Entscheidungsdatum: 27.09.2012
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 19. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit seinem Fahrrad unterwegs und wollte den Geschädigten sowie dessen Freund G. , die beide vor einer Sporthalle standen und sich unterhielten, passieren. In diesem Moment trat der Geschädigte auf die Straße und sprach den Angeklagten auf eine wenige Tage zuvor zwischen beiden geführte Auseinandersetzung an. Der Angeklagte warf sein Fahrrad zur Seite und versetzte dem Geschädigten einen kräftigen Stoß vor die Brust. Der Geschädigte seinerseits schlug den Angeklagten ins Gesicht, woraufhin der Angeklagte in einer schnellen Drehbewegung nach hinten ein Messer zog und sodann dem Geschädigten in den Oberkörper stach. Der Stich eröffnete dessen Herzbeutel und führte zu seinem Tod.
Das Landgericht hat die Feststellungen maßgeblich auf die Aussage des einzigen unmittelbaren Tatzeugen G. gestützt, nachdem es zu der Überzeugung gelangt war, dass sich die Tat nicht so, wie vom Angeklagten geschildert, zugetragen haben konnte (UA S. 11, 15).
2. Die den Feststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung der Kammer hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts; der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt aber, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147, NJW 2006, 925, 928). Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11; Beweiswürdigung, unzureichende 1; BGH NStZ 2002, 48; NStZ-RR 2004, 238). Insoweit sind an die Bewertung der Einlassung des Angeklagten die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (BGH, Urteil vom 6. November 2003 - 4 StR 270/03 - NStZ-RR 2004, 88 mwN). Daran fehlt es hier.
a) Der Angeklagte hat nicht in Abrede gestellt, den Geschädigten gestochen zu haben. Er hat sich jedoch dahin eingelassen, der Geschädigte habe ihn mit der Faust auf die linke Augenbraue geschlagen, so dass er mit dem Fahrrad auf den Gehweg geraten und dort zu Boden gestürzt sei. Er habe versucht aufzustehen, sei aber von dem Geschädigten mit Schlägen auf den Hinterkopf jeweils wieder "heruntergeschlagen" worden. Möglicherweise habe ihn auch dessen Freund G. geschlagen oder getreten. Er sei dabei mehrfach etwa einen halben Meter weiter gerutscht und in eine Hecke geraten. Dann sei er in die Hocke gekommen, habe ein Messer gezogen, sich ruckartig aufgerichtet und zugestochen.
b) Das Landgericht hat diese Einlassung des Angeklagten rechtsfehlerhaft schon für sich genommen als insgesamt unglaubhaft und widerlegt angesehen.
aa) Da die bei dem Angeklagten festgestellten Schwellungen am rechten Jochbein und an der linken Augenbraue sowie ein abgebrochener Schneidezahn nicht von einem Schlag ins Gesicht herrühren können, ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Einlassung des Angeklagten mit dem festgestellten Verletzungsbild unvereinbar sei (UA S. 13, 14). Die Erörterungen des Gerichts bleiben jedoch lückenhaft, da es nach der Einlassung des Angeklagten naheliegende andere Ursachen für die festgestellten Verletzungen nicht berücksichtigt hat (vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. April 2002 - 3 StR 33/02 - NStZ 2002, 494, 495; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 5), wie etwa den Umstand, dass der Angeklagte, während er zu Boden schaute, durch zahlreiche Schläge auf den Hinterkopf "heruntergeschlagen" wurde. Auch wenn sich der Angeklagte auf allen "Vieren" befunden haben will, schließt dies Gesichtsverletzungen der festgestellten Art nicht aus.
Im Hinblick auf das von einem kantigen Gegenstand herrührende Hämatom hinter dem Ohr des Angeklagten lässt allein der vom Landgericht bedachte Umstand, dass der Angeklagte den Einsatz eines Schlagwerkzeugs ausdrücklich verneint und im Übrigen "nur vermutet" hat (UA S. 14), auch getreten worden zu sein, nicht die Schlussfolgerung zu, seine Einlassung wäre mit dem Verletzungsbild unvereinbar.
bb) Jedenfalls aber hat sich das Landgericht bei der Bewertung der für die Einlassung des Angeklagten sprechenden objektiven Beweistatsachen rechtsfehlerhaft darauf beschränkt, diese Indizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, anstatt sie in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen.
Insoweit hat das Landgericht ausgeführt, die kleinen Löcher im T-Shirt des Angeklagten könnten zwar von einem Sturz in die tatortnahe dornige Hecke stammen; sie ließen sich aber zur Überzeugung des Gerichts keiner bestimmten Hecke zuordnen (UA S. 14). Die grünfarbigen Antragungen an der Hose des Angeklagten könnten nicht von einem Sturz in die Hecke stammen, da die Blätter zu klein seien und die Hecke bei einem Sturz nachgebe (UA S. 14). Die Pflanzenpartikel an der rechten Gesäß- und Vordertasche der Hose des Angeklagten stammten zwar - was das Gericht als wahr zugrunde gelegt hat - von der tatortnahen dornigen Hecke. Dies lasse aber keine Schlussfolgerung dahingehend zu, dass der Angeklagte zur Tatzeit in die Hecke gefallen sei (UA S. 15). Schließlich lasse sich auch nicht mit Gewissheit feststellen, dass die kleinen Kratzer im Gesicht des Angeklagten von einem Sturz in eine Hecke herrührten; jedenfalls aber ließen sie nicht den zwingenden Schluss zu, dass sie zur Tatzeit am Tatort entstanden seien (UA S. 15).
Es begegnet schon Bedenken, dass das Landgericht an dieser Stelle - ohne den Widerspruch zu erläutern - unterstellt hat, die Einlassung des Angeklagten ginge dahin, er sei in die Hecke "gestürzt"; auch hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht, dass es keinen tatsächlichen Anhalt dafür gibt, wie der Angeklagte (versehentlich oder absichtlich) vor oder nach der Tat mit der tatortnahen Hecke in Kontakt gekommen sein könnte.
Vor allem aber fehlt es an einer erforderlichen Gesamtwürdigung, die erkennen lässt, dass die einzelnen Indizien, die für sich genommen einen geringen Beweiswert haben mögen, im Zusammenhang mit den anderen gesehen und auch zueinander in Bezug gesetzt worden sind. Die vom Landgericht floskelhaft erwähnte Gesamtschau (UA S. 15) wird dem nicht gerecht.
3. Die aufgezeigten Mängel können die Urteilsbildung beeinflusst haben. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Vornahme der erforderlichen Gesamtwürdigung die Einlassung des Angeklagten, er sei zu Boden gestürzt, mehrfach nach unten geschlagen worden und in eine Hecke geraten, zumindest nicht als widerlegt angesehen hätte. Damit hätte es die Einlassung des Angeklagten bei der Würdigung der Aussage des einzigen unmittelbaren Tatzeugen G. nicht unberücksichtigt lassen dürfen und vielmehr eine Gesamtwürdigung beider sich im Kerngeschehen widersprechender Aussagen vornehmen müssen. Im Ergebnis kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gebotenheit des Messereinsatzes als Notwehrhandlung zu Gunsten des Angeklagten zu erörtern gewesen wäre oder aber, dass zugunsten des Angeklagten weitere Umstände in die Strafzumessung hätten eingestellt werden müssen. Die Sache bedarf deshalb erneuter Prüfung und Entscheidung.
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RiBGH Prof. Dr. Fischer ist |
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