteil gerade wegen des Bestehens der Personensorgeberechtigung die Nähe zur Lebenswelt des Kindes oder Jugendlichen vermittelt. § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 und Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 SGB VIII geht davon aus, dass die Entziehung einzelner Angelegenheiten der elterlichen Sorge diese Nähe nicht wesentlich beeinträchtigt. Kann die Personensorgeberechtigung aber wegen der uneingeschränkten Übertragung nach § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB insgesamt nicht ausgeübt werden, ist der Annahme einer durch den Personensorgeberechtigten vermittelten Nähe die Grundlage entzogen.

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cc) Die historisch-genetische Auslegung steht dem vorstehenden Normverständnis nicht entgegen. Die Gesetzesmaterialien zu § 86 SGB VIII (vgl. insbesondere BT-Drs. 12/2866 S. 15 und 21) enthalten keinen Hinweis, dass eine Übertragung sämtlicher Angelegenheiten der Personensorge auf eine Pflegeperson nach § 1630 Abs. 3 BGB das Zustehen der Personensorge im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII nicht tangieren sollte. Auch die Materialien zu § 1630 Abs. 3 BGB gebieten keine abweichende Betrachtung. Diesen ist allein zu entnehmen, dass die Rechtsstellung der Pflegeperson im Verhältnis sowohl gegenüber Dritten als auch gegenüber den personensorgeberechtigten Eltern mit dem Ziel der Verbesserung der Stellung des Kindes gestärkt werden sollte (BT-Drs. 8/2788 S. 47; ferner BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1995 - 5 C 2.94 - BVerwGE 100, 178 <183>).

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b) Gemessen an diesen Grundsätzen wäre der Beklagte vor der Aufnahme der Leistungsgewährung durch die nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zuständig gewordene Klägerin nicht gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewesen. Zwar hatte die Mutter des Jugendlichen ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten. Sie war hingegen auf Grund der uneingeschränkten Übertragung von Angelegenheiten der elterlichen Sorge auf ihre Mutter nach § 1630 Abs. 3 Satz 1 BGB zum Zeitpunkt der Gewährung der Leistungen, um deren Kosten gestritten wird, nicht mehr personensorgeberechtigt im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskostenfreiheit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht.