Entscheidungsdatum: 23.10.2012
Auf die Revision des Angeklagten werden die Urteile des Landgerichts Wiesbaden vom 11. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten durch zwei am gleichen Tag hintereinander ergangene Urteile in derselben Sache mit gleichem Tenor wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichen Führens einer Schusswaffe ohne die erforderliche Erlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen beide Urteile richtet sich die Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Beanstandung des Verfahrens Erfolg, so dass es auf die zugleich erhobene Sachbeschwerde sowie weitere Verfahrensrügen nicht mehr ankommt.
I.
Die Strafkammer verkündete am 11. Januar 2012 zunächst ein Urteil ohne dem Angeklagten zuvor das letzte Wort gewährt zu haben. Nach Verlesung der Urteilsformel und mündlicher Mitteilung der Gründe, ferner nach einer Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft und der Rechtsmittelbelehrung bemerkte die Schwurgerichtskammer ihr Versäumnis. Sie beschloss daraufhin gegen den Widerspruch der Verteidigung, erneut in die Hauptverhandlung einzutreten, um die versäumte Prozesshandlung nachzuholen. Nach Wiederholung der Schlussvorträge wurde dem Angeklagten das letzte Wort gewährt. Daraufhin verkündete die Strafkammer nach Beratung ein weiteres Urteil mit demselben Tenor.
II.
Die Rüge der Fehlerhaftigkeit dieses Verfahrens ist begründet.
1. Das zuletzt ergangene Urteil kann keinen Bestand haben, wobei offen bleiben kann, ob es, wie die Revision meint, von vornherein unwirksam ist und wegen Nichtigkeit nur in deklaratorischer Weise aufzuheben ist, oder ob es an einem Rechtsfehler leidet, der aufgrund der Revision zur förmlichen Aufhebung zwingt (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 1984 - 1 StR 874/83, NStZ 1984, 279).
Mit der mündlichen Bekanntgabe von Formel und Gründen war in der anhängigen Sache das Urteil ergangen; es war danach für das erkennende Gericht nicht mehr abänderbar oder ergänzbar. Für einen Wiedereintritt in die Hauptverhandlung sowie eine erneute Urteilsberatung und -verkündung war - unbeschadet der Identität der Urteilsformel - kein Raum.
Das Ziel nachträglich einen Verfahrensfehler formal zu "heilen", womit aber zugleich dem Angeklagten eine Rechtsmittelmöglichkeit versagt werden sollte, rechtfertigt eine solche Verfahrensweise nicht. Ein Fehler im Verfahren kann nicht dadurch geheilt werden, dass andere Verfahrensregeln von erheblicher Bedeutung verletzt werden.
2. Hinsichtlich des zuerst ergangenen Urteils hat die Revision mit der Verfahrensrüge des Fehlens schriftlicher Entscheidungsgründe Erfolg (§ 338 Nr. 7 StPO).
Mit den gemäß §§ 267, 275 Abs. 1 StPO zu den Akten zu bringenden schriftlichen Urteilsgründen bezeugen die beteiligten Berufsrichter durch ihre Unterschrift, dass es sich bei der Niederschrift um die Urteilsgründe handelt, die das Gericht aufgrund der Beratung und Abstimmung des Urteils in der Hauptverhandlung gewonnen hat. Die hier vorhandene Urteilsurkunde bezieht sich auf das zuletzt verkündete Urteil, auch wenn ihr Inhalt darüber nicht unmittelbar Aufschluss gibt. Dies folgt jedoch aus der Vorgehensweise des Landgerichts, das nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung, erneuter Entgegennahme der Schlussvorträge und Gewährung des letzten Wortes an den Angeklagten das Urteil beraten und verkündet hat. Die spätere Formulierung der schriftlichen Urteilsbegründung war unter Berücksichtigung der nachträglichen Prozesshandlungen erfolgt (Art. 103 Abs. 1 GG, § 261 StPO); sie kann nach Lage der Dinge nur auf der letzten Urteilsberatung beruhen. Dann aber fehlt eine alleine dem zuerst verkündeten Urteil zuzuordnende Urteilsurkunde. Das erste Urteil war deshalb ebenfalls aufzuheben (vgl. BGH aaO).
Becker Berger Krehl
Eschelbach Ott