Entscheidungsdatum: 26.04.2017
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. Dezember 2015, soweit die Angeklagte verurteilt worden ist, aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte unter Freispruch im Übrigen wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Formalrügen und auf sachlich-rechtliche Einwendungen gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Entgegen der Auffassung der Revision liegt dem Verfahren eine wirksame Anklageschrift und - daran anknüpfend - ein wirksamer Eröffnungsbeschluss zugrunde, da die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 21. Juli 2014 (noch) ihre Umgrenzungsfunktion erfüllt. Zwar benennt die Anklageschrift nicht im Einzelnen diejenigen Arbeitnehmer, welche die Angeklagte jeweils zu den Stichtagen „nicht bzw. nicht vollständig“ gegenüber der Einzugsstelle gemeldet haben soll; dies stellt die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift unter den hier gegebenen Umständen jedoch nicht in Frage (vgl. BGH, Beschluss vom 8. August 2012 - 1 StR 296/12, wistra 2012, 489, 490; siehe aber OLG Hamm, Beschluss vom 18. August 2015 - III-3 Ws 269/15, wistra 2016, 86, 87; OLG Celle, Beschluss vom 3. Juli 2013 - 1 Ws 123/13, juris Rn. 15).
a) Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift dient dazu, den Prozessgegenstand festzulegen, mit dem sich das Gericht aufgrund seiner Kognitionspflicht zu befassen hat. Deshalb sind in der Anklageschrift neben der Bezeichnung des Angeschuldigten Angaben erforderlich, welche die Tat als geschichtlichen Vorgang unverwechselbar kennzeichnen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zu urteilen hat (Senat, Urteil vom 2. März 2011 - 2 StR 524/10, BGHSt 56, 183, 186; BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 628/93, BGHSt 40, 44 f.; KK-StPO/Schneider, 7. Aufl., § 200 Rn. 31). Jede einzelne Tat muss sich als historisches Ereignis von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Angeschuldigten unterscheiden lassen, damit sich die Reichweite des Strafklageverbrauchs und Fragen der Verfolgungsverjährung eindeutig beurteilen lassen.
Die Umstände, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat ausfüllen, gehören hingegen - wie sich schon aus dem Wortlaut des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO ergibt - nicht zur Bezeichnung der Tat. Wann die Tat in dem sonach umschriebenen Sinne hinreichend umgrenzt ist, kann nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgelegt werden. Wird eine Vielzahl gleichartiger Einzelakte durch dieselbe Handlung des Angeschuldigten zu gleichartiger Tateinheit und damit prozessual zu einer Tat verbunden, genügt die Anklageschrift ihrer Umgrenzungsfunktion, wenn die Identität dieser Tat klargestellt ist und die Tat als historisches Ereignis hinreichend konkretisiert ist. Einer individualisierenden Beschreibung sämtlicher Einzelakte bedarf es bei einer solchen Fallgestaltung nicht, um den Prozessgegenstand unverwechselbar zu bestimmen. Darüber hinausgehende Angaben, die den Tatvorwurf näher konkretisieren, können zwar erforderlich sein, damit die Anklageschrift ihre Informationsfunktion erfüllt; ihr Fehlen lässt jedoch die Wirksamkeit der Anklageschrift unberührt.
b) Gemessen hieran ist die Umgrenzungsfunktion durch die Anklageschrift (noch) gewahrt, auch wenn im Anklagesatz keine Angaben dazu enthalten sind, welche konkreten Arbeitnehmer die Angeklagte als verantwortliche Geschäftsführerin der A. GmbH (künftig: A. GmbH) zu den jeweiligen Tatzeitpunkten gegenüber der Einzugsstelle „nicht oder nicht vollständig“ gemeldet haben soll.
aa) Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt der damaligen Angeschuldigten zur Last, sich im Zeitraum vom 19. Januar 2008 bis zum 27. November 2009 als Geschäftsführerin der A. GmbH in 23 Fällen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Sozialversicherungsbeiträgen schuldig gemacht zu haben, indem sie „fingierte Eingangsrechnungen“ angeblicher Subunternehmer in der Buchhaltung als Fremdleistung eingebucht habe, um damit Umsätze der Firma „abzudecken“ und Schwarzlohnzahlungen „an gemeldete und nicht gemeldete Arbeitnehmer der Firma zu ermöglichen“. Sie habe es sonach in 23 Fällen vorsätzlich unterlassen, die beschäftigten Arbeitnehmer sämtlich bzw. vollständig gegenüber der B. -B. als zuständiger Einzugsstelle zu melden und habe der Sozialkasse dadurch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in Höhe von insgesamt 3.491.293,31 Euro vorenthalten.
bb) Hinweise auf die konkrete Zahl der Arbeitnehmer und Angaben zu den der Einzugsstelle tatsächlich gemeldeten Arbeitnehmern oder Angaben zu den gemeldeten, tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden der Arbeitnehmer der A. GmbH zu den jeweiligen Tatzeitpunkten enthält der Anklagesatz nicht. Dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ist zu entnehmen, dass die Firma A. GmbH im Beitragszeitraum 2008 insgesamt 135 Arbeitnehmer, davon 21 als geringfügig Beschäftigte, und im Beitragszeitraum 2009 insgesamt 114 Arbeitnehmer, davon 8 in geringfügigem Umfang, beschäftigte. Hinsichtlich der im Anklagesatz für jeden Beitragsmonat nach Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil getrennt als vorenthalten festgehaltenen Beiträge ist nur der Hinweis enthalten, dass die Angeklagte „fingierte Eingangsrechnungen“ angeblicher Subunternehmer als Fremdleistungen in die Buchhaltung eingebucht habe, um mit diesen Scheinrechnungen Umsätze der Firma „abzudecken und so Schwarzlohnzahlungen an gemeldete und nicht gemeldete Arbeitnehmer der Firma zu ermöglichen“. Darüber hinaus sei die Nachberechnung „auf der Grundlage der ermittelnden Lohnsummen“ erfolgt und „die Nettoausgangswerte“ nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV auf einen Bruttolohn hochgerechnet worden.
Damit wurden zwar Art und Maß der der Angeklagten jeweils zur Last gelegten Unterlassung nicht schon aus dem Anklagesatz hinreichend deutlich. Die Taten sind gleichwohl hinreichend konkretisiert, zumal sämtliche Arbeitnehmer gegenüber ein- und derselben Einzugsstelle zu benennen gewesen wären.
cc) Die durch die Abfassung der Anklageschrift bedingten Mängel in der Informationsfunktion - insbesondere die nur vage Umschreibung der Tathandlung dahin, dass die Angeklagte die „bei der Firma beschäftigten Arbeitnehmer [...] nur zum Teil bzw. überhaupt nicht zur Sozialversicherung gemeldet“ habe und die offene Frage der Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge - sind im weiteren Verfahren erforderlichenfalls durch gerichtliche Hinweise zur Gewährung rechtlichen Gehörs entsprechend § 265 StPO auszugleichen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11, BGHSt 57, 88, 91; Urteil vom 9. November 2011 - 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523, 524; Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 45).
2. Die Verfahrensrüge einer Verletzung des § 265 Abs. 1 StPO ist begründet. Mit Recht beanstandet die Revision, dass der vom Vorsitzenden am Ende der Beweisaufnahme erteilte Hinweis, dass „etwaige Hinterziehungsbeiträge [...] ggf. auf anderem Wege aus den festgestellten Zahlen ermittelt werden“ müssten, inhaltlich den insoweit bestehenden Anforderungen nicht genügte.
Der Vorsitzende hat sich aufgrund der nach Durchführung der Beweisaufnahme veränderten Sachlage zu Recht als verpflichtet gesehen, die Angeklagte in entsprechender Anwendung des § 265 Abs. 1 StPO darauf hinzuweisen, dass „etwaige Hinterziehungsbeträge auf anderem Wege“ als über so genannte Abdeckrechnungen ermittelt werden müssten. Zwar handelt es sich - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hinweist - bei diesem der Angeklagten in der Anklageschrift zur Last gelegten aktiven Tun nicht um das tatbestandsmäßige Unterlassen im Sinne des § 266a StGB. Gleichwohl hat das der Angeklagten ursprünglich zur Last gelegte aktive Tun - wie seine Aufnahme in den im Übrigen knapp gehaltenen Anklagesatz belegt - erhebliche Bedeutung für den Tatnachweis sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. In Ansehung der Mängel der Informationsfunktion der Anklageschrift und der Veränderung der Beweisgrundlage wäre der Vorsitzende - über den vage gehaltenen Hinweis hinaus - verpflichtet gewesen mitzuteilen, auf welchem Wege das Gericht „etwaige Hinterziehungsbeträge“ zu berechnen beabsichtigt, ob es eine konkrete Berechnung der nicht abgeführten Beiträge für möglich hält oder die Voraussetzungen für eine Schätzung der vorenthaltenen Beiträge für gegeben erachtet (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635, 636).
Hieran fehlt es. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Angeklagte sich anders als geschehen verteidigt hätte, wenn der erforderliche Hinweis entsprechend konkret erteilt worden wäre.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:
Dem Tatgericht obliegt es nach ständiger Rechtsprechung, die geschuldeten Beiträge - für die jeweiligen Fälligkeitszeitpunkte gesondert - nach Anzahl, Beschäftigungszeiten, Löhnen der Arbeitnehmer und der Höhe des Beitragssatzes der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen (BGH, Beschlüsse vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93 und vom 22. März 1994 - 1 StR 31/94; Urteil vom 20. März 1996 - 2 StR 4/96, NStZ 1996, 543; Beschluss vom 20. April 2016 - 1 StR 1/16, NStZ 2017, 352, 353; Radtke in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 266a Rn. 61, 133), weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkassen sowie den gesetzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu berechnen ist (BGH, Urteil vom 11. August 2010 - 1 StR 199/10, NStZ-RR 2010, 376). Falls solche Feststellungen im Einzelfall nicht möglich sind, kann die Höhe der vorenthaltenen Beiträge auf Grundlage der tatsächlichen Umstände geschätzt werden (BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635, 636; Radtke in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 266a Rn. 136). Die Grundsätze, die die Rechtsprechung bei Taten nach § 370 AO für die Darlegung der Berechnungsgrundlagen der verkürzten Steuern entwickelt hat, gelten insoweit entsprechend (BGH, Beschluss vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93, StV 1993, 364; Urteil vom 11. August 2010 - 1 StR 199/10, NStZ-RR 2010, 376). Dementsprechend genügt es nicht, die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge lediglich der Höhe nach anzugeben (BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, NJW 2002, 2480, 2483). Vielmehr müssen die Urteilsgründe die Berechnungsgrundlagen und Berechnungen im Einzelnen wiedergeben (BGH, Beschluss vom 4. März 1993 - 1 StR 16/93, StV 1993, 364; Radtke in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 266a Rn. 133).
Darüber hinaus wird der neue Tatrichter auch den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts enthaltenen Hinweisen auf die dort im Einzelnen aufgeführten Mängel hinsichtlich der Berechnungsgrundlagen Rechnung zu tragen haben.
Gegebenenfalls wird auch zu prüfen sein, inwieweit dem Umstand, dass jedenfalls in zwei Fällen hypothetische Lohnsummen ermittelt worden sind, die unterhalb der an die Sozialversicherung gemeldeten Lohnsummen liegen, Rechnung getragen werden kann, um jede Beschwer der Angeklagten auszuschließen.
Appl |
RiBGH Prof. Dr. Krehl |
Eschelbach |
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Appl |
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Bartel |
RiBGH Dr. Grube |
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