Entscheidungsdatum: 08.05.2013
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 2 der Marken-richtlinie 2008/95/EG sinngemäß im Hinblick darauf,
- ob der Schutz der Einzelhandelsdienstleistungsmarke nach der Entscheidung des EuGH zu „Praktiker“ (GRUR 2005, 764 ff.) auch für den Handel mit Dienstleistungen gelte,
- ob die gleichen Konkretisierungsanforderungen an den Handelsgegenstand „Dienstleistung“ zu stellen seien und
- ob die Einzelhandelsdienstleistungsmarke auch Dienstleistungen schütze, die der Einzelhändler selbst erbringe.
In der Beschwerdesache
…
betreffend die Markenanmeldung 30 2011 050 137.8
hat der 29. Senat (Marken-Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2013 unter Mitwirkung der Vorsitzenden Richterin Grabrucker sowie der Richterinnen Kortge und Uhlmann
beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung des Art. 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken vom 22. Oktober 2008 (ABl.-EU Nr. L 299 vom 8. November 2008, S. 25) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 2 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass unter einer Dienstleistung im Sinne dieser Vorschrift auch der Einzelhandel mit Dienstleistungen verstanden wird?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
Ist Art. 2 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass die Dienstleistungen, die vom Einzelhändler angeboten werden, inhaltlich genauso konkretisiert werden müssen wie die Waren, die ein Einzelhändler vertreibt?
a) Reicht es für die Konkretisierung der Dienstleistungen aus, wenn angegeben wird
aa) nur der Dienstleistungsbereich allgemein oder Oberbegriffe,
bb) nur die Klasse(n) oder
cc) jede einzelne Dienstleistung im Konkreten?
b) Nehmen diese Angaben dann an der Festlegung des Anmeldetages teil oder ist bei der Angabe von Oberbegriffen oder Klassen ein Austausch oder eine Ergänzung möglich?
3. Falls die Frage 1 bejaht wird:
Ist Art. 2 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass sich der Schutzumfang der Einzelhandelsdienstleistungsmarke mit Dienstleistungen auch auf Dienstleistungen erstreckt, die der Einzelhändler selbst erbringt?
I.
Das Wort-/Bildzeichen (gelb, rot)
ist am 10. September 2011 zur Eintragung als Marke in das beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) geführte Register für Waren und Dienstleistungen der Klassen 18, 25, 35 und 36 angemeldet worden.
Mit Beschluss vom 10. September 2012 hat die Markenstelle für Klasse 35 die Anmeldung teilweise nach § 36 Abs. 4 MarkenG wegen mangelnder Bestimmtheit bzw. Nichterfüllung der formellen Anforderungen der §§ 32 Abs. 3, 65 Abs. 1 Nr. 2 MarkenG i. V. m. § 20 Abs. 1 MarkenV zurückgewiesen, nämlich für folgende Dienstleistungen:
Klasse 35: Dienstleistungen des Einzel- und Großhandels, insbesondere die Zusammenstellung verschiedener Dienstleistungen für Dritte, um den Verbrauchern den Erwerb dieser Dienstleistungen zu erleichtern, insbesondere auch durch Einzelhandelsgeschäfte, Großhandelsverkaufsstellen, über Versandkataloge oder elektronische Medien, z.B. Websites oder Teleshopping-Sendungen hinsichtlich der folgenden Dienstleistungen: aus Klasse 35: Werbung, Geschäftsführung, Unternehmensverwaltung, Büroarbeiten; aus Klasse 36: Ausgabe von Gutscheinen oder Wertmarken; aus Klasse 39: Veranstaltung von Reisen; aus Klasse 41: Unterhaltung; aus Klasse 45: persönliche und soziale Dienstleistungen betreffend individuelle Bedürfnisse.
Zur Begründung hat die Markenstelle ausgeführt, die zurückgewiesenen Dienstleistungen seien weder nach Inhalt noch Umfang klar und eindeutig von anderen Dienstleistungen abgrenzbar, so dass eine Klasseneinteilung nicht möglich sei. Darauf habe sie die Anmelderin in mehreren vorherigen Beanstandungsbescheiden hingewiesen. Unter den Begriff „Dienstleistung des Einzelhandels“ falle die gesamte Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers, die dieser entfalte, um zum Abschluss eines Kaufvertrages über die von ihm gehandelten Waren anzuregen. Diese Tätigkeit bestehe insbesondere in der Auswahl des Sortiments der zum Kauf angebotenen Waren und im Angebot verschiedener Dienstleistungen, die einen Verbraucher veranlassen sollen, den Kaufvertrag mit diesem Händler statt mit einem seiner Wettbewerber abzuschließen. Hierbei handele es sich im Wesentlichen um die in den erläuternden Anmerkungen zu Klasse 35 der Nizzaer Klassifikation aufgeführten Dienstleistungen „das Zusammenstellen verschiedener Waren (ausgenommen deren Transport) für Dritte, um den Verbrauchern Ansicht und Erwerb dieser Waren zu erleichtern“. Nicht unter den Begriff der Einzelhandelsdienstleistung fielen dagegen sonstige Leistungen, die lediglich anlässlich des Warenvertriebs oder neben dem Einzelhandel erbracht würden und in erster Linie zum Tätigkeitsbereich anderer Wirtschaftsbereiche gehörten und für die in anderen Klassen eigenständiger Markenschutz vorgesehen sei. Dies gelte insbesondere für die hier in Rede stehenden Dienstleistungen „Werbung, Geschäftsführung, Unternehmensverwaltung, Büroarbeiten“ (Klasse 35), „Ausgabe von Gutscheinen oder Wertmarken“ (Klasse 36), „Veranstaltung von Reisen“ (Klasse 39), „Unterhaltung“ (Klasse 41) sowie „persönliche und soziale Dienstleistungen betreffend individuelle Bedürfnisse“ (Klasse 45). Mit diesen trete der Einzelhändler nicht in Wettbewerb zu anderen Einzelhändlern, sondern zu den jeweiligen Dienstleistungsunternehmen wie Werbeagenturen, Unternehmensberatern, Reisebüros usw.. Wer für solche Dienstleistungen Markenschutz begehre, müsse seine Anmeldung ausdrücklich auf diese beziehen. Mit einer Einzelhandelsdienstleistungsmarke sei dieser Bereich nicht abgedeckt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Anmelderin, mit der sie beantragt,
den Beschluss des Deutschen Patent- und Markenamtes vom 10. September 2012 aufzuheben.
Sie trägt vor, in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu „Praktiker“ (GRUR 2005, 764) sei nur über Einzelhandelsdienstleistungen mit Waren und nicht auch mit Dienstleistungen entschieden worden. Der Einzelhandel habe aber mittlerweile einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Der Verbraucher verlange zunehmend „alles aus einer Hand“ und wolle nur mit einem ausgesuchten Handelsunternehmen seines Vertrauens und nicht mit anderen ihm unbekannten Unternehmen Verträge schließen. Deshalb gingen Handelsunternehmen dazu über, diese Nachfrage zu befriedigen. Es sei auch rechtlich und technisch unproblematisch möglich, Einzelhandel mit Dienstleistungen zu betreiben. Beispielsweise böten die Drogeriemarktketten den Verbrauchern im eigenen Namen Fotoentwicklungsdienstleistungen an, bei denen die Verbraucher wählen könnten, von welchem Labor die Arbeiten erbracht werden sollen. Auf diese Weise stelle der Drogeriemarkt ein Sortiment von Dienstleistungen zusammen, welches die Verbraucher veranlassen solle, den Dienstleistungsvertrag mit diesem Händler statt mit einem seiner Mitbewerber abzuschließen. Insoweit bestehe eine Analogie zum Einzelhandel mit Waren. Es sei damit zu rechnen, dass dieser Trend anhalte und sich noch verstärke. Dieser Umstand müsse bei der Fassung eines zukunftsgerichteten Dienstleistungsverzeichnisses berücksichtigt werden können. Zudem sei das identische Wort-/Bildzeichen am 16. Mai 2007 mit einer vergleichbaren Dienstleistungsangabe unter dem Aktenzeichen 307 06 244 bereits eingetragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
Der Erfolg der nach § 66 Abs. 1 i. V. m. § 64 Abs. 6 MarkenG statthaften und zulässigen Beschwerde hängt von der Auslegung des Art. 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken vom 22. Oktober 2008 (ABl.-EU Nr. L 299 vom 8. November 2008, S. 25) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
Gegenstand des anhängigen Verfahrens ist die Frage der hinreichenden Bestimmtheit eines Dienstleistungsverzeichnisses, in dem ein Zeichen für Einzel- und Großhandel mit näher bezeichneten Dienstleistungen angemeldet wird.
Die Frage der hinreichenden Bestimmtheit von Angaben im Verzeichnis der Waren und Dienstleistungen eines angemeldeten Zeichens unterliegt dem Gemeinschaftsrecht. Denn es handelt sich bei dieser Frage nicht um ein Problem des Eintragungsverfahrens, dessen Ausgestaltung nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie den einzelnen Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt, sondern um eine sachliche Voraussetzung des Erwerbs von Marken, für den nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie grundsätzlich gleiche Bedingungen in der Gemeinschaft zu gelten haben (vgl. EuGH GRUR 2005, 764, 766 Rdnr. 30 - 32 – Praktiker zur Vorläuferrichtlinie).
1.
Maßgebliche Rechtsvorschriften
Der Senat erachtet folgende Vorschriften für entscheidungserheblich:
a)
Internationales Recht
Auf internationaler Ebene gilt für das Markenrecht die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883, letztmalig revidiert am 14. Juli 1967 in Stockholm und geändert am 28. September 1979 (Recueil des traités des Nations unies, Bd. 828, Nr. 11851, S. 305, nachfolgend Pariser Verbandsübereinkunft). Dieser Übereinkunft sind alle Mitgliedstaaten beigetreten.
Nach Art. 19 der Pariser Verbandsübereinkunft ist den Verbandsländern das Recht vorbehalten, einzeln untereinander Sonderabkommen zum Schutz des gewerblichen Eigentums zu treffen.
Diese Vorschrift diente als Grundlage für die Annahme des in der diplomatischen Konferenz von Nizza am 15. Juni 1957 geschlossenen Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken, letztmalig revidiert am 13. Mai 1977 in Genf und geändert am 28. September 1979 (Recueil des traités des Nations unies, Bd. 1154, Nr. I-18200, S. 89, nachfolgend Abkommen von Nizza). Art. 1 dieses Abkommens lautet:
„(1) Die Länder, auf die dieses Abkommen Anwendung findet, bilden einen besonderen Verband und nehmen eine gemeinsame Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken (nachfolgend Nizzaer Klassifikation) an.
(2) Die Klassifikation besteht aus
(i) einer Klasseneinteilung, gegebenenfalls mit erläuternden Anmerkungen;
(ii) einer alphabetischen Liste der Waren und Dienstleistungen … mit Angabe der Klasse, in welche die einzelne Ware oder Dienstleistung eingeordnet ist.
…“
Art. 2 („Rechtliche Bedeutung und Anwendung der Klassifikation“) des Abkommens von Nizza lautet:
„(1) Vorbehaltlich der sich aus diesem Abkommen ergebenden Verpflichtungen hat die Klassifikation die Wirkung, die ihr jedes Land des besonderen Verbandes beilegt. Insbesondere bindet die Klassifikation die Länder des besonderen Verbandes weder hinsichtlich der Beurteilung des Schutzumfangs der Marke noch hinsichtlich der Anerkennung der Dienstleistungsmarken.
(2) Jedes Land des besonderen Verbandes behält sich vor, die Klassifikation als Haupt- oder Nebenklassifikation anzuwenden.
(3) Die zuständigen Behörden der Länder des besonderen Verbandes werden in den Urkunden und amtlichen Veröffentlichungen über die Eintragung von Marken die Nummern der Klassen der Klassifikation angeben, in welche die Waren oder Dienstleistungen gehören, für welche die Marke eingetragen ist.
(4) Die Tatsache, dass eine Benennung in die alphabetische Liste [der Waren und Dienstleistungen] aufgenommen ist, berührt in keiner Weise die Rechte, die an dieser Benennung etwa bestehen.“
Die Nizzaer Klassifikation wird vom Internationalen Büro der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) verwaltet. Seit dem 1. Januar 2002 sieht diese Klassifikation eine Klasseneinteilung in 34 Warenklassen und 11 Dienstleistungsklassen vor. Jede Klasse ist mit einem oder mehreren für gewöhnlich „Klassenüberschrift“ genannten Oberbegriffen bezeichnet, die allgemein die Bereiche angeben, zu denen die Waren oder Dienstleistungen dieser Klasse grundsätzlich gehören.
Gemäß der Anleitung für den Benutzer zur Nizzaer Klassifikation sind für eine zutreffende Einordnung jeder Ware oder Dienstleistung die alphabetische Liste der Waren und Dienstleistungen und die erläuternden Anmerkungen zu den einzelnen Klassen zu konsultieren. Kann eine Ware oder eine Dienstleistung mit Hilfe der Klasseneinteilung, der erläuternden Anmerkungen oder der alphabetischen Liste der Waren und Dienstleistungen nicht eingeordnet werden, so sind die anzuwendenden Kriterien den allgemeinen Bemerkungen zu entnehmen.
Die durch dieses Abkommen eingeführte Klassifikation in der seit dem 1. Januar 2007 gültigen 9. Ausgabe – identisch beibehalten in der 10., ab dem 1. Januar 2012 gültigen Ausgabe – beschreibt die Klasse 35, die Dienstleistungen betrifft, wie folgt:
„Werbung;
Geschäftsführung;
Unternehmensverwaltung;
Büroarbeiten.“
In der erläuternden Anmerkung zu dieser Klasse heißt es:
„ …
Diese Klasse enthält insbesondere:
das Zusammenstellen verschiedener Waren (ausgenommen deren Transport) für Dritte, um den Verbrauchern Ansicht und Erwerb dieser Waren zu erleichtern; diese Dienstleistungen können von Einzelhandelsgeschäften, Großhandelsverkaufsstellen durch Versandkataloge oder mit Hilfe elektronischer Medien, z. B. über Websites oder Teleshopping-Sendungen, erbracht werden;
…“.
b)
Unionsrecht
Art. 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken vom 22. Oktober 2008 (ABl.-EU Nr. L 299 vom 8. November 2008, S. 25, nachfolgend Richtlinie), die die Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1) ersetzt, bestimmt:
„Marken können alle Zeichen sein, die sich grafisch darstellen lassen, insbesondere Wörter einschließlich Personennamen, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen und die Form oder Aufmachung der Ware, soweit solche Zeichen geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden.“
Dieser Vorschrift entspricht inhaltlich die Bestimmung des § 3 Abs. 1 des deutschen Markengesetzes vom 25. Oktober 1994 (nachfolgend MarkenG).
Nach dem dreizehnten Erwägungsgrund der Richtlinie ist es erforderlich, dass sich deren Vorschriften mit denen der Pariser Verbandsübereinkunft, durch die alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gebunden sind, in vollständiger Übereinstimmung befinden.
c)
Nationales Recht
§ 32 Abs. 3 MarkenG hat folgenden Wortlaut:
„Die Anmeldung muss den weiteren Anmeldungserfordernissen entsprechen, die in einer Rechtsverordnung nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 bestimmt worden sind.
§ 65 Abs. 1 Nr. 2 MarkenG lautet:
„Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates … weitere Erfordernisse für die Anmeldung von Marken zu bestimmen, …“
„Die Waren und Dienstleistungen sind so zu bezeichnen, dass die Klassifizierung jeder einzelnen Ware oder Dienstleistung in eine Klasse der Klasseneinteilung nach § 19 Abs. 1 möglich ist.“
§ 19 Abs. 1 MarkenV lautet:
„Die Klassifizierung der Waren und Dienstleistungen richtet sich nach der in der Anlage 1 zu dieser Verordnung enthaltenen Klasseneinteilung von Waren und Dienstleistungen.“
Anlage 1 (zu § 19 Abs. 1 MarkenV) entspricht in Klasse 35 inhaltlich der bereits zitierten Nizzaer Klassifikation der Klasse 35.
§ 36 Abs. 4 MarkenG bestimmt:
Werden sonstige Mängel innerhalb einer vom Patentamt bestimmten Frist nicht beseitigt, so weist das Patentamt die Anmeldung zurück.
2.
Zur ersten Frage: Einzelhandel mit Dienstleistungen als mögliche Dienstleistung im Sinne von Art. 2 der Richtlinie
a)
Weder Art 2 der Richtlinie noch § 3 Abs. 1 MarkenG enthalten eine gesetzliche Definition des dort verwendeten Begriffs „Dienstleistungen“.
b)
Anhaltspunkte für die Bestimmung des markenrechtlichen Dienstleistungsbegriffs können sich aus der Zwecksetzung der Markenrichtlinie ergeben.
Die Erwägungsgründe der Richtlinie nehmen ausdrücklich Bezug auf die in Art. 3 des Vertrages über die Europäische Union (ex-Art. 2 EUV) enthaltenen Zielsetzungen der Gewährleistung eines freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs sowie des Schutzes vor Wettbewerbsverfälschungen im Gemeinsamen Markt. Ein wesentlicher Bestandteil der Verwirklichung dieser Ziele ist der Schutz wirtschaftlicher Leistungen. Daraus folgt, dass allen wirtschaftlichen Leistungen der Markenschutz offen stehen muss.
c)
Eine gemeinschaftsrechtliche Definition der „Dienstleistung“ findet sich in Art. 57 (ex-Art. 50 EUV) des am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 9. Mai 2008 (ABl. EG Nr. C 115, S. 47, nachfolgend AEUV), die lautet:
„Dienstleistungen im Sinne der Verträge sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Als Dienstleistungen gelten insbesondere:
gewerbliche Tätigkeiten,
kaufmännische Tätigkeiten,
handwerkliche Tätigkeiten,
freiberufliche Tätigkeiten. …“
Dieser Dienstleistungsbegriff ist ein im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit als einer der vier von der Europäischen Union gewährleisteten Grundfreiheiten des Binnenmarktes genuin gemeinschaftsrechtlicher Begriff (Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2012, Art. 57 Rdnr. 32). Danach sind entscheidende Merkmale einer Dienstleistung die Nichtkörperlichkeit und regelmäßige Entgeltlichkeit der Leistung, ihr vorübergehender Charakter und die Selbständigkeit des Dienstleistungserbringers. In Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit bezieht sich die Dienstleistungsfreiheit auf den Austausch nicht-körperlicher Leistungen (Grabitz/Hilf/Nettesheim, a. a. O. Rdnr. 35). Das Merkmal der selbständigen Leistung dient der Abgrenzung gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Grabitz/Hilf/Nettesheim, a. a. O. Rdnr. 40). Der vorübergehende Charakter ergibt sich daraus, dass nach Art. 57 Abs. 3 AEUV in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer über keine dauerhafte Niederlassung im Mitgliedstaat verfügen muss, in dem er seine Leistung erbringt. Das „Wesensmerkmal“ des Entgelts wird vom Europäischen Gerichtshof darin gesehen, dass es die „wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung“ darstellt (EuZW 2008, 152 Rdnr. 29). Der Zusatz „in der Regel“ bedeutet, dass eine Dienstleistung im Sinne des Art. 57 Abs. 1 AEUV nur dann vorliegt, wenn über den Einzelfall einer ausnahmsweisen Unentgeltlichkeit hinaus eine entsprechende Leistung generell vergütet wird (Grabitz/Hilf/Nettesheim, a. a. O. Rdnr. 47; Calliess/Ruffert/Kluth, EUV/AEUV, 2011, Rdnr. 13).
d)
Eine Definition des markenrechtlichen Dienstleistungsbegriffs im Sinne von Art. 2 der gleichlautenden Vorgängerrichtlinie (Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABL. EG 1989 Nr. L 40, S. 1 ff.) hat auch der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung zu „Praktiker“ (GRUR 2005, 764, 766 Rdnr. 33 ff.) mit Ausnahme des Hinweises auf den Dienstleistungsbegriff des Art. 57 AEUV bzw. Art. 50 EUV unter Hervorhebung dessen Merkmals der regelmäßigen Entgeltlichkeit nicht vorgenommen. Ferner hat er bestätigt, dass die Markenrichtlinie keine Voraussetzungen hinsichtlich der Eintragung einer Dienstleistung enthalte. Er hat es deshalb zwar als seine Aufgabe angesehen, eine einheitliche gemeinschaftsrechtliche Auslegung des markenrechtlichen Begriffs der Dienstleistung vorzunehmen, dabei hat er sich aber darauf beschränkt, festzustellen, dass dieser auch Dienstleistungen umfasse, die im Rahmen des Einzelhandels mit Waren erbracht werden. Da der Zweck des Einzelhandels im Verkauf von Waren an den Verbraucher bestehe, umfasse dieser Handel neben dem Rechtsgeschäft des Kaufvertrags die gesamte Tätigkeit, die ein Wirtschaftsteilnehmer entfalte, um zum Abschluss eines solchen Geschäftes anzuregen. Diese Tätigkeit bestehe insbesondere in der Auswahl eines Sortiments von Waren, die zum Verkauf angeboten werden, und im Angebot verschiedener Dienstleistungen, die einen Verbraucher dazu veranlassen sollen, den Kaufvertrag mit diesem Händler statt mit einem seiner Wettbewerber abzuschließen. Weder aus der Richtlinie noch aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ergebe sich ein zwingender Grund dagegen, diese Leistungen unter den Begriff „Dienstleistungen” im Sinne der Richtlinie zu fassen und dem Händler damit das Recht zu geben, durch die Eintragung den Schutz seiner Marke als Hinweis auf die Herkunft der von ihm erbrachten Dienstleistungen zu erlangen. Diese Erwägung werde in der erläuternden Anmerkung zu Klasse 35 der Nizzaer Klassifikation veranschaulicht, die „das Zusammenstellen verschiedener Waren … für Dritte, um den Verbrauchern Ansicht und Erwerb dieser Waren zu erleichtern”, beinhalte.
Von der Einzelhandelsdienstleistung im Sinne dieser EuGH-Entscheidung werden daher nicht der bloße Verkauf bzw. Vertrieb einer Ware, also der „Kernbereich” des Verkaufsvorgangs, sondern nur die spezifischen Tätigkeiten erfasst, die von Einzelhändlern in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Angebot und Vertrieb von Waren erbracht werden und mit denen sich der Einzelhändler in direkten Wettbewerb zu anderen Einzelhändlern begibt. Das sind die Auswahl eines Sortiments von Waren, die zum Verkauf angeboten werden, und das Angebot verschiedener Dienstleistungen, die einen Verbraucher dazu veranlassen sollen, den Kaufvertrag mit diesem Händler statt mit einem seiner Wettbewerber abzuschließen. Nicht unter diesen Dienstleistungsbegriff fallen daher sonstige Aktivitäten, die lediglich anlässlich des Warenvertriebs oder neben dem Einzelhandel erfolgen und nicht nur Einzelhändlern vorbehalten sind, sondern in erster Linie zum Tätigkeitsbereich anderer Wirtschaftsbereiche gehören. Das gilt z. B. für die Vermittlung von Kredit- und Versicherungsverträgen, Reparatur von Waren, Reisevermittlung oder die Verköstigung von Käufern. Mit solchen Leistungen tritt der Einzelhändler nicht in Wettbewerb zu anderen Einzelhändlern, sondern in Konkurrenz zu Banken, Versicherungen, Reisebüros, Gaststätten usw. Insoweit werden daher nicht „Einzelhandelsdienstleistungen”, sondern Leistungen wie „Geldgeschäfte”, „Versicherungswesen”, „Reparaturwesen”, „Veranstaltung von Reisen”, „Verpflegung von Gästen” usw. erbracht, für die jeweils ein eigenständiger Markenschutz vorgesehen ist, was durch ihre ausdrückliche Einordnung in meist andere Klassen der Klassifikation, etwa die Klassen 36, 37, 39 und 43, belegt wird. Wer für solche Dienstleistungen den Markenschutz begehrt, muss seine angemeldete Dienstleistungsmarke ausdrücklich darauf beziehen; er kann nicht davon ausgehen, dass mit einer Einzelhandelsdienstleistungsmarke dieser Bereich abgedeckt ist (vgl. BPatG GRUR 2006, 63, 65; Grabrucker, MarkenR 2002, 361, 365; Ströbele GRUR Int 2008, 719, 722).
Zu der vorliegenden Frage, ob der Händler nach Art. 2 der Richtlinie auch für Einzelhandel mit Dienstleistungen markenrechtlichen Schutz erhalten kann, hat der Europäische Gerichtshof sich weder in seiner „Praktiker“-Entscheidung noch zu einem späteren Zeitpunkt geäußert. Auch die europäischen und nationalen Vorschriften geben darauf keine Antwort. In der nationalen Rechtsprechung gibt es ebenfalls keine Entscheidung dazu.
Der Senat neigt zu der Auffassung, dass sich hier weder aus der Richtlinie noch aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ein zwingender Grund dagegen ergibt, den Einzelhandel mit Dienstleistungen unter den Begriff „Dienstleistungen” im Sinne der Richtlinie zu fassen und damit dem Händler grundsätzlich Markenschutz für den Einzelhandel mit Dienstleistungen zu gewähren.
Denn unter den Begriff des Handels lässt sich nach Ansicht des Senats nicht nur der Vertrieb von Waren, sondern auch derjenige mit Dienstleistungen subsumieren.
e)
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht übernimmt der Handel in einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft die Aufgabe, räumliche, zeitliche, qualitative und quantitative Diskrepanzen zwischen der Produktion und der Konsumtion auszugleichen. In diesem weit gefassten Verständnis ist jeder Austausch von Gütern und Dienstleistungen Handel bzw. Distribution, unabhängig davon, welche Betriebe ihn durchführen (= funktioneller Handel im weiteren Sinne). In der Wirtschaftspraxis verengt sich der Handelsbegriff auf bewegliche Sachgüter (= funktioneller Handel im engeren Sinne), wobei aber nicht ausgeschlossen ist, dass er sich auch auf alle übrigen Realgüter, also auch Dienstleistungen, beziehen kann. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dieser Frage hat im betriebswirtschaftlichen Schrifttum bislang noch nicht stattgefunden (Oberhardt, Die Handelsdienstleistungsmarke, 2006, Rdnr. 46 – 48). Übereinstimmung besteht jedoch darin, dass unter funktionellem Handel im engeren Sinne Folgendes verstanden wird: die Beschaffung bzw. der Kauf beweglicher Sachgüter (Waren) von Dritten und der Verkauf bzw. Absatz an Dritte im eigenen Namen für eigene Rechnung und bei Tragung des vollen unternehmerischen Risikos, ohne dass die Waren be- oder verarbeitet werden (Häberle, Das neue Lexikon der Betriebswirtschaftslehre, Band F-M, 2008, S. 532 f.; Gabler, Wirtschaftslexikon, 17. Aufl. 2010, S. 1368; Schneck, Lexikon der Betriebswirtschaft, 8. Aufl. 2011, S. 454, 445; Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 29, 50, 58, 66 ff.).
Dabei richtet sich der Einzelhandel ausschließlich an nicht-gewerbliche Kunden, also den Endverbraucher (http://de.wikipedia.org/wiki/Einzelhandel; Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 36), während der Großhandel sich an gewerbliche Kunden, also Wiederverkäufer, Weiterverarbeiter, gewerbliche Verwender oder sonstige Institutionen wendet (Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 33).
Auch wenn in der Praxis beim Handelsbegriff in erster Linie auf den Austausch von Sachgütern (Warenhandel) abgestellt wird, ändert dies nichts daran, dass auch der Austausch von Dienstleistungen unter den funktionellen Handelsbegriff im weiteren Sinne fällt.
f)
Hinzu kommt, dass in der Volkswirtschaftslehre als Dienstleistungen alle Wirtschaftsleistungen angesehen werden, die nicht in der Herstellung von Urprodukten oder Waren bestehen (Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2012, Art. 57 Rdnr. 32; Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 80).
g)
In der markenrechtlichen Literatur wird ebenfalls die Auffassung vertreten, dass Marken für jede wirtschaftliche Tätigkeit angemeldet werden können, wobei davon ausgegangen wird, dass diese mit einem selbständigen Wert verbunden ist (Fezer, Markenrecht, 4. Aufl., § 3 Rdnr. 261; Ingerl/Rohnke, MarkenG, 3. Aufl. § 3 Rdnr. 19; Ströbele/Hacker/Kirschneck, MarkenG, 10. Aufl., § 3 Rdnr. 13).
h)
Ferner werden aufgrund von Veränderungen der gesellschaftlichen, ökonomischen, wettbewerblichen und technischen Umweltbedingungen etablierte Handelsformen ständig angepasst und neue Betriebsformen herausgebildet. Den modernen Handel zeichnet daher ein rasanter Strukturwandel und eine Dynamik aus wie kaum einen anderen Wirtschaftsbereich (http://de.wikipedia.org/wiki/Handel; http://www.economia48.com/deu/d/handel.htm; vgl. auch: Zukunftsletter 03/2013 S. 7). Dies führt dazu, dass nicht mehr nur bewegliche Sachgüter (Waren) im Vordergrund des Interesses der am Handel Beteiligten stehen, sondern auch immer stärker Dienstleistungen. Eine solche Entwicklung lässt sich gerade auch im Bereich des nationalen und europäischen Einzelhandels beobachten, z. B. bei den traditionellen Lebensmittel-Discountern und Supermärkten sowie den großen Kaufhausketten. Bei ihnen kann man über den Warenerwerb hinaus inzwischen eine Vielzahl verschiedener Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen dem Handel mit Dienstleistungen und der bloßen Vermittlung von Dienstleistungen.
aa)
Die Handelstätigkeit zeichnet sich aus durch die Auswahl eines Sortiments von Gütern, die von Dritten beschafft und nicht be- oder verarbeitet werden, sowie deren entgeltliche Überlassung an Dritte im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko.
bb)
Sofern der Händler bei seinem Angebot von Dienstleistungen nur die Funktion des Absatzhelfers oder Maklers übernimmt, also in fremdem Namen und für fremde Rechnung tätig wird, oder als Kommissionär zwar in eigenem Namen aber auf fremde Rechnung Güter veräußert, handelt es sich nicht um eine Handelstätigkeit, weil es an der Übernahme des vollen unternehmerischen Risikos fehlt. Mit solchen Makler- und Vermittlungsdienstleistungen tritt der Händler nicht in Wettbewerb zu anderen Händlern. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Lebensmitteldiscounter Reisen von verschiedenen Reiseveranstaltern anbietet, der Kunde aber den Reisevertrag direkt mit dem Reiseveranstalter abschließt. Für sie ist ein eigenständiger Markenschutz vorgesehen, so dass sie nicht von einer Handelsdienstleistungsmarke mitabgedeckt werden können.
i)
Ein (Einzel-)Handel mit Dienstleistungen setzt, um dem Vergleich mit der vom Europäischen Gerichtshof anerkannten Einzelhandelsdienstleistungsmarke für Waren standhalten zu können, voraus, dass der Händler seinen Kunden mehrere verschiedene Dienstleister nach bestimmten Kriterien, wie etwa besondere Qualität, Schnelligkeit, Vertrauenswürdigkeit etc., oder mehrere verschiedene Dienstleistungen nach Bedarfsgesichtspunkten aussucht, dieses „Sortiment“ seinen Kunden anbietet und der Vertrag über die vom Kunden ausgewählte Dienstleistung nur mit dem Händler zustande kommt. Bei dieser Konstellation ist der Händler dann nicht nur Vermittler zwischen Kunden und externen Dienstleistern, sondern unmittelbarer Vertragspartner des Kunden. Diese Handelsdienstleistung erspart dem Kunden wie beim bereitgestellten Warensortiment Zeit und Anstrengung bei der Suche nach einem geeigneten Dienstleister und ermöglicht ihm, Dienstleistungen über den ihm bereits vertrauten Händler bequem und zielgerichtet in Anspruch zu nehmen.
Tatsächlich verlangen es die Kunden zunehmend, auch Dienstleistungen „aus einer Hand“ erwerben zu können, um bei einem ausgesuchten Händler ihres Vertrauens auch ihren Dienstleistungsbedarf befriedigen zu können. Auch wenn ein solcher Handel mit Dienstleistungen auf dem deutschen Markt noch nicht sehr gängig zu sein scheint – überwiegend handelt es sich bei den Dienstleistungsangeboten der Lebensmitteldiscounter oder Internetshops um eigenständig markenrechtlich zu schützende Vermittlungsdienstleistungen –, gibt es doch schon einige Beispiele für einen Einzelhandel mit Dienstleistungen, wie der Senat bei seiner Recherche festgestellt hat.
Ein Beispiel sind Fotodienstleistungen bei den deutschen Drogeriemarktketten „Müller“ und „dm“. Der Kunde, der seine Fotos im Ladengeschäft bestellen will, kann zwischen verschiedenen Fotoentwicklungslaboren auswählen, die Entwicklung seiner Fotos beim ausgewählten Labor im Ladengeschäft bestellen, die entwickelten Fotos dort abholen und dort bezahlen. Ferner hat der Kunde bei identischem Erwerbsvorgang auch die Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern für die Erstellung von Fotobüchern.
Ein weiteres Beispiel ist der Online-Shop der m… GmbH unter www.mobilcom-debitel.de, die ihren Kunden Mobilfunkdienste von vier verschiedenen Telekommunikationsunternehmen, nämlich Telekom, Vodafone, O2 und E-Plus, anbietet, zur Verfügung und in Rechnung stellt. Den Verkauf von prepaid-Karten verschiedener Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen führen auch schon der Drogeriemarkt „Rossmann“ und der Lebensmitteldiscounter „Lidl“ durch.
Der Kunde profitiert hier also von der Zusammenstellung des Angebots verschiedener Dienstleister durch den Händler und schließt den Vertrag über die Erbringung der Dienstleistung mit dem Händler und nicht mit dem Dienstleistungsunternehmen ab.
Eine solche Entwicklung ist auch in anderen Ländern der EU zu erkennen. Bei der französischen Kette für Unterhaltungsmedien FNAC DIRECT SA können u. a. sog. „coffrets cadeau“ (Geschenkboxen) verschiedener Marken wie Smartbox, Euphorie oder Gault & Millau (www.fnac.com) erworben werden, mit denen Dienstleistungen anderer von FNAC ausgewählter Unternehmen, z. B. ein Restaurantbesuch, ein Fallschirmsprung oder ein Aufenthalt in einem Wellnesshotel, verbunden sind.
In allen geschilderten Beispielen stellt der jeweilige Händler ein Sortiment von Dienstleistern oder Dienstleistungen zusammen, welches den Verbraucher veranlassen soll, den Dienstleistungsvertrag mit diesem Händler statt mit einem seiner Mitbewerber abzuschließen. Die Situation entspricht somit derjenigen beim Einzelhandel mit Waren.
Soweit die Literatur sich bisher überhaupt mit diesem Thema befasst hat, wird die Auffassung vertreten, dass ein (Einzel-)Handel mit Dienstleistungen nicht möglich sei. Die Immaterialität der Dienstleistung bedinge, dass sie nicht von ihrer Erbringung getrennt und daher nicht wie ein Sachgut distribuiert und gelagert werden könne (Fuchs, Die Marke des Einzelhandels, Dissertation 2006, S. 146, 147 m. w. N.). Der Senat hält diese Begründung schon angesichts der bereits aufgezeigten Entwicklung für nicht überzeugend. Es leuchtet zudem nicht ein, warum der Einzelhändler seinen Kunden nicht auch eine Palette von Dienstleistungen anbieten können soll, die der Kunde bei ihm auswählen und bei ihm bezahlen kann und die dann von dem ausgewählten Dienstleister dem Kunden gegenüber erbracht wird.
Aber selbst wenn in der Wirtschaftspraxis ein Einzelhandel mit Dienstleistungen bislang noch wenig stattfindet, besteht doch angesichts der vorliegenden Anmeldung, die zumindest die Absicht des Anmelders belegt, einen solchen einzuführen, die theoretische Möglichkeit einer solchen Dienstleistung, gegen deren markenrechtlichen Schutz nach Ansicht des Senats weder aus der Richtlinie noch aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ein zwingender Grund angeführt werden kann.
Darüber hinaus erwecken viele Lebensmitteldiscounter, wie z. B. Lidl, EDEKA, REWE, ALDI SÜD, Penny und Plus, die in den in ihren Verkaufsstätten ausliegenden Reiseprospekten und/oder online eine Auswahl von Reisen und Reiseveranstaltern präsentieren, beim Durchschnittsverbraucher zumindest den Anschein, sie böten in ihrem Einzelhandel auch Reisedienstleistungen an (www.lidl-reisen.de, www.reisen-edeka.de, www.rewe-reisen.de, www.aldi-reisen.de, www.penny-reisen.de, www.plus-reisen.de). Erst beim Lesen des Kleingedruckten bzw. der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird erkennbar, dass die Lebensmitteldiscounter - teilweise unter Zwischenschaltung einer Vermittlungsfirma - nur Vermittlungsdienstleistungen erbringen und die Reiseverträge mit dem jeweiligen Reiseveranstalter zustande kommen. Diese Marktgegebenheiten belegen jedoch, dass für das Einzelhandelsangebot von Dienstleistungen „aus einer Hand“ ein Bedürfnis und Interesse besteht. Ferner ist auch an die Möglichkeit eines künftig verstärkten Handels mit IT-Dienstleistungen in sog. App Stores zu denken, die einzubeziehen der Senat angesichts des verfahrensgegenständlichen Dienstleistungsverzeichnisses allerdings keinen Anlass hat.
Vor diesem Hintergrund hat die Frage des Markenschutzes für den Einzelhandel mit Dienstleistungen jedenfalls grundsätzliche Bedeutung und bedarf einer höchstrichterlichen europäischen Klärung.
3.
Zur zweiten Frage: Notwendigkeit einer inhaltlichen Konkretisierung der Einzelhandelsdienstleistung mit Dienstleistungen durch Angabe allgemeiner Bereiche oder Oberbegriffe, Klassenziffern oder durch konkrete Bezeichnung jeder einzelnen Dienstleistung.
Da sich der Einzelhandel mit Waren vom Einzelhandel mit Dienstleistungen nur im Hinblick auf das handelbare Gut unterscheidet, ist aufgrund der notwendigen Gleichbehandlung nach der „Praktiker“-Entscheidung (GRUR 2005, 767 Rdnr. 50 - 52) auch beim Einzelhandel mit Dienstleistungen vom Anmelder zu verlangen, dass er die Dienstleistungen oder deren Arten, auf die sich die Einzelhandelsdienstleistung bezieht, mittels näherer Angaben konkretisiert. Dabei hat der Europäische Gerichtshof im „Praktiker“-Urteil die Angabe eines allgemeinen Bereichs und die Verwendung von Oberbegriffen, nämlich „Einzelhandel mit Bau-, Heimwerker- und Gartenartikeln und anderen Verbrauchsgütern für den Do-it-yourself-Bereich“ ausreichen lassen (a. a. O. Rdnr. 50 mit Verweis auf Rdnr. 11 – Praktiker).
Im Hinblick auf seine Entscheidung vom 19. Juni 2012 zu „IP TRANSLATOR“ (GRUR Int. 2012, 749 ff.) ist derzeit unklar, ob er die in der „Praktiker“-Entscheidung geäußerte Auffassung zu den näheren Angaben der gehandelten Güter vom EuGH beibehalten wird. Nach dem IP TRANSLATOR-Urteil steht die Richtlinie der Verwendung von Oberbegriffen, die in den Klassenüberschriften der Nizzaer Klassifikation enthalten sind, zur Angabe von Waren und Dienstleistungen, für die der Schutz der Marke beantragt wird, nicht entgegen, sofern diese Angabe hinreichend klar und eindeutig ist (GRUR Int 2012, 749, 753 Rdnr. 56, 64). Die anmeldende Person, die alle Oberbegriffe der Überschrift einer bestimmten Klasse der Nizzaer Klassifikation verwende, müsse daher klarstellen, ob sich die Anmeldung auf alle oder nur auf einige der in der alphabetischen Liste der betreffenden Klasse aufgeführten Waren oder Dienstleistungen beziehen solle. Wenn sie sich nur auf einige Waren oder Dienstleistungen beziehe, müsse angegeben werden, welche Waren oder Dienstleistungen dieser Klasse beansprucht werden (a. a. O. Rdnr. 61, 62, 64 – IP TRANSLATOR).
Die Frage, ob es genügen könnte, die Waren oder Dienstleistungen, mit denen Handel getrieben werden soll, nur durch Angabe der Klassenziffer(n) zu bezeichnen, wenn alle in der alphabetischen Liste der betreffenden Klasse(n) aufgeführten Waren oder Dienstleistungen erfasst sein sollen, ist bisher ebenfalls noch nicht beantwortet worden.
Zur Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage, in welcher Art und Weise eine inhaltliche Konkretisierung der Einzelhandelsdienstleistung mit Dienstleistungen vorgenommen werden muss, ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen daher erforderlich.
4.
Zur dritten Frage, ob sich der Schutzumfang der Einzelhandelsmarke auch auf Dienstleistungen erstreckt, die der Einzelhändler selbst erbringt (sog. Eigenstore oder Flagship Store)
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner „Praktiker“-Entscheidung keine Aussage darüber getroffen, ob unter den Schutz der Einzelhandelsmarke nur der Einzelhandel mit Fremdwaren oder auch derjenige mit eigenen Produkten, z. B. in sog. Flagship Stores, fällt.
Im nationalen Schrifttum, ohne dass es dazu bislang Rechtsprechung gibt, wird das „Praktiker“-Urteil aber dahingehend ausgelegt, dass der Einzelhandel sich entweder ausschließlich (Ströbele GRUR Int. 2008, 719, 722) oder zumindest schwerpunktmäßig (Fuchs, a. a. O., S. 118 ff, 123; Grabrucker GRUR 2001, 623, 627; Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 613 f.) auf Waren aus fremder Produktion beziehen müsse, um als solcher markenmäßig geschützt werden zu können. Dies wird damit begründet, dass Eigenprodukte bereits durch die warenbezogene Herstellermarke Schutz erhalten und es nicht möglich sei, innerhalb desselben wirtschaftlichen Tätigkeitsbereichs für ein und dieselbe Handlung gegenüber denselben Adressaten gleichzeitig eine Waren- und eine Dienstleistungsmarke zu erhalten. Der Handel mit Eigenprodukten stelle nur eine Hilfsdienstleistung zur Warenherstellung dar. Eine derartige „Doppelschutzmarke“ sei daher unzulässig (BPatGE 39, 70, 73 - SUMMIT; Grabrucker GRUR 2001, 623, 627 m. w. N.).
Der Senat ist der Ansicht, dass nur der Einzelhandel mit fremden Dienstleistungen markenfähig ist. Dies ergibt sich schon aus der betriebswirtschaftlichen Definition des Handels im funktionellen Sinne. Denn Handelstätigkeit setzt gerade die Güterbeschaffung von Dritten voraus. Sortimentszusammenstellung bedeutet daher, dass der Händler Dienstleistungen von mindestens einem Anbieter bezieht, der in seiner Rechtspersönlichkeit von der des Händlers verschieden ist (Oberhardt, a. a. O., Rdnr. 598).
Nach Auffassung des Senats erstreckt sich der Schutzumfang einer Marke für (Einzel-)Handel mit Dienstleistungen daher nur auf eine Wirtschaftstätigkeit, bei der der Händler fremde Dienstleistungen auswählt und anbietet.
Da aber auch diese Streitfrage noch nicht vom Europäischen Gerichtshof entschieden worden ist, bedarf es auch insoweit einer entsprechenden Vorlage.
5.
Der Senat neigt dazu, die Beschwerde der Anmelderin als begründet anzusehen.
Das von der Markenstelle angenommene Eintragungshindernis einer nicht hinreichend bestimmten Angabe im Verzeichnis der Waren und Dienstleistungen gemäß §§ 32 Abs. 3, 65 Abs. 1 Nr. 2 MarkenG i. V. m. § 20 Abs. 1 MarkenV besteht nach Ansicht des Senats nicht.
Die angemeldeten Einzelhandelsdienstleistungen mit Dienstleistungen sind so klar und eindeutig bezeichnet, dass die für die Prüfung zuständige Behörde und die Wirtschaftsteilnehmer allein auf dieser Grundlage den Schutzumfang der Marke erkennen können (EuGH a. a. O. Rdnr. 49 – IP TRANSLATOR). Dabei müssen nicht zwingend die Bezeichnungen der Klassifikation von Nizza verwendet werden. Diese Bezeichnungen „sollen“ zwar verwendet werden (§ 20 Abs. 2 Satz 1 MarkenV). Es können aber auch in der Klassifikation von Nizza nicht enthaltene, aber verkehrsübliche Bezeichnungen verwendet werden (§ 20 Abs. 2 Satz 2 MarkenV). Das vorliegende Dienstleistungsverzeichnis genügt diesen Anforderungen.
Wie bereits eingehend dargelegt, kann der Handel mit Waren dem Handel mit Dienstleistungen gleichgestellt werden. Die Handelsdienstleistung unterscheidet sich hier nur durch den Bezugsgegenstand. Alle Tätigkeiten, die in der Nizzaer Klassifikation in Klasse 35 zur Beschreibung des Handels mit Waren aufgeführt werden, nämlich das Zusammenstellen verschiedener Güter für Dritte, um den Verbrauchern Ansicht und Erwerb dieser Güter zu erleichtern, wobei diese Dienstleistungen von Einzelhandelsgeschäften, Großhandelsverkaufsstellen durch Versandkataloge oder mit Hilfe elektronischer Medien, z. B. über Websites oder Teleshopping-Sendungen, erbracht werden können, lassen sich auf den Handel mit Dienstleistungen übertragen. Deshalb wird eine Eingruppierung des Handels mit Dienstleistungen in diese Klasse im Wege einer Analogie befürwortet.
Die vorliegende Anmeldung erfüllt nach Ansicht des Senats auch die vom Europäischen Gerichtshof in seiner „Praktiker“-Entscheidung aufgestellten Konkretisierungserfordernisse im Hinblick auf die gehandelte Dienstleistung. Die beanspruchten „Dienstleistungen des Einzel- und Großhandels, insbesondere die Zusammenstellung verschiedener Dienstleistungen für Dritte, um den Verbrauchern den Erwerb dieser Dienstleistungen zu erleichtern, insbesondere auch durch Einzelhandelsgeschäfte, Großhandelsverkaufsstellen, über Versandkataloge oder elektronische Medien, z.B. Websites oder Teleshopping-Sendungen“ beziehen sich auf die konkret bezeichneten „Dienstleistungen: aus Klasse 35: Werbung, Geschäftsführung, Unternehmensverwaltung, Büroarbeiten; aus Klasse 36: Ausgabe von Gutscheinen oder Wertmarken; aus Klasse 39: Veranstaltung von Reisen; aus Klasse 41: Unterhaltung; aus Klasse 45: persönliche und soziale Dienstleistungen betreffend individuelle Bedürfnisse“. Diese grenzen den Bereich sowie das Sortiment der gehandelten Dienstleistungen eindeutig und klar ein (vgl. EuGH a. a. O. – IP TRANSLATOR).