Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 29.11.2017


BGH 29.11.2017 - 2 StR 460/16

Jugendstrafsache: Berücksichtigung des Erziehungsgedankens bei der Bemessung der Einheitsjugendstrafe bei fortschreitendem Alter des Angeklagten


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
29.11.2017
Aktenzeichen:
2 StR 460/16
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2017:291117U2STR460.16.0
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Darmstadt, 16. Juni 2016, Az: 100 Js 32067/15 - 10 KLs
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 16. Juni 2016 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Angeklagte wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und wegen Nötigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt ist.

Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen; jedoch hat er seine eigenen und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und wegen Nötigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer „Jugendstrafe“ von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, bleibt ohne Erfolg. Lediglich die offensichtlich versehentliche Falschbezeichnung der Sanktion im Tenor war zu berichtigen.

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I. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen.

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1. Der Angeklagte war seit Jahren bei Freunden und Bekannten dafür bekannt, dass er bei jeder Gelegenheit wahllos und in aufdringlicher Weise Mädchen „anmachte“ und mit seinen teilweise auch erfundenen Bekanntschaften prahlte. In sozialen Netzwerken rühmte er sich einer außergewöhnlich hohen „Erfolgsquote“ bei Frauen.

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a) Im Oktober 2013 nahm der Angeklagte an einer Klassenfahrt in die Türkei teil. Am ersten Abend kehrte die Reisegruppe nach einem Innenstadtbesuch in ihr Hotel zurück. Trotz Alkoholverbots fanden sich einige Schüler auf dem von ihnen bewohnten Hotelstockwerk zum gemeinsamen Konsum von alkoholischen Getränken zusammen. Im Laufe der Nacht suchte     F.   , eine Mitschülerin des Angeklagten, einen Freund und betrat das Zimmer des Angeklagten. Diese Gelegenheit nutzte der stark alkoholisierte und dadurch in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkte Angeklagte aus, um seine sexuellen Bedürfnisse - auch gegen ihren Willen - durchzusetzen, indem er die sich wehrende     F.   an den Oberarmen festhielt, sie gegen die Wand des Zimmers drückte und auf den Mund küsste. Als ein Mitschüler das Zimmer betrat, ließ der Angeklagte von     F.   ab und verließ den Raum. Aufgrund dieses Vorfalls wurde der Angeklagte vorzeitig nach Hause geschickt und wechselte, nachdem die Schulleitung ihm dies nahegelegt hatte, freiwillig die Schule.

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b) Am 24. Juli 2015 begegnete der Angeklagte bei einem Volksfestbesuch in E.   der Geschädigten    A.   , mit der er 2013 und 2014 bei mindestens zwei Gelegenheiten sexuellen Kontakt gehabt hatte. Zum Zeitpunkt der Begegnung wollte die Geschädigte in Begleitung einer Freundin das Fest gerade verlassen. Der Angeklagte erkannte, dass die Geschädigte stark angetrunken war. Da er eine günstige Gelegenheit für sexuelle Handlungen mit ihr sah, sprach er sie direkt auf ihre früheren gemeinsamen Sexualkontakte an und drängte sie, mit ihm zusammen zu „verschwinden“, um ungestört zu sein.     A.    brachte mehrfach zum Ausdruck, dass sie dies nicht wolle; ihre Begleiterin forderte den Angeklagten auf,    A.    in Ruhe zu lassen. Der Angeklagte wollte seine sexuellen Wünsche jedoch unbedingt durchsetzen, folgte den Mädchen und ließ sich nicht abwimmeln. Auf ihrem Weg über das Festgelände trafen die beiden Frauen an einem Bierstand alte Bekannte und entschlossen sich, noch einige Zeit dort zu bleiben. Als die Freundin der Geschädigten kurz abwesend war, begann der Angeklagte     A.    intensiv zu küssen, wobei er ihr fordernd und aggressiv seine Zunge in den Mund schob. Er erkannte, dass die Geschädigte aufgrund ihrer Alkoholisierung völlig wehrlos war; er zog sie von den anderen Gästen weg, um weitergehende sexuelle Handlungen - auch gegen ihren Willen - durchzusetzen. Er zerrte die stark torkelnde Geschädigte zwischen zwei bereits geschlossene Verkaufsstände und begann erneut, sie zu küssen und anzufassen. Die Geschädigte schob den Angeklagten von sich und gab ihm zu verstehen, dass sie nicht wolle. Dennoch packte er sie an den Armen oder Schultern und zwang sie auf die Knie. Um ihre starke Gegenwehr zu unterbinden, schlug er ihren Kopf mehrere Male seitlich auf ein am Boden liegendes Metallgitter und drückte die Geschädigte zu Boden. Er öffnete seine Hose und führte mehrfach auf grobe Art und Weise seinen erigierten Penis tief in den Mund der Geschädigten ein, um so den Oralverkehr zu erzwingen. Als eine unbekannte Person, die auf das Geschehen aufmerksam geworden war, etwas in Richtung des Angeklagten rief, ließ dieser von     A.    ab und entfernte sich.

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c) Am 7. November 2015 besuchte der Angeklagte mit der Geschädigten      W.   eine Diskothek in   R.   . Die Geschädigte war seit mehreren Jahren mit dem Angeklagten befreundet, eine Liebesbeziehung hatte zu keinem Zeitpunkt bestanden. Nach einem mehrstündigen Aufenthalt in der Diskothek bat die Geschädigte den Angeklagten, sie nach Hause zu bringen. Der Angeklagte wollte diese Situation ausnutzen, um mit der Geschädigten sexuelle Handlungen durchzuführen und brachte sie zu seinem Fahrzeug. Statt die Geschädigte nach Hause zu bringen, fuhr er den Wagen in einen unbeleuchteten Abschnitt eines Feldwegs und versuchte die Geschädigte zu küssen. Auf ihre Äußerung hin, sie wolle dies nicht, ließ er zunächst von ihr ab. Als die Geschädigte sich auf die Rückbank des Pkw begab, um ihre Tasche zu holen, entschloss sich der Angeklagte, seine sexuellen Wünsche auch mit Gewalt durchzusetzen. Er folgte der Geschädigten in den Fond des Wagens und begann sie gegen ihren Willen zu küssen. Versuche der Geschädigten, den Wagen zu verlassen, scheiterten. Der Angeklagte hielt die Geschädigte fest, zog und riss an ihren Haaren und fasste sie an der Brust und zwischen den Beinen an, um sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Obwohl die Geschädigte Gegenwehr leistete und bettelte aufzuhören, ließ der Angeklagte nicht von ihr ab. Er öffnete seine Hose und verlangte, „ihm einen zu blasen“. Aus Angst vor weiterer Gewalt und in der Hoffnung auf ein Ende der Übergriffe kam die Geschädigte der Forderung des Angeklagten kurz nach. Als sie sich dann erneut wehrte, drückte der Angeklagte sein Knie in ihren Bauch und fixierte ihre Arme. Er zog Hose und Unterhose der Geschädigten gegen deren Willen nach unten und führte mehrere Finger tief in ihre Scheide ein, was ihr erhebliche Schmerzen verursachte. Als die Geschädigte den Angeklagten anflehte aufzuhören, äußerte dieser, sie solle „ihr Maul halten“, sonst würde er sie „ficken“. Da er aufgrund des Widerstands der Geschädigten nicht die gewünschte sexuelle Befriedigung bekommen hatte, ließ der Angeklagte von der Geschädigten ab und begann sich selbst zu befriedigen. In dieser Situation konnte sich die Geschädigte aus dem Fahrzeug befreien und flüchten.

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2. Das Landgericht hat die Taten als Nötigung und Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gewürdigt. Es hat festgestellt, dass der zu den Tatzeiten 19, 20 Jahre und neun Monate sowie 21 Jahre alte Angeklagte nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstehe, und hat deshalb Jugendstrafrecht zur Anwendung gebracht. Ausgehend vom Vorliegen schädlicher Neigungen und schwerer Schuld hat das Landgericht eine „Jugendstrafe“ von vier Jahren und sechs Monaten verhängt. Bei der Bemessung der Höhe der Jugendstrafe hat das Landgericht zu Lasten des Angeklagten u.a. gewürdigt, dass bei ihm „neben dem Bedürfnis eines gerechten Schuldausgleichs gerade auch aus dem vorrangigen Erziehungsgedanken eine längerfristige Jugendstrafe erforderlich“ sei.

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II. Die Revision ist unbegründet.

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1. Die Verfahrensrüge bleibt aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg.

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2. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils zum Schuldspruch hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

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3. Auch der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand.

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a) Die Entscheidung des Landgerichts, gemäß § 32 JGG einheitlich Jugendstrafrecht anzuwenden, ist frei von Rechtsfehlern.

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aa) Nach § 32 JGG gilt für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären; ist dies nicht der Fall, so ist einheitlich das allgemeine Strafrecht anzuwenden. Diese Regelungen gelten gemäß § 105 Abs. 1 JGG auch im Verfahren gegen Heranwachsende. Da für die Eigenschaft als Heranwachsender (§ 1 Abs. 2 JGG) allein der Zeitpunkt der Tatbegehung entscheidend ist (BeckOK-JGG/Schlehofer, 7. Edition, § 105 Rn. 2), war der Angeklagte bei zwei der drei Taten Heranwachsender; bei der letzten Tat war er Erwachsener. Das Landgericht hat daher zu Recht geprüft, bei welchen Teilakten das Schwergewicht liegt. Diese Beurteilung ist im wesentlichen Tatfrage, die der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden hat und daher der Nachprüfung des Revisionsgerichts grundsätzlich entzogen (BGH, Urteil vom 22. Juni 1988 - 3 StR 93/88, BGHR JGG § 32 Schwergewicht 1; Senat, Urteil vom 29. Juli 1992 - 2 StR 20/92, BGHR JGG § 32 Schwergewicht 3; Eisenberg, JGG, 19. Aufl., § 32 Rn. 21). Maßgeblich für die Bestimmung des Schwergewichts ist insbesondere, ob sich die späteren Straftaten als in den früheren bereits angelegt darstellen, ob sie bei Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung ihren Ursprung im Jugendalter haben bzw. wo die „Tatwurzeln“ liegen (BGH, Urteil vom 24. März 1954 - 6 StR 84/54, BGHSt 6, 6, 7; Urteil vom 27. Juni 1989 - 1 StR 266/89, BeckRS 1989, 01495; Senat, Beschluss vom 15. Juni 1994 - 2 StR 229/94, BGH bei Böhm NStZ 1995, 535, 537; Eisenberg aaO § 32 Rn. 12; Ostendorf, NK-JGG, 10. Aufl. § 32 Rn. 12).

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bb) Bei seiner Wertung des Schwergewichts hat das Landgericht in nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, dass die im Erwachsenenalter begangene Straftat des Angeklagten ohne Zäsur in seinen im Jugend- und Heranwachsendenalter entwickelten Neigungen wurzelte und Ausdruck einer bereits im jugendlichen Alter entwickelten fehlerhaften und eigensüchtigen Einstellung zur Sexualität und zum Umgang mit Frauen darstelle.

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b) Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers begegnet weder die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe noch die Festsetzung der konkreten Strafhöhe rechtlichen Bedenken.

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aa) Die Entscheidung des Landgerichts, gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhängen, ist nicht zu beanstanden. Das Landgericht ist unter Zugrundelegung des jeweils zutreffenden Maßstabs und mit tragfähiger Begründung davon ausgegangen, dass beim Angeklagten im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG schädliche Neigungen vorliegen und Schwere der Schuld gegeben ist.

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bb) Dass das Landgericht bei der Zumessung der Jugendstrafe neben dem Bedürfnis eines gerechten Schuldausgleichs auch dem Erziehungsgedanken im Sinne von § 18 Abs. 2 JGG bei dem zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils 21 Jahre und acht Monate alten Angeklagten Bedeutung beigemessen hat, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

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(1) Gemäß § 18 Abs. 2 JGG ist die Jugendstrafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Grundsätzlich ist zwar die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck gelangende Bewertung des Ausmaßes des in der Straftat hervorgetretenen Unrechts auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu berücksichtigen. Keinesfalls darf aber die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwägen. Denn auch bei einer wegen der Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe bemisst sich ihre Höhe vorrangig nach erzieherischen Gesichtspunkten. Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 19. April 2016 - 1 StR 95/16, NStZ 2016, 683).

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(2) Der Bundesgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass dem Erziehungsgedanken mit fortschreitendem Alter des Täters ein immer geringeres Gewicht zukomme. Aus den Entscheidungen ergibt sich jedoch keine starre Altersobergrenze, jenseits der die Berücksichtigung des Erziehungsgedankens unzulässig wäre. Im Einzelnen:

- In Beschlüssen vom 17. Juni 1997 und 5. April 2017 hat der 1. Senat diesen Grundsatz im Rahmen allgemeiner Ausführungen zur Bedeutung der Berücksichtigung des Erziehungsgedankens bei der Strafzumessung betont (BGH, Beschluss vom 17. Juni 1997 - 1 StR 288/97 - StV 1998, 334; Beschluss vom 5. April 2017 - 1 StR 76/17, NStZ-RR 2017, 231).

- In seiner Entscheidung vom 31. August 2004 hat der 1. Senat ausgeführt, die Verurteilung eines zur Tatzeit 20 Jahre alten und zum Zeitpunkt der Verurteilung 25-jährigen Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von drei Jahren begegne keinen rechtlichen Bedenken, „zumal mit fortschreitendem Alter des Täters dem Erziehungsgedanken geringere Bedeutung beigemessen werden kann“ (BGH, Urteil vom 31. August 2004 - 1 StR 213/04).

- In einem Beschluss vom 17. März 2006, der die Verurteilung eines zur Tatzeit 19- bzw. 20-jährigen und zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung 36 Jahre alten Angeklagten zu einer achtjährigen Jugendstrafe betraf, sah der 1. Senat keinen Rechtsfehler darin, dass das Tatgericht dem Erziehungsgedanken nur untergeordnete Bedeutung beigemessen hatte (BGH, Beschluss vom 17. März 2006 - 1 StR 577/05, NStZ 2006, 587, 588).

- In einem Beschluss vom 26. Oktober 2016, mit dem er ein Urteil im Strafausspruch einer Jugendstrafe aufhob, hat der erkennende Senat den neuen Tatrichter darauf hingewiesen, „bei der Bemessung der Jugendstrafe den Erziehungsgedanken genauer als bisher zu berücksichtigen“. Der Angeklagte in diesem Verfahren war zu den Tatzeiten 14 bis 17 Jahre alt, zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung 22 Jahre und sieben Monate alt (Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2016 - 2 StR 214/16 juris Rn. 5).

- In einem Beschluss vom 20. August 2015 hat der 3. Senat in einem Fall, in dem der Angeklagte zur Tatzeit 16 Jahre und zum Zeitpunkt der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils bereits 23 Jahre und sieben Monate alt war, die verhängte Jugendstrafe aufgehoben, bei deren Bestimmung sich das Landgericht „maßgebend“ am Erziehungsgedanken orientiert hatte (BGH, Beschluss vom 20. August 2015 - 3 StR 214/15).

- Die Entscheidung des 3. Senats vom 8. März 2016 betraf einen Fall, in welchem das Tatgericht gegen zwei zur Tatzeit 18 und 19 bzw. 20 Jahre alte Angeklagte, die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits 24 und 25 Jahre alt waren, zur erzieherischen Einwirkung Dauerarreste verhängt hatte. Der 3. Senat hob das Urteil jeweils im Rechtsfolgenausspruch auf, da die Jugendkammer nicht bedacht habe, dass dem Erziehungsgedanken bei der Bestimmung von Art und Dauer der Sanktion für die Tat der zum Zeitpunkt der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils im strafrechtlichen Sinne erwachsenen Angeklagten ein allenfalls geringes Gewicht zukomme (BGH, Beschluss vom 8. März 2016 - 3 StR 417/15, juris Rn. 19, NStZ 2016, 680, 681).

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Die in diesen Entscheidungen vertretene Auffassung, dass der Erziehungsgedanke grundsätzlich immer zu berücksichtigen sei, mit fortschreitendem Alter des Angeklagten aber an Bedeutung verliere, wird von zahlreichen Stimmen im Schrifttum geteilt (Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl., 105 Rn. 59; Brunner/Dölling, JGG, 13. Aufl., § 105 Rn. 36; BeckOK/JGG/Brögeler, 7. Edition, § 18 Rn. 12; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 759; Schaffstein/Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, 15. Aufl., Rn. 473; ausführlich und grundlegend Beulke in: Festschrift für Franz Streng, S. 403 ff.; auf das Ziel der positiven Individualprävention abstellend Ostendorf, NK-JGG, aaO, § 105 Rn. 31).

21

In den beiden zuletzt genannten Entscheidungen ließ der 3. Senat ausdrücklich offen, ob darüber hinaus Anlass bestehen könnte, die bisherige Rechtsprechung dahin weiter zu entwickeln, dass bei der Verhängung von Sanktionen gegen Straftäter, die zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung bereits das 21. Lebensjahr vollendet haben und somit im strafrechtlichen Sinne als erwachsen gelten, der Erziehungsgedanke nicht mehr nur von geringem Gewicht sein kann, sondern insgesamt kein taugliches Strafzumessungskriterium mehr ist (so auch Budelmann, Jugendstrafrecht für Erwachsene? 2005, S. 105 ff.; MüKo-StGB/Miebach/Meier, 3. Aufl., § 46 Rn. 242; Eisenberg, aaO, § 17 Rn. 34b, § 18 Rn. 32). Nach den Erwägungen des 3. Senats kommt dies mit Blick auf § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG jedenfalls bei solchen Tätern in Betracht, die zum Zeitpunkt der Verurteilung das 24. Lebensjahr vollendet haben und deren Jugendstrafe deshalb regelmäßig im Strafvollzug für Erwachsene zu vollziehen ist (vgl. auch Eisenberg, JA 2016, 623, 627: Altersgrenze bei 25 Jahren).

22

Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Wie die - auch hier zur Anwendung kommende - Regelung des § 32 Satz 1 JGG zeigt, können selbst Straftaten, die im Erwachsenenalter begangen worden sind, nach den Regeln des Jugendstrafrechts abgeurteilt werden, wenn der Schwerpunkt bei Taten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen sind. Nach dem Gesetzeswortlaut „gilt einheitlich das Jugendstrafrecht“, wodurch auf § 2 Abs. 1 JGG und die vorrangige Ausrichtung der Rechtsfolgen und des Verfahrens am Erziehungsgedanken Bezug genommen wird. Die Gegenauffassung übersieht zudem, dass es häufig dem Zufall geschuldet ist, ob die Hauptverhandlung kurz vor oder kurz nach dem 21. Geburtstag des Angeklagten stattfindet. Auch die Regelung des § 89b JGG spricht für die Berücksichtigung des Erziehungsgedankens bei erwachsenen Angeklagten. Nach § 89b Abs. 1 Satz 1 JGG geht das Gesetz bei 18- bis 23-jährigen zu Jugendstrafe Verurteilten davon aus, dass die Jugendstrafe regelmäßig im Jugendstrafvollzug zu vollziehen ist, der Verurteilte somit mit den Methoden des als Erziehungsvollzug ausgestalteten Jugendstrafvollzugs erreicht werden kann. Im Hinblick darauf, dass nach Vollendung des 24. Lebensjahrs des Verurteilten die Jugendstrafe nach den Vorschriften des Erwachsenenstrafvollzugs vollzogen werden „soll“ (§ 89b Abs. 1 Satz 2 JGG), ist in Ausnahmefällen sogar eine Unterbringung im Jugendstrafvollzug von über 24 Jahren alten Gefangenen zulässig. Dass der Gesetzgeber auch bei über 21-Jährigen den Erziehungsgedanken für relevant hält, folgt auch aus der Gesetzesbegründung für die Änderung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG, mit dem die maximale Jugendstrafe für heranwachsende Mörder wegen der besonderen Schwere der Schuld von zehn auf 15 Jahre erhöht wurde (vgl. Beulke, aaO, S. 403, 411 ff.). Nach der gesetzgeberischen Konzeption soll die Verhängung dieser weit in das Erwachsenenalter reichenden Jugendstrafe nämlich zur Voraussetzung haben, dass sie „auch unter Berücksichtigung des leitenden Erziehungsgedankens“ geboten ist (BT-Drucks. 17/9389, S. 20).

23

(3) Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die Feststellungen zu dem beim Angeklagten bestehenden Erziehungsbedarf ist es nicht rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht angenommen hat, dass hier unter dem Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs und aufgrund des Erziehungsgedankens eine längerfristige Jugendstrafe erforderlich ist. Das Landgericht hat im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne zunächst wesentliche Zumessungserwägungen vorgenommen, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Ausgehend von der in allen Taten zum Ausdruck gekommenen Einstellung des Angeklagten und der dabei zu Tage getretenen Bedenkenlosigkeit hat das Landgericht dann die Notwendigkeit einer längerfristigen erzieherischen Einwirkung festgestellt und abgewogen, welche Folgen die gegen den Angeklagten verhängte Jugendstrafe für dessen weitere Entwicklung haben wird. Es hat sich somit nicht ausschließlich am Erziehungsgedanken orientiert und hält sich damit im Rahmen des tatrichterlichen Ermessens.

Richter am Bundesgerichtshof

Dr. Appl ist krankheitsbedingt

an der Unterschrift gehindert.

        

Zeng   

        

Wimmer

Zeng   

                                   
        

   Grube   

        

Schmidt