Entscheidungsdatum: 06.12.2012
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 23. April 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer hiergegen gerichteten Revision die Verletzung materiellen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, an jeweils unterschiedlichen, nicht mehr näher feststellbaren Tagen vor dem 30. Mai 2010 (Fälle 1 – 5) sowie am 30. Mai 2010 (Fall 6) sexuelle Übergriffe zu Lasten der am 1. April 1999 geborenen Nebenklägerin J. -D. B. begangen zu haben.
1. Der Angeklagte habe die Nebenklägerin, die ihn in seiner Wohnung häufiger allein besucht habe, aufgefordert, ihren Unterkörper zu entkleiden und sich mit dem Rücken auf den Esstisch im Wohnzimmer zu legen. Dem sei das Mädchen nachgekommen. Der Angeklagte habe sein Glied entblößt und dieses an der Scheide der Nebenklägerin gerieben, wobei er sich zugleich manuell bis zum Samenerguss befriedigt habe. Er habe auf den entblößten Bauch des Kindes ejakuliert und das Ejakulat später mit einem Küchentuch abgewischt.
2. In der Küche seiner Wohnung habe der Angeklagte die Nebenklägerin aufgefordert, sich hinzuknien und sein entblößtes Glied in den Mund zu nehmen. Dem habe die Nebenklägerin entsprochen. Sie habe den Angeklagten bis zum Samenerguss befriedigt.
3. Der Aufforderung des Angeklagten, ihren Unterkörper zu entblößen, sei die Nebenklägerin gefolgt. Sie habe sich anschließend auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt. Während sie ferngesehen habe, habe der Angeklagte sie im Genitalbereich gestreichelt.
4. Der Angeklagte habe die Nebenklägerin aufgefordert, ihren Unterkörper zu entkleiden und sich hinzuknien. Nachdem dies geschehen sei, habe er sein erigiertes Glied an der „Poritze“ der Geschädigten gerieben und sich hierbei manuell bis zum Samenerguss befriedigt.
5. Der Aufforderung des Angeklagten, seine Hoden zu berühren und ihn mit der Hand zu befriedigen, sei die Nebenklägerin bis zum Samenerguss nachgekommen.
6. Am 30. Mai 2010 sei die Nebenklägerin gegen Mittag zum letzten Mal allein in der Wohnung des Angeklagten gewesen, um von diesem geangelte Forellen abzuholen. Der Angeklagte habe im Hausflur sein Glied entblößt und vor der Geschädigten bis zum Samenerguss onaniert.
Hinsichtlich der Fälle 3 bis 6 ist das Verfahren in der Hauptverhandlung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden.
II.
Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf nicht geäußert. Das Landgericht hat ihn in den Fällen I. 1 und I. 2 aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
1. Es hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Die Nebenklägerin, die eine Ganztagsförderschule besucht, lebte bis zu einem innerörtlichen Umzug im Jahre 2008 mit ihrer Familie in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Angeklagten. Auch nach dem Umzug besuchte sie den Angeklagten häufiger allein in dessen Wohnhaus. Bei ihren Besuchen beschenkte er die Nebenklägerin regelmäßig mit Süßigkeiten, Geldbeträgen (bis zu 20 €) und diversen Kleidungsstücken. Da den Eltern die Geschenke auffielen, sprachen sie ihre Tochter darauf an, die einen besonderen Grund hierfür verneinte. Die Besuche der Nebenklägerin erfolgten aus unterschiedlichen Anlässen: Des Öfteren holte sie geangelte Fische ab. Sie begab sich aber auch zum Angeklagten, um aus Langeweile fernzusehen, dort zu essen oder Geldgeschenke abzuholen. In ihrer Freizeit nutzt die Nebenklägerin, „die jederzeit Zugang zu Fernsehen und Internet hat“, diese Medien „ungewöhnlich oft und unbeaufsichtigt“ (UA S. 7). Im Sommer 2009 trennten sich die Eltern der Nebenklägerin vorübergehend. Bis November 2009 wohnte die Nebenklägerin zusammen mit ihrer Mutter bei deren neuem Freund. Das Landgericht konnte nicht ausschließen, dass die Nebenklägerin während dieser Zeit in einem Fall sexuelle Handlungen (zumindest Oralverkehr) zwischen ihrer Mutter und einem anderen Sexualpartner beobachtet hat. Im Januar 2010 fiel der Zeugin H. , die die Nebenklägerin seit dem Schuljahr 2008/2009 als Klassenlehrerin betreut, unvermittelt ein ungewöhnliches sexualisiertes Verhalten der damals Zehnjährigen auf. Diese setzte sich offen auf einen Tisch im Klassenzimmer, spreizte die Beine und forderte die Jungen auf, an ihre Scheide zu greifen. Zudem machte sie eindeutige Bewegungen und Laute wie beim Geschlechtsverkehr (UA S. 8). Nach einem zeitnah anberaumten Elterngespräch an der Schule gab sie ihrem Vater gegenüber an, dass nichts sei. In der Folgezeit zeigte sie in der Schule keine offenen sexuellen Handlungsweisen mehr. An dem Wochenende 29./30. Mai 2010 besuchte die Nebenklägerin den Angeklagten zum letzten Mal. Dieser hatte ihren Eltern selbst geangelte Fische angeboten. Die Nebenklägerin kehrte aufgeregt und ohne Fische zum Elternhaus zurück und erhob erstmals gegenüber ihren Eltern Missbrauchsvorwürfe gegen den Angeklagten (Fall I. 6). Das Landgericht konnte nicht feststellen, was sich an diesem Tag im Haus des Angeklagten zugetragen hat. Zu früheren Vorfällen berichtete die Nebenklägerin ihrem Vater zunächst keine Einzelheiten. Dieser erstattete am 15. Juni 2010 bei der Polizeiinspektion R. Strafanzeige gegen den Angeklagten.
Zu den persönlichen Verhältnissen des ledigen Angeklagten hat das Landgericht festgestellt, dass er allein ein Eigenheim bewohnt, Rentner ist und im Jahre 1999 durch das Amtsgericht R. wegen sexuellen Miss-brauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden ist, deren Vollstreckung das Amtsgericht zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Strafe wurde mit Wirkung vom 27. September 2002 erlassen.
2. Zur Begründung des Freispruchs hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
Abweichend von der Einschätzung der Sachverständigen Dr. R. -J. seien die Angaben der Nebenklägerin insgesamt als nicht glaubhaft zu beurteilen. Die Sachverständige habe die Zweifel des Gerichts nicht ausräumen können. Die Aussage der Nebenklägerin weise gravierende Qualitätsmängel auf. Die Schilderung des unmittelbar handlungsrelevanten Geschehens sei detailarm sowie zum Teil unklar und widersprüchlich. Es sei nicht gelungen, die Taten nach Zeit oder Tathergang auch nur ansatzweise zu konkretisieren. Suggestive Abläufe seien wahrscheinlich. Das Landgericht konnte nicht ausschließen, dass die Nebenklägerin „Erkenntnisse aus den Medien“ sowie Beobachtungen von sexuellen Aktivitäten ihrer Mutter mit wechselnden Partnern auf den Angeklagten übertragen hat (UA S. 42).
III.
Der Freispruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO), dessen Schlussfolgerungen nicht zwingend, sondern nur möglich sein müssen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 – 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151; Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Insbesondere sind die Beweise auch erschöpfend zu würdigen. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich zudem ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt auch, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 10. August 2011 – 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110 f.; vom 11. August 2011 – 4 StR 191/11; vom 26. April 2012 – 4 StR 599/11 und vom 8. August 2012 – 1 StR 88/12).
Dem wird die Beweiswürdigung des Landgerichts in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
1. Die Beweiswürdigung ist bereits deshalb rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht von dem in der Hauptverhandlung erstatteten aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen Dr. R. -J. ohne hinreichende Begründung abweicht. Zwar war das Landgericht nicht gehindert, von dem Gutachten der Sachverständigen abzuweichen, da ein solches nur Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters sein kann. Wenn der Tatrichter aber eine Frage, für die er geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss er die maßgeblichen Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt (BGH, Urteil vom 1. April 2009 – 2 StR 601/08, NStZ 2009, 571, und Beschluss vom 22. Mai 2012 – 5 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 287, 288; KK-Schoreit, StPO, 6. Aufl., § 261 Rn. 33). Daran fehlt es hier. Nach dem im Urteil wiedergegebenen Inhalt der aussagepsychologischen Begutachtung ist die Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, dass sich in der Gesamtschau aller Anklagepunkte ein rundes Bild ergebe. Es lägen weder Widersprüche noch logische Brüche vor. Auch bei Anlegung eines strengen Maßstabs sei hinsichtlich der Fälle I. 1 und I. 2 mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Erfahrungshintergrund anzunehmen. Diese Übergriffe habe die Nebenklägerin immer erwähnt und dabei auch stimmige Ergänzungen vorgenommen. Eine Beeinflussung von außen könne ausgeschlossen werden. Demgegenüber stuft die Strafkammer die Angaben der Nebenklägerin insgesamt als unglaubhaft ein und stellt im Rahmen der Qualitätsanalyse der Aussage u.a. darauf ab, dass die Nebenklägerin einen unbedarften Eindruck vermittelt, keine Ängstlichkeit vor dem Angeklagten gezeigt und die sexuellen Übergriffe zu Beginn ihrer Vernehmung lediglich „stakkatoartig“ aufgelistet habe (UA S. 32). Das Kerngeschehen sei lediglich grob und detailarm geschildert worden, ohne dass eine Konkretisierung hinsichtlich Tatzeit, Tathergang und Anzahl der Vorfälle möglich gewesen sei (UA S. 34, 37). Dabei übergeht das Landgericht rechtsfehlerhaft die Ausführungen der Sachverständigen zur Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin. Diese verfügt mit einem Gesamt-IQ von 80 über eine knapp unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit, wobei ihr Vortrag naiv anmutet und Strukturierungsleistungen ihr besonders schwer fallen. Die Angaben der Nebenklägerin bestehen regelmäßig zunächst aus Auflistungen mit knappen Inhalten, weil sie sich nicht besser äußern kann. Die fehlenden Angstgefühle gegenüber dem Angeklagten beruhen darauf, dass der Nebenklägerin die Tragweite des Geschehens bis heute nicht klar ist (UA S. 28). Mit diesen in der Persönlichkeit der Nebenklägerin begründeten Besonderheiten hätte sich das Landgericht im Rahmen der Aussageanalyse näher auseinandersetzen müssen.
2. Die erforderliche Gesamtschau der Beweisergebnisse fehlt.
In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. Mai 2011 – 4 StR 163/11, StraFo 2011, 400; Urteil vom 14. Dezember 2011 – 1 StR 501/11, NStZ-RR 2012, 148, 149; Beschluss vom 22. Mai 2012 – 5 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 287, 288). Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Angeklagte sich – wie hier – nicht zur Sache einlässt und der Aussage des einzigen Belastungszeugen ausschlaggebendes Gewicht zukommt (vgl. KK-Schoreit, StPO, 6. Aufl., § 261 Rn. 29 mwN). Das Landgericht hat die Aussage der Nebenklägerin vor allem mit Blick auf die Umstände, die nach seiner Auffassung der Glaubhaftigkeit der Angaben entgegenstehen, ausführlich erörtert und überprüft (UA S. 33 – 38), während die für die Glaubhaftigkeit der Angaben sprechenden Gesichtspunkte nur knapp und ohne erkennbare Würdigung aufgelistet werden (UA S. 32/33). Im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aller entscheidungsrelevanten Umstände hätte das Landgericht auch darauf eingehen müssen, dass die im Urteil mitgeteilten Aussagen der Nebenklägerin (polizeiliche Vernehmung, Exploration durch die Sachverständige, Angaben in der Hauptverhandlung) eine angesichts ihres eingeschränkten Leistungsvermögens beachtliche inhaltliche Konstanz sowie einige originelle Details aufweisen (UA S. 19 – 26) und der Angeklagte wegen ähnlicher Vorfälle bereits vorgeahndet ist. Darüber hinaus hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass auch die jüngere Schwester der Nebenklägerin von sexuellen Handlungen des Angeklagten („Zungenküsse“) berichtet hat (UA S. 48), die auffällige Häufung von Geld- und Sachgeschenken an die Nebenklägerin ohne äußeren Anlass erfolgt ist und die Nebenklägerin im Januar 2010 ein sexuell auffälliges Verhalten in der Schule gezeigt hat. Obwohl die Strafkammer der Zeugin H. (Klassenlehrerin) eine hohe Beweisbedeutung beimisst, unterbleibt eine Auseinandersetzung mit deren Einschätzung, dass die Nebenklägerin nicht in der Lage sei, die verfahrensgegenständlichen Vorfälle zu erfinden, „da sie nicht viel rede und sich nicht durch lange Geschichten produziere“ (UA S. 41). Hinzu kommt die Bestätigung durch die Großmutter der Nebenklägerin, dass ihre Enkelin „nicht darauf aus sei, einen anzulügen“ (UA S. 40). Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer umfassenden Gesamtschau auch der den Angeklagten belastenden Umstände den Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Nebenklägerin ein geringeres Gewicht beigemessen und sich von der Richtigkeit ihrer Angaben überzeugt hätte.
3. Soweit das Landgericht suggestive Abläufe für wahrscheinlich hält, ist zu besorgen, dass die Anforderungen, die an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit zu stellen sind, überspannt wurden. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (Senatsurteile vom 11. August 2011 – 4 StR 191/11 und vom 26. April 2012 – 4 StR 599/11). Das Landgericht hält es lediglich für möglich, dass die Nebenklägerin Fernsehsendungen, Internetseiten oder Zeitschriften mit pornografischen Inhalten zur Kenntnis genommen und deren Inhalte auf sich und den Angeklagten übertragen hat. Tragfähige Feststellungen dazu hat es nicht getroffen.
Mutzbauer Roggenbuck Cierniak
Bender Reiter