Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 16.08.2012


BGH 16.08.2012 - 3 StR 180/12

Revisionsgerichtliche Nachprüfung des Strafurteils: Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Freispruch vom Anklagevorwurf des Mordes; Anwendbarkeit des Grundsatzes "in dubio pro reo"


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
16.08.2012
Aktenzeichen:
3 StR 180/12
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Verden, 17. August 2011, Az: 4 KLs 2/10
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Verden vom 17. August 2011 wird verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht Stade hatte den Angeklagten vom Vorwurf freigesprochen, am frühen Morgen des 23. August 1987 die damals 16 Jahre alte Schülerin    A.  ermordet zu haben. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hatte der Senat das landgerichtliche Urteil wegen einer durchgreifenden Beweisantragsrüge aufgehoben und die Sache an das Landgericht Verden zurückverwiesen (BGH, Urteil vom 29. April 2010 - 3 StR 63/10). Das Landgericht hat den Angeklagten erneut freigesprochen. Mit ihrer hiergegen gerichteten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft die Beweiswürdigung der Strafkammer. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel ist unbegründet.

2

Nach den Feststellungen war der Angeklagte zum Tatzeitpunkt mit der Zeugin    B.   befreundet. Die beiden besuchten am Abend des 22. August 1987 eine Diskothek in Be.   . Dort konsumierte der Angeklagte ein Plättchen LSD und trank Alkohol. Danach traf er auf    A.  , mit der er in den Monaten zuvor zwei- oder dreimal geschlechtlich verkehrt hatte, und unterhielt sich mit ihr. Später übte er mit ihr auf dem Beifahrersitz seines Pkws den Geschlechtsverkehr aus. Danach fuhr er zu einer Tankstelle und schlief in seinem Auto ein. Nachdem er wieder erwacht war, kehrte er zu der Diskothek zurück, wo er um 1.45 Uhr auf die Zeugin B.   traf. Mit dieser fuhr er zu deren Elternhaus und verbrachte dort die restliche Nacht mit ihr.   A.  unterhielt sich um 1.50 Uhr vor der Diskothek mit einem ihr bekannten Taxifahrer. Sie wurde um 2.00 Uhr und um 2.30 Uhr von weiteren Zeugen noch lebend gesehen. In den frühen Morgenstunden des 23. August 1987 wurde sie von einem unbekannten Täter getötet; ihre Leiche, die mindestens sechzig Stich- bzw. Schnittverletzungen aufwies, wurde nackt und gefesselt auf dem Seitenstreifen eines Weges bei E.   zurückgelassen.

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1. Die Strafkammer hat sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten zu überzeugen vermocht. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, der Angeklagte verfüge aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin B.   für die Tatzeit über ein Alibi, welches durch das übrige Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu widerlegen sei. Insbesondere könnten die DNA-Spuren des Angeklagten auf dem Fesselungsmaterial und einer naheliegend als Knebel verwendeten Socke durch eine Sekundärübertragung verursacht worden sein. Auch die Einlassungen des Angeklagten im Ermittlungsverfahren sowie das sonstige Beweisergebnis, etwa die Spurenlage in dessen Fahrzeug, an der Leiche, am Tatort und einer Slipeinlage der Getöteten sowie das vor der Tat praktizierte Sexualverhalten des Angeklagten reichten nicht aus, um dessen Alibi zu widerlegen. Die Strafkammer sei deshalb davon überzeugt, dass ein bislang unbekannter Täter das Opfer getötet habe.

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2. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.

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a) Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht überwinden kann, so ist dies vom Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen; denn die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überzogene Anforderungen stellt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326).

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b) Ein durchgreifender Rechtsmangel in diesem Sinne liegt nicht vor.

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aa) Die Strafkammer hat insbesondere mit ausführlicher Würdigung rechtsfehlerfrei die Aussage der an insgesamt drei Sitzungstagen vernommenen Zeugin B.   als glaubhaft erachtet, sie habe den Angeklagten um 1.45 Uhr in der Diskothek wieder getroffen und sodann die Nacht mit ihm gemeinsam verbracht. Gleiches gilt für die Aussage des Zeugen Ba.   , der als Taxifahrer vor der Diskothek auf Fahrgäste wartete und dabei mit dem ihm bekannten Opfer ein Gespräch führte. Die - ebenfalls sorgfältig begründete - zeitliche Einordnung dieser Unterhaltung auf 1.50 Uhr beruht vor allem auf einer detaillierten Auswertung der von dem Zeugen in dieser Nacht gefahrenen Touren und weist ebenfalls keinen Rechtsfehler auf. Vor diesem Hintergrund ist die Wertung der Strafkammer, dass die den Angeklagten belastenden Indizien nicht ausreichen, um einen Tatnachweis zu erbringen, nicht zu beanstanden.

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bb) Die in diesem Zusammenhang erhobenen einzelnen Einwendungen der Revision geben Anlass zu folgenden Bemerkungen:

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(1) Soweit die Revision rügt, das Landgericht habe bei der Bewertung jedes einzelnen, den Angeklagten potentiell belastenden Beweismittels gemäß dem Grundsatz "in dubio pro reo" denjenigen Schluss gezogen, der den Angeklagten entlaste, ist ihr zwar im Ansatz zuzugeben, dass der Zweifelsgrundsatz eine Entscheidungsregel ist, die grundsätzlich nicht auf die einzelnen Elemente der Beweiswürdigung anzuwenden ist, sondern erst nach deren Abschluss eingreift (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 261 Rn. 26 mwN). Gegen diesen Grundsatz hat das Landgericht jedoch nicht verstoßen. Den ausführlichen Urteilsgründen ist vielmehr zu entnehmen, dass die Strafkammer die einzelnen den Angeklagten be- und entlastenden Umstände dargestellt und deren jeweiligen Beweiswert vor dem Hintergrund der für ein Alibi des Angeklagten sprechenden Beweise gewürdigt hat. Hiergegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern.

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(2) Die von der Strafkammer in den Raum gestellte Möglichkeit, der Angeklagte habe bei dem in seinem Pkw mit dem späteren Opfer praktizierten Geschlechtsverkehr sein Glied aus dessen Scheide gezogen, bevor es zum Samenerguss kam, und das Ejakulat mit einem Taschentuch aufgefangen, beruht auf einer tragfähigen Beweisgrundlage. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang darauf abgestellt, dass die Geschädigte am Tag zuvor bei einem Geschlechtsverkehr mit dem Zeugen Z.   in entsprechender Weise verhütet hatte und dem Angeklagten daran gelegen sein musste, dass keine Spuren in dem Fahrzeug zurückblieben, weil er mit diesem noch gemeinsam mit seiner Freundin nach Hause fahren wollte. Damit stellt die Folgerung des Landgerichts nicht lediglich eine reine Spekulation dar.

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(3) Soweit das Landgericht den DNA-Spuren des Angeklagten auf dem Fesselungsmaterial sowie der Socke keinen maßgebenden Beweiswert zugemessen hat, weil sie durch eine Sekundärübertragung verursacht sein können, lässt dies keinen durchgreifenden Rechtsfehler erkennen. Die Strafkammer, die in diesem Zusammenhang mehrere Sachverständige gehört hat, hat bei ihrer Würdigung insbesondere auf die Witterungsverhältnisse in der Tatnacht sowie den Umstand abgestellt, dass zu der damaligen Zeit dem Stand der Wissenschaft entsprechend keine Sicherheitsmaßnahmen zur Vermeidung derartiger Sekundärübertragungen getroffen wurden. Die vom Landgericht mit Blick auf diese Umstände gezogenen Schlüsse sind möglich; darauf, ob sie naheliegend oder gar sicher sind, kommt es für die revisionsrechtliche Beurteilung nicht an. In diesem Zusammenhang ist auch nicht zu besorgen, dem Landgericht könne der Umstand aus dem Blick geraten sein, dass es an anderer Stelle davon ausgegangen ist, der Angeklagte habe bei dem festgestellten einvernehmlichen Geschlechtsverkehr nicht in die Scheide des Opfers ejakuliert. Der von der Revision in diesem Zusammenhang angenommene Verstoß gegen Denkgesetze ist deshalb nicht gegeben.

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(4) Den Umstand, dass sich auch im Afterbereich des Opfers DNA-Spuren des Angeklagten befanden, obwohl dieser mit der später Getöteten lediglich vaginal verkehrte, hat das Landgericht nachvollziehbar damit erklärt, dass durch einen der dem Opfer zugefügten Stiche ein Kanal zwischen Scheiden- und Enddarmbereich eröffnet wurde.

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(5) Die Urteilsgründe geben keinen begründeten Anlass zu der Besorgnis, das Landgericht habe zu hohe Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt. Die Beweiswürdigung lässt vielmehr insgesamt deutlich erkennen, dass die Strafkammer sich des Maßes der für eine Verurteilung notwendigen richterlichen Überzeugung bewusst war. Dies gilt vor dem Hintergrund des rechtsfehlerfrei begründeten Alibis des Angeklagten auch mit Blick auf die vereinzelte - für sich genommen möglicherweise missverständliche - Formulierung, der Nachweis der DNA-Spuren des Angeklagten an dem Seil zwinge nicht zu dem Schluss, dass er dieses selbst angefasst habe.

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(6) Die Strafkammer ist dem Sachverständigen Dr. K.   folgend rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Tat aufgrund des Verletzungsbildes bei der Getöteten sexuell-sadistisch motiviert war. Sie hat sodann ebenfalls ohne Rechtsfehler ausgeführt, dass sich bei dem Angeklagten keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines sexuellen Sadismus ergeben haben, und dies zu seinen Gunsten in die Beweiswürdigung eingestellt.

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(7) Mit Blick auf die vom Landgericht für glaubhaft erachtete Aussage der Zeugin B.   , der Angeklagte sei nach seiner Rückkehr in die Diskothek nicht verhaltensauffällig gewesen und habe das Fahrzeug auf dem Heimweg sicher geführt, sowie das übrige Ergebnis der Beweisaufnahme war die Strafkammer nicht gehalten, ausdrücklich zu erörtern, ob der Angeklagte möglicherweise infolge eines Exzesses aufgrund des Konsums von LSD und Alkohol dem Opfer die zahlreichen Verletzungen zugefügt haben könnte. Dem steht im Übrigen nicht entgegen, dass das Landgericht auf dem Alkohol- und LSD-Konsum beruhende Erinnerungslücken des Angeklagten nicht hat ausschließen können.

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(8) Den Widerspruch in den Angaben des Angeklagten anlässlich seiner polizeilichen Vernehmungen bezüglich seines Aufenthaltsorts, nachdem er mit seinem Fahrzeug von der Diskothek weggefahren war, hat das Landgericht mit dem Zeitablauf von fast 21 Jahren zwischen den beiden Vernehmungen erklärt. Daneben hat es in seine Bewertung eingestellt, dass der Angeklagte in seiner ersten, tatzeitnahen Vernehmung leicht überprüfbare Umstände geschildert hatte, und die dortigen Angaben rechtsfehlerfrei zur Grundlage der Feststellungen gemacht.

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(9) Soweit die Revision meint, die Beweiswürdigung sei unvollständig, weil sich das Landgericht nicht mit der Möglichkeit auseinandergesetzt habe, dass der Angeklagte im Laufe der Nacht unbemerkt das Zimmer der Zeugin B.   habe verlassen und sodann die Tat begehen können, zeigt sie keine rechtlich relevante Lücke auf. Für diesen von der Revision als möglich erachteten Geschehensablauf bieten die Urteilsgründe keinen Anhaltspunkt; er war deshalb auch nicht ausdrücklich zu erörtern.

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(10) Die erforderliche Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise hat das Landgericht nicht nur formelhaft, sondern in ausreichendem Umfang vorgenommen. Das Landgericht hat die wesentlichen Gesichtspunkte erneut aufgeführt und einander gegenübergestellt. Mit Blick auf die jeweils ausführliche Bewertung des Beweiswerts der einzelnen Indizien war insbesondere eine erneute Aufzählung aller für deren Würdigung wesentlichen Umstände nicht erforderlich. Die Annahme, die Strafkammer habe sich "den Blick dadurch verstellt", dass sie davon ausgegangen sei, die Tat habe ein bislang unbekannter Dritter verübt, findet in den Urteilsgründen keine Stütze. Die Tatbegehung durch einen Dritten ist vielmehr das Ergebnis, zu dem das Landgericht aufgrund seiner Überzeugungsbildung gelangt ist.

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(11) Im Übrigen erschöpft sich das Vorbringen der Revision im Wesentlichen darin, mit - jedenfalls teilweise - urteilsfremdem Vortrag die erhobenen Beweise selbst zu würdigen. Auch hiermit kann sie im Revisionsverfahren keinen Erfolg haben.

VRiBGH Becker ist wegen

Urlaubs an der Unterschriftsleistung

gehindert.

Pfister     

Hubert

Pfister

     Schäfer     

Mayer