Entscheidungsdatum: 16.01.2018
In der Beschwerdesache
…
betreffend die Markenanmeldung 30 2015 107 693.0
hat der 29. Senat (Marken-Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts am 16. Januar 2018 unter Mitwirkung der Vorsitzenden Richterin Dr. Mittenberger-Huber sowie der Richterinnen Akintche und Seyfarth
beschlossen:
Der Beschluss der Markenstelle für Klasse 35 des Deutschen Patent- und Markenamtes vom 30. Mai 2016 wird aufgehoben.
I.
Die Bezeichnung
W¡R
ist am 9. November 2015 zur Eintragung als Wortmarke in das beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) geführte Register für nachfolgende Waren und Dienstleistungen angemeldet worden:
Klasse 35: Werbung, Marketing und Verkaufsförderung; Kaufmännische Dienstleistungen und Verbraucherinformationsdienste, nämlich Auktions- und Versteigerungsdienste, Vermietung von Verkaufsautomaten, Vermittlungsdienstleistungen, Organisieren von Geschäftskontakten, Sammeleinkaufsdienste, kaufmännische Bewertungsdienste, Vorbereitung von Wettbewerben, Agenturgeschäfte, Import- und Exportdienste, Verhandlungs- und Vermittlungsdienste, Bestelldienste, Preisvergleichsdienste, Beschaffungsdienste für Dritte, Abonnementdienste, Einzel- und Großhandelsdienstleistungen in Bezug auf chemische Erzeugnisse, Anstrichmittel, Drogeriewaren, Kosmetikwaren und Haushaltswaren, Brennstoffe und Treibstoffe, Waren des Gesundheitssektors, Maschinen, Werkzeuge und Metallwaren, Bauartikel, Heimwerkerartikel und Gartenartikel, Hobbybedarf und Bastelbedarf, Elektrowaren und Elektronikwaren, Tonträger und Datenträger, sanitäre Anlagen, Fahrzeuge und Fahrzeugzubehör, Feuerwerkskörper, Uhren und Schmuckwaren, Musikinstrumente, Druckereierzeugnisse, Papierwaren und Schreibwaren, Büroartikel, Täschnerwaren und Sattlerwaren, Einrichtungswaren und Dekorationswaren, Zelte, Planen, Bekleidungsartikel, Schuhe und Textilwaren, Spielwaren, Sportwaren, Lebensmittel und Getränke, landwirtschaftliche Erzeugnisse, gartenwirtschaftliche Erzeugnisse und forstwirtschaftliche Erzeugnisse, Tabakwaren und sonstige Genussmittel; Hilfe in Geschäftsangelegenheiten, Geschäftsführung und administrative Dienstleistungen; betriebswirtschaftliche Analyse-, Recherche- und Informationsdienstleistungen; Verleih, Vermietung und Verpachtung von Gegenständen in Zusammenhang mit der Erbringung der vorgenannten Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten; Beratung und Information in Bezug auf vorgenannte Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten;
Klasse 38: Telekommunikationsdienste; Verleih, Vermietung und Verpachtung von Gegenständen in Zusammenhang mit der Erbringung der vorgenannten Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten; Beratung und Information in Bezug auf vorgenannte Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten;
Klasse 42: IT-Dienstleistungen, nämlich Entwicklung, Programmierung und Implementierung von Software, Entwicklung von Computerhardware, Hosting -Dienste, Software as a Service [SaaS] und Vermietung von Software, Vermietung von Computerhardware und -anlagen, IT- Beratungs-, Auskunfts- und Informationsdienstleistungen, IT-Sicherheits-, Schutz- und -Instandsetzungsdienste, Datenvervielfältigungs- und -konvertierungsdienste, Datenkodierungsdienste, Computeranalyse und -diagnostik, Forschung und Entwicklung sowie Implementierung von Computern und Computersystemen, Computerprojektmanagementdienste, Datamining, digitale Wasserzeichen, Computerdienste, technologische Dienste im Bezug auf Computer, Computernetzwerkdienste, Aktualisierung der Speicherbanken von Computersystemen, Datenmigrationsdienste, Aktualisierung von Websites für Dritte, Überwachung von Computersystemen durch Fernzugriff; wissenschaftliche und technologische Dienstleistungen; Prüfung, Authentifizierung und Qualitätskontrolle; Designdienstleistungen; Verleih, Vermietung und Verpachtung von Gegenständen in Zusammenhang mit der Erbringung der vorgenannten Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten; Beratung und Information in Bezug auf vorgenannte Dienstleistungen, soweit in dieser Klasse enthalten.
Mit Beschluss vom 30. Mai 2016 hat die Markenstelle für Klasse 35 die Anmeldung zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie auf ihren Beanstandungsbescheid vom 28. Januar 2016 verwiesen, zu dem der Anmelder keine Stellungnahme abgegeben hat. In dem Bescheid ist ausgeführt, dass dem Anmeldezeichen für alle beanspruchten Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG fehle. Bei dem um 180 Grad gedrehten Ausrufezeichen handle es sich um ein werbeübliches Gestaltungsmittel, so dass das angemeldete Zeichen „W¡R“ vom Verkehr mühelos als „WIR“ gelesen und verstanden werde. Bei diesem Personalpronomen handele es sich um eine lediglich werbende Anpreisung, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und die Aufmerksamkeit des Publikums erregen bzw. zur Inanspruchnahme der Dienstleistungen animieren solle. Angesichts der Sprachüblichkeit des Wortes „WIR“ und seiner häufigen Verwendung in der Werbesprache und vor allem wegen der überragenden sozialen Funktion dieses Wortes sei es nicht schutzfähig. Der angesprochene Verkehr werde der Bezeichnung infolge des im Vordergrund stehenden beschreibenden Aussagegehalts einen betriebsindividualisierenden Herkunftshinweis auf einen bestimmten Anbieter nicht entnehmen können.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Anmelders, mit der er sinngemäß beantragt,
den Beschluss der Markenstelle für Klasse 35 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 30. Mai 2016 aufzuheben.
Der Anmelder hat seine Beschwerde nicht begründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
Die nach §§ 66, 64 Abs. 6 MarkenG zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Der Eintragung der angemeldeten Bezeichnung W¡R als Marke stehen hinsichtlich der beanspruchten Dienstleistungen keine absoluten Schutzhindernisse gemäß §§ 37 Abs. 1, 8 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 MarkenG entgegen.
A) Dem Anmeldezeichen „W¡R“ kommt für die beanspruchten Dienstleistungen die erforderliche Unterscheidungskraft gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG zu.
1. Unterscheidungskraft im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ist die einer Marke innewohnende (konkrete) Eignung, vom Verkehr als Unterscheidungsmittel aufgefasst zu werden, das die in Rede stehenden Waren und Dienstleistungen als von einem bestimmten Unternehmen stammend kennzeichnet und diese Waren oder Dienstleistungen somit von denjenigen anderer Unternehmen unterscheidet (EuGH GRUR 2010, 228 Rn. 33 – Audi AG/ HABM [Vorsprung durch Technik]; GRUR 2008, 608 Rn. 66 f. – EUROHYPO; BGH GRUR 2016, 934 Rn. 9 – OUI; GRUR 2015, 173 Rn. 15 – for you; GRUR 2013, 731 Rn. 11 – Kaleido; GRUR 2012, 1143 Rn. 7 – Starsat). Denn die Hauptfunktion der Marke besteht darin, die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Waren und Dienstleistungen zu gewährleisten (EuGH a. a. O. – Audi AG/ HABM [Vorsprung durch Technik]; BGH a. a. O. – OUI; a. a. O. – for you). Da allein das Fehlen jeglicher Unterscheidungskraft ein Eintragungshindernis begründet, ist ein großzügiger Maßstab anzulegen, so dass jede auch noch so geringe Unterscheidungskraft genügt, um das Schutzhindernis zu überwinden (BGH a. a. O. – OUI; a. a. O. – for you). Ebenso ist zu berücksichtigen, dass der Verkehr ein als Marke verwendetes Zeichen in seiner Gesamtheit mit allen seinen Bestandteilen so aufnimmt, wie es ihm entgegentritt, ohne es einer analysierenden Betrachtungsweise zu unterziehen (EuGH GRUR 2004, 428 Rn. 53 – Henkel; BGH a. a. O. Rn. 10 – OUI; a. a. O. Rn. 16 - for you; BGH GRUR 2001, 1151 – marktfrisch; MarkenR 2000, 420 – RATIONAL SOFTWARE CORPORATION).
Maßgeblich für die Beurteilung der Unterscheidungskraft zum relevanten Anmeldezeitpunkt (BGH GRUR 2013, 1143 Rn. 15 – Aus Akten werden Fakten) sind einerseits die beanspruchten Waren oder Dienstleistungen und andererseits die Auffassung der beteiligten inländischen Verkehrskreise, wobei auf die Wahrnehmung des Handels und/oder des normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers der fraglichen Waren oder Dienstleistungen abzustellen ist (EuGH GRUR 2006, 411 Rn. 24 - Matratzen Concord/Hukla; GRUR 2004, 943 Rn. 24 – SAT 2; BGH WRP 2014, 449 Rn. 11 – grill meister).
Ausgehend hiervon besitzen Wortzeichen dann keine Unterscheidungskraft, wenn ihnen die angesprochenen Verkehrskreise lediglich einen im Vordergrund stehenden beschreibenden Begriffsinhalt zuordnen (EuGH GRUR 2004, 674, Rn. 86 – Postkantoor; BGH GRUR 2012, 1143 Rn. 9 – Starsat; GRUR 2012, 270 Rn. 11 – Link economy) oder die Zeichen sich auf Umstände beziehen, welche die beanspruchten Waren und Dienstleistungen zwar nicht unmittelbar betreffen, durch die aber ein enger beschreibender Bezug zu diesen hergestellt wird und die sich damit in einer beschreibenden Angabe erschöpfen (BGH GRUR 2014, 1204 Rn. 16 – DüsseldorfCongress; a. a. O. Rn. 16 – Gute Laune Drops; a. a. O. Rn. 23 – TOOOR!).
Ferner kommt die Eignung, Waren oder Dienstleistungen ihrer Herkunft nach zu unterscheiden, solchen Angaben nicht zu, die aus gebräuchlichen Wörtern oder Wendungen der deutschen oder einer bekannten Fremdsprache bestehen, die vom Verkehr - etwa auch wegen einer entsprechenden Verwendung in der Werbung - stets nur als solche und nicht als Unterscheidungsmittel verstanden werden (BGH GRUR 2016, 934 Rn. 12 – OUI; GRUR 2014, 872 Rn. 21 – Gute Laune Drops; GRUR 2014, 569 Rn. 26 – HOT; GRUR 2012, 1143 Rn. 9 – Starsat; GRUR 2012, 270 Rn. 11 – Link economy; GRUR 2010, 640 Rn. 13 – hey!; GRUR 2009, 952 Rn. 10 – DeutschlandCard).
2. Diesen vorgenannten Anforderungen an die Unterscheidungskraft gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG genügt das Anmeldezeichen W¡R. Selbst wenn das hier relevante Publikum das Zeichen ohne weiteres mit dem Personalpronomen „wir“ – gegebenenfalls mit verstärkter Aussagekraft im Sinne von „WIR!“ – gleichsetzen wird, wie es die Markenstelle angenommen hat, beinhaltet es in dieser Bedeutung aber weder eine Sachaussage noch kann festgestellt werden, dass das Zeichen von den angesprochenen Verkehrskreisen stets nur als Werbeaussage ohne Unterscheidungskraft aufgefasst wird.
a) Angesprochene Verkehrskreise sind hier je nach konkreter Dienstleistung der Fachverkehr, so beispielsweise im Bereich der Dienstleistungen der Klasse 35 und 42 ein unternehmerisch tätiges Publikum (in Klasse 35 z. B. „Werbung; Marketing; betriebswirtschaftliche Analyse-, Recherche- und Informationsdienstleistungen; Geschäftsführung“ oder in Klasse 42 z. B. die speziell genannten IT-Dienstleistungen „Aktualisierung von Websites für Dritte; Datamining“ wie auch die Designdienstleistungen) und teilweise im Bereich der Dienstleistungen der Klasse 42 insbesondere technisch und technologisch geschultes Personal (z. B. „wissenschaftliche und technologische Dienstleistungen“). Ein Teil der maßgeblichen Dienstleistungen richtet sich aber auch an den Endverbraucher (z. B. die Handelsdienstleistungen und Verbraucherinformationsdienste der Klasse 35, die Telekommunikation der Klasse 38 und die IT-Beratungs-, Auskunfts- und Informationdienstleistungen der Klasse 42).
b) Das verfahrensgegenständliche Zeichen setzt sich zusammen aus dem Großbuchstaben „W“, dem umgedrehten Ausrufezeichen „¡“ und dem Großbuchstaben „R“. Es ist zutreffend als Wortmarke im Sinne von § 7 MarkenV angemeldet und erfasst worden, denn die vom DPMA verwendete Druckschrift „Arial“ umfasst neben allen Buchstaben (groß oder klein geschrieben) und Zahlen auch übliche Schriftzeichen. Zu diesen verwendbaren Schriftzeichen zählt das umgedrehte Ausrufungszeichen (vgl. die unter www.dpma.de bekannt gegebene Liste der als Wortmarke verwendbaren Zeichen).
c) Der Senat teilt die Auffassung der Markenstelle, dass das angesprochene Publikum das umgedrehte Ausrufezeichen ohne analysierende Betrachtung und gedankliche Zwischenschritte zwanglos als Ersetzung des Buchstaben „I/i“ lesen und damit als „WIR“ oder „WiR“ auffassen wird.
aa) Ein Ausrufezeichen ist ein Satzzeichen, das nach Ausrufe-, Wunsch- und Aufforderungssätzen sowie nach Ausrufewörtern und nach bedingten indirekten Fragen steht (vg. DUDEN Online unter www.duden.de). Im Spanischen existiert das Ausrufezeichen, das hier „signo de exclamación“, jedoch manchmal auch „signo de admiración“ („Bewunderungszeichen“) genannt wird, in zwei Formen. Neben dem auch in anderen Sprachen üblichen, einen Satz abschließenden Zeichen „!“ gibt es das – im verfahrensgegenständlichen Anmeldezeichen verwendete – öffnende Ausrufezeichen „¡“, das betonten Sätzen oder Wörtern vorangestellt wird. Die Hervorhebung einer Aussage durch ein Ausrufezeichen ist auch in der Werbung ein häufig verwendetes Stil- und Gestaltungsmittel. Mittlerweile wird es u. a. in der Netzsprache inflationär verwendet (vgl. Artikel „Total überzeichnet“ in Süddeutsche Zeitung-Magazin Heft 21/2014 unter „sz-magazin.sueddeutsche.de“ sowie Glosse „Lasst! Sie!! Weg!!!“ aus der SZ vom 02.03.2016 unter „sueddeutsche.de). Die grammatikalisch richtige Verwendung spielt dabei keine Rolle. Vielmehr wirkt das Ausrufezeichen unabhängig davon, an welcher Stelle es angeordnet ist, als Hinweis darauf, wie wichtig die Aussage ist; es dient dazu, den Inhalt der Wortfolge oder des vorangehenden Wortes werbemäßig hervorzuheben bzw. dessen Aussage besonders zu unterstreichen (vgl. hierzu BPatG, Beschluss vom 25.03.2014, 29 W (pat) 34/12 - SACHSEN! Ein Land in Bewegung; Beschluss vom 28.02.2012, 27 W (pat) 22/11 – Mehr Wissen Mehr Tun!; Beschluss vom 27.11.2012, 27 W (pat) 89/11 – ! Solid; Beschluss vom 21.05.2010, 27 W (pat) 530/10 – Mehr! Entertainment). Ferner ist es als bloßes Gestaltungsmittel, z. B. als sog. „Eyecatcher“ werbeüblich (vgl. BPatG, Beschluss vom 27.01.2009, 27 W (pat) 46/09 – LIVE!SPEAKER; Beschluss vom 13.09.2006, 29 W (pat) 68/04 – REZEPTE pur EINFACH! KOCHEN) wie auch als Ersetzung des Buchstaben „I/i“ (vgl. z. B. Werbeaussage „W!R S!ND DABE!“ unter www.bw-stiftung.de).
Angesichts des umfangreichen und vielfältigen Einsatzes des Ausrufezeichens in der Werbung geht der Senat davon aus, dass die hier angesprochenen Verkehrskreise auch das umgedrehte Ausrufezeichen als Ersatz für den Buchstaben „I/i“ und damit als werbliches Hervorhebungsmittel verstehen werden. Dies zum einen auch deshalb, weil das um 180 Grad gedrehte Ausrufungszeichen dem Kleinbuchstaben „i“ schriftbildlich sehr ähnlich ist und daher in dem Begriff „WiR“ nur etwas nach unten verrutscht wirkt. Zum anderen ist die Ersetzung von Buchstaben durch andere Zeichen durchaus üblich, so z. B. die Ersetzung von englischen Begriffen durch klangidentische oder -ähnliche Zahlen („4“ für „for“, „2“ für „to“) oder auch im Netzjargon das Ersetzen von Buchstaben durch ähnlich aussehende Ziffern oder Sonderzeichen, sog. Leetspeak (auch Leetspeek; von engl. elite, „Elite; vgl. hierzu Wikipedia Online Enzyklopädie unter www.wikipedia.de). Letztlich braucht die Frage, ob es sich tatsächlich bei der Verwendung dieses Schriftzeichens um ein werbeübliches - und damit nicht schutzbegründendes - Gestaltungsmittel handelt, nicht abschließend beurteilt werden. Ebenfalls dahingestellt bleiben kann, ob ein relevanter Teil des Verkehrs nicht auch die Bedeutung des verwendeten Sonderzeichen als Semikolon „;“ in Betracht ziehen wird und daher das Zeichen im Sinne zweier durch einen Strich-Punkt getrennte Buchstaben wie „W ; R“ auffasst.
Denn ungeachtet der Lesart des Zeichens als „WIR“, „WiR“ oder „W ; R“ kann dem Zeichen die Schutzfähigkeit nicht abgesprochen werden.
bb) Erfasst der angesprochene Verkehr das Anmeldezeichen als Personalpronomen „WIR“ bzw. „Wir“ (was am naheliegendsten erscheint), so ist es in Alleinstellung in Bezug zu den beanspruchten Dienstleistungen nicht beschreibend und unterscheidungskräftig, weil die Aussage zu vage ist.
Bei der Bezeichnung „WIR“ handelt es sich um ein Personalpronomen der 1. Person Plural. Es kann für mehrere Personen stehen, zu denen die eigene ebenfalls dazugehört. Zusätzlich wird es auch in vertraulicher Anrede, beispielsweise gegenüber Kindern oder Patienten verwendet (vg. DUDEN Online unter www.duden.de). Das Wort „WIR“ vermittelt somit Zusammenhalt oder das Vorhandensein einer Gemeinschaft, aber auch eine gewisse Vertraulichkeit gegenüber dem Angesprochenen.
Dass das Personalpronomen „WIR“ - auch in der hier konkreten Schreibweise - als im Vordergrund stehende beschreibende Sachaussage anzusehen ist, kann nicht festgestellt werden. Welchen beschreibenden Inhalt „W¡R“ bzw. „WIR“ haben könnte, vermag der Senat nicht zu erkennen und hat die Markenstelle auch nicht konkret erläutert. Das Personalpronomen ist weder eine Angabe über Gegenstand, Inhalt oder Bestimmung der hier beanspruchten Dienstleistungen noch steht es sonst in einem engen beschreibenden Bezug hierzu.
Ferner handelt es sich bei „W¡R“ nicht um eine werblich-anpreisende Sachaussage über besondere Eigenschaften oder den Tätigkeitsschwerpunkt der Dienstleistungsanbieter. In der Werbesprache findet das Wort „wir“ zwar umfangreich Verwendung zur Präsentation von Wert-, Eigenschafts-, Tätigkeits- und Umstandsversprechen, allerdings nur in Verbindung mit weiteren Begriffen bzw. eingebunden in konkrete Werbeaussagen (vgl. Rothfuss, Wörterbuch der Werbesprache, 1991, S. 375ff. – Stichwort: „wir“). Die Recherche des Senats, unter anderem in „slogans.de“, hat dies bestätigt. Gefunden wurde das persönliche Fürwort „wir“ innerhalb von Wortfolgen, die zusammen eine sinnvolle, sachlich anpreisende Aussage bilden; vgl. Aussagen wie „Wir sind die Auskunft.“; „Wir arbeiten für die Kommunikation.“; „Wir bewegen Menschen.“; „Wir bauen fürs Leben gern.“; „Wir machen Sie internett.“ u. v. m.
Soweit das Wort „WIR/Wir“ in Alleinstellung – vielfach in grafischer Ausgestaltung und auch als Akronym für eine beschreibende Wortfolge – ermittelt werden konnte, zeigen diese Rechercheergebnisse einen kennzeichenmäßigen bzw. werktitelmäßigen Gebrauch, z. B. „WIR – Hessisches Förderprogramm“; „wir │ Das Magazin für Unternehmerfamilien“; „WIR! Stiftung pflegender Angehöriger“; „W!R – eine Elternbeilage der Zeitung „Der Nordschleswiger“; „wir! Wandel durch Innovation in der Region“; „W.I.R work and integration for refugees“ etc.
Die Verwendung des Begriffs „wir“ eingebunden in Slogans rechtfertigt nicht den Schluss, dass der angesprochene Verkehr das Anmeldezeichen in Alleinstellung, also ohne einen konkretisierenden Bezug, als werblich anpreisende Sachaussage versteht. Vielmehr ist das Anmeldezeichen in Alleinstellung in Bezug zu den hier maßgeblichen Dienstleistungen in seinem Aussagegehalt unklar, weil für den Verkehr nicht eindeutig erkennbar wird, was mit ihm zum Ausdruck gebracht werden soll. Ohne zusätzliche Angaben enthält das angemeldete Zeichen mithin keine beschreibende Aussage über die beanspruchten Dienstleistungen. Die Markenstelle verweist zur Begründung der Schutzunfähigkeit des Wortes „wir“ unter anderem auf die sehr alte BPatG-Entscheidung zur Anmeldung „W.I.R Zeitarbeit“ (Beschluss vom 17.07.1996, 29 W (pat) 9/95). Dort ist ausgeführt, dass dem Personalpronomen „WIR“ die erforderliche Unterscheidungskraft fehle, weil die Verkehrskreise daran gewöhnt seien, einem Personalpronomen in Alleinstellung dann zu begegnen, wenn sich aufgrund des Zusammenhangs ergebe, für wen das Pronomen stehe; sie vermuteten daher in dem Pronomen nicht zugleich den Namen eines Unternehmens, weshalb dem Fürwort „wir“ nicht die Eignung zukomme, für sich allein auf einen bestimmten Betrieb hinzuweisen. Diesen Ausführungen kann nicht (mehr) gefolgt werden. Denn nach aktueller Rechtsprechung ist Gegenstand der Prüfung im Eintragungsverfahren stets das Zeichen in seiner angemeldeten Form; es dürfen daher bei der Beurteilung der Schutzfähigkeit keine zusätzlichen Angaben oder sonstigen Ergänzungen – auch im Rahmen eines möglichen Benutzungszusammenhangs – hinzugedacht werden (vgl. BGH a. a. O. Rn. 24,25 – OUI; a. a. O. Rn. 22, 23 – for you; GRUR 2011, 65 Rn. 10, 17 – Buchstabe T mit Strich; BPatG, Beschluss vom 18.08.2017, 29 W (pat) 523/15 – Glanzlicht; Beschluss vom 27.03.2017, 26 W (pat) 522/14 – FAVORIT; s. auch Ströbele in Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 12. Auflage, § 8 Rn. 36 ff und 134).
cc) Schließlich lässt sich nicht feststellen, dass „W¡R“ bzw. das Personalpronomen „wir“ ein alltägliches Werbeschlagwort bzw. gebräuchliches Signalwort der Werbung ist, das stets nur als Werbung und nicht auch als Unterscheidungsmittel verstanden wird.
Zwar kommt eine werbende Anpreisung nicht nur bei aus mehreren Wörtern bestehenden Werbeslogans in Betracht, sondern auch bei einem prägnanten Einzelwort, wenn dessen Bedeutung ohne weiteres eine anpreisende Wirkung in Bezug auf konkrete Waren oder Dienstleistungen beinhaltet (BGH a. a. O. Rn. 20 – OUI). Eine ausschließlich anpreisende Bedeutung folgt aber vorliegend nicht bereits daraus, dass bei einer Verwendung für die in Rede stehenden Dienstleistungen das Wort „WIR/Wir“ für sich genommen eine positiv besetzte Aussage – nämlich im Sinne einer Verbundenheit – vermittelt. Denn der anpreisende Sinn einer Bezeichnung schließt deren Eignung, als Herkunftshinweis zu wirken, nicht aus (vgl. BGH GRUR 2014, 872 Rn. 23 – Gute Laune Drops). Erforderlich ist vielmehr die Feststellung, dass der Verkehr die Bezeichnung ausschließlich als werbliche Anpreisung versteht (BGH a. a. O. Rn. 23 – OUI; GRUR 2015, 173 Rn. 28 – for you). Dafür ist vorliegend nichts konkret festgestellt und auch sonst nichts ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des BGH kann die Annahme einer allgemeinen Werbeaussage des Markenwortes nämlich nicht auf Beispiele gestützt werden, in denen das Markenwort nicht in Alleinstellung, sondern stets im Zusammenhang mit anderen Worten benutzt wird, aus denen sich seine werbliche Bedeutung erschließt (BGH a. a. O. Rn. 24 – OUI).
Wie bereits oben unter bb) angesprochen, zeigen die ermittelten Verwendungsbeispiele von „Wir/WIR“ in Alleinstellung einen kennzeichenmäßigen bzw. werktitelmäßigen Gebrauch auf. Dies steht aber der Annahme entgegen, dass der Begriff nur im Sinne einer allgemeinen werblichen Anpreisung verstanden werde.
dd) Soweit schließlich das Anmeldezeichen im Sinne der Buchstabenfolgen „WiR“ oder „WIR“ gelesen werden und damit theoretisch als Abkürzung in Betracht kommen könnte, führt auch dies vorliegend nicht zur Schutzunfähigkeit.
Die Buchstabenfolge „WiR“ steht für die Begriffe „Wirtschaftsrat“, „Wirtschaftsrecht“ oder „Wissenschaftsrat“ (vgl. unter „abkuerzungen.woxikon.de“); die Buchstabenfolge in Großbuchstaben „WIR“ ist erfasst u. a. für „World Investment Report“ und „Wiring“ sowie für „Werbung im Rundfunk GmbH“ und „Wichtungsregister“ (vgl. www.abkuerzungen.de und Peter Wennrich, Internationales Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme der Elektronik, Elektrotechnik, Computertechnik und Informationsverarbeitung). Eine im Vordergrund stehende beschreibende Sachaussage ergibt sich aus diesen Einträgen in Abkürzungsverzeichnissen aber nicht.
Denn eine Abkürzung ist nur dann nicht schutzfähig, wenn sie im Verkehr als solche gebräuchlich oder aus sich heraus verständlich ist sowie von den beteiligten Verkehrskreisen ohne weiteres der betreffenden Sachangabe gleichgesetzt und insoweit verstanden werden kann (vgl. Ströbele in Ströbele/Hacker/Thiering, a. a. O., § 8 Rn. 224, 226, 227). Zu berücksichtigen ist ferner, dass der inländische Verkehr, der Kennzeichen regelmäßig in der Gesamtform aufnimmt, in der sie ihm entgegentreten, erfahrungsgemäß wenig geneigt ist, sie begrifflich näher zu analysieren, um beschreibende Bedeutungen herauslesen zu können (vgl. Ströbele in Ströbele/Hacker/Thiering, a. a. O., § 8 Rn. 155). Eine schwerpunktmäßige oder einheitliche Verwendung der Abkürzungen „WiR“ bzw. „WIR“ für eine bestimmte (Sach)Aussage ist in den hier maßgeblichen Dienstleistungsbereichen aber nicht festzustellen. Es kann daher – erst recht angesichts der konkreten Schreibweise mit dem umgedrehten Ausrufezeichen – nicht ernsthaft von einem im Vordergrund stehenden beschreibenden Begriffsinhalt bzw. einer feststehenden beschreibenden Abkürzung ausgegangen werden. Schließlich ergibt sich auch in der Lesart „W ; R“ kein beschreibender Aussagegehalt.
Dem Anmeldezeichen kann nach alledem die Eignung als betrieblicher Herkunftshinweis nicht abgesprochen werden.
B) Da das angemeldete Wortzeichen keinen unmittelbar beschreibenden Begriffsinhalt in Bezug auf die beanspruchten Dienstleistungen hat, besteht auch kein Freihaltungsbedürfnis nach § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG.