Entscheidungsdatum: 10.08.2011
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 31. Januar 2011 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen
Das Landgericht hat es abgelehnt, gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 1 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
I.
Dem Urteil des Landgerichts liegt Folgendes zu Grunde:
1. Der heute 71-jährige Verurteilte, ein gelernter Kaufmann und ausgebildeter Rechtspfleger, ist seit seiner Jugend pädophil veranlagt. Sexuelle Stimulierung erlebt er nahezu ausschließlich im Umgang mit Kindern, vornehmlich Knaben. Zwar war er von 1981 bis 1992 kinderlos verheiratet, zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs kam es wegen einer Erektionsschwäche im Verlauf der Ehe jedoch nie. Vielmehr war schon in den 80-er Jahren bekannt geworden, dass der Verurteilte seit seinem 15. Lebensjahr an Jungen und auch Mädchen sexuelle Handlungen vorgenommen hatte. Dies rechtfertigt er damit, dass bei anderen Völkern Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern üblich seien.
2. Am 15. Januar 1999 wurde der bis dahin nicht vorbestrafte geständige Angeklagte durch das Landgericht Bad Kreuznach wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 99 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren (Einzelstrafen zwischen einem Jahr und einem Jahr und drei Monaten) verurteilt. Dem liegt folgendes Geschehen zu Grunde:
Im Zeitraum Juli 1984 - Januar 1987 manipulierte der Angeklagte in insgesamt sechs Fällen am Geschlechtsteil seiner am 2. Januar 1973 geborenen Stieftochter, wobei er in drei Fällen einen Finger in die Scheide einführte. Im Jahre 1990 nahm er an einem 13-jährigen Jungen in vier Fällen sexuelle Handlungen vor (Hand- und Oralverkehr, Penetration mit dem Finger). Von Frühjahr 1992 bis zum Dezember 1994 nahm der Angeklagte an einem 1980 geborenen Jungen, dessen Vertrauen und das seiner alleinerziehenden Mutter er sich zuvor erschlichen hatte, in mindestens 79 Fällen sexuelle Handlungen vor (Hand- und Oralverkehr, Penetration mit Fingern und Dildo), die er mit einer Videokamera aufzeichnete. Zwischen November 1997 bis zum 21. Juni 1998 manipulierte er in 10 Fällen das Glied eines 8-jährigen Jungen.
3. Das Landgericht vermochte im Urteil vom 15. Januar 1999 nicht auszuschließen, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten nur vermindert schuldfähig war. Dieser weise eine leichte Persönlichkeitsstörung auf, die sich in einem Mangel an Empathie und Einfühlungsvermögen offenbare. Hinzu trete seine abnorme Sexualität, die er in einer Intensität auslebe, die einen Verfall an die Sinnlichkeit und ein zwanghaftes süchtiges Erleben nicht ausschließbar erscheinen lassen. Dies seien Kriterien einer Perversion, die geeignet seien, die Steuerungsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. Abschließend wies das Landgericht in seinem Urteil darauf hin, dem Angeklagten solle eine von diesem angestrebte therapeutische Behandlung im Rahmen der Möglichkeiten des Strafvollzugs zuteil werden.
4. Der Verurteilte wurde am 20. Juli 2005 auf Bewährung entlassen. Der ihm erteilten Weisung, eine ambulante Verhaltenstherapie zu absolvieren, kam er nicht nach, weil die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnte. Wegen einer am 14. Juni 2006 begangenen Körperverletzung (Fußtritt gegen das Schienbein eines Jungen beim Fußballspiel) wurde er am 5. Dezember 2006 zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, am 8. Februar 2008 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen (Zeigen eines Pornoheftes vor zwei 11 und 13 Jahre alten Mädchen) zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Nach dem Widerruf der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung und erneuter Inhaftierung schubste und bedrängte er am 1. Mai 2009 in der Justizvollzugsanstalt einen Vollzugsbeamten.
5. Mit Verfügung vom 24. März 2010 beantragte die Staatsanwaltschaft die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Dies hat das Landgericht nach Anhörung zweier psychiatrischer Sachverständiger abgelehnt, weil während des Vollzugs keine neuen Tatsachen i.S.d. § 66b Abs. 1 StGB erkennbar geworden seien. Darüber hinaus seien von dem Verurteilten zwar erhebliche Straftaten, aber keine schwersten Verbrechen zu erwarten, wie dies vom Bundesgerichtshof (NStZ 2010, 565) im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495 ff.) vorausgesetzt werde. Am 9. März 2011 ist der Verurteilte aus der Haft entlassen worden.
II.
Das angefochtene Urteil hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
Mit rechtsfehlerfreier Begründung hat das Landgericht den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zurückgewiesen.
1. Zutreffend stellt die Strafkammer auf § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 StGB ab, deren formelle Voraussetzungen vorliegen. Nach umfassender Würdigung seiner Persönlichkeit, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung im Strafvollzug ist das Landgericht in Übereinstimmung mit den Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass von dem Verurteilten aufgrund seines Hanges eine erhebliche Gefahr ausgeht und dass er nach einer Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut derartige Straftaten begehen wird, wie sie der Anlassverurteilung zugrunde liegen. Nach wie vor sei eine abnorme Sexualität in Form der Pädophilie gegeben. Eine erfolgreiche therapeutische Aufarbeitung seiner Delinquenz sei bis heute nicht erfolgt.
2. Ob angesichts des konkreten Tatbildes die vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 - NJW 2011, 1931 ff.) bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber für die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung aufgestellten Voraussetzungen einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexualstraftaten und einer psychischen Störung bei dem Verurteilten im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz) vorliegen, kann hier dahinstehen. Das Landgericht hat nämlich bereits das Vorliegen prognoserelevanter "neuer" Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB rechtsfehlerfrei verneint:
a) Zutreffend ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass als "neu" in diesem Sinne nur solche Tatsachen gelten können, die dem im Ausgangsverfahren zuständigen früheren Tatrichter auch bei Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht nicht hätten bekannt werden können. Umstände, die für den ersten Tatrichter hingegen erkennbar waren, die er aber nicht erkannt hat, scheiden demgegenüber als neue Tatsachen in diesem Sinne aus (BGHSt 50, 180, 187; 50, 284, 296; 51, 185, 187; 52, 31, 33; BGH NJW 2006, 3154, 3155; StV 2008, 636, 637). Auch psychiatrische Befundtatsachen können im Einzelfall "neue" Tatsachen im Sinne des § 66b StGB darstellen. Dies setzt allerdings voraus, dass die zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen für den früheren Tatrichter nicht erkennbar waren und damit als "neu" im Sinne des § 66b StGB zu bewerten sind (BGH NStZ-RR 2006, 302; Senatsurteil vom 22. April 2009 - 2 StR 21/09). Eine bloße Um- bzw. Neubewertung bereits im Ausgangsverfahren erkannter und gewürdigter Tatsachen und eine hierauf gestützte bloße Änderung der psychiatrischen Bewertung genügen hingegen nicht (BGHSt 50, 275, 278; Rissing-van Saan/Peglau in LK-StGB 12. Aufl. § 66b Rn. 89). Ebenso wenig können Tatsachen, die zwar nach der Anlassverurteilung auftreten, durch die sich ein im Ausgangsverfahren bekannter bzw. erkennbarer Zustand aber lediglich bestätigt, als "neu" gelten (BGH StV 2007, 29, 30). Vielmehr ist Voraussetzung für die Einordnung der Anknüpfungstatsachen als "neue" Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB, dass sie die Gefährlichkeit des Betroffenen höher bzw. in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lassen (BGH StV 2008, 636, 638), etwa wenn sie belegen, dass sich eine bekannte Störung des Verurteilten in nicht vorhersehbarer Weise vertieft oder verändert hat (BGH StV 2007, 29, 30; Senatsurteil vom 22. April 2009 - 2 StR 21/09).
b) Gemessen an diesen Anforderungen hat die Strafkammer zu Recht entscheidend darauf abgestellt, dass die von ihr im Rahmen der Gefährlichkeitsbewertung herangezogenen Anknüpfungstatsachen bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung im Jahr 1999 vorlagen, für den damaligen Tatrichter auch erkennbar waren und mithin nicht "neu" sind.
Nach den Ausführungen der im Nachverfahren gehörten Sachverständigen liegt bei dem Verurteilten eine narzisstisch akzentuierte Persönlichkeit und eine sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie vor. Diese Diagnose steht im Einklang mit den Befunden des im Ausgangsverfahren tätig gewesenen Sachverständigen. Eine Intensivierung oder Veränderung des Zustandes des Verurteilten im Verlaufe der Haft hat nicht stattgefunden. Die dem Urteil vom 8. Februar 2008 zugrunde liegenden Tat (Zeigen eines Pornoheftes vor zwei 11 und 13 Jahre alte Mädchen) bestätigt lediglich die bereits im Jahre 1999 diagnostizierte pädophile Veranlagung und belegt keine im Vergleich zu früher erhöhte Gefährlichkeit des Verurteilten.
Die von dem Verurteilten im Jahre 2006 begangene Körperverletzung (Fußtritt gegen das Schienbein eines Jungen beim Fußballspiel) und das Schubsen eines Justizvollzugsbeamten im Jahre 2009 stehen in keinem Zusammenhang mit der zu erwartenden Sexualdelinquenz. Die spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten im Hinblick auf - gewaltfreien - sexuellen Missbrauch von Kindern findet in diesen Taten keine Entsprechung; mithin handelt es sich auch insoweit nicht um neue Tatsachen i.S.d. § 66b Abs. 1 StGB.
Zu Recht hat es die Strafkammer auch nicht für ausreichend erachtet, dass die während des Vollzugs durchgeführten Therapiemaßnahmen nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt haben. Zwar kann eine Therapieunwilligkeit eines Verurteilten, der im Ausgangsverfahren wahrheitswidrig ausdrücklich seine Therapiebereitschaft bekundet hat, als "neue Tatsache" im Sinne des § 66b StGB bewertet werden (BGHSt 50, 275, 281). Eine Therapieverweigerung des Verurteilten ist hier jedoch nicht gegeben. Der Verurteilte hat ausweislich der Urteilsgründe im Ausgangsverfahren eine therapeutische Behandlung angestrebt, "die ihm aus der Sicht der Kammer im Rahmen dessen, was in der Strafvollstreckung möglich ist, auch zuteil werden sollte" (UA S. 8). Tatsächlich hat er entsprechend den Feststellungen im Nachverfahren vom 21. April 1999 bis zum 1. März 2002, also über nahezu drei Jahre hinweg, therapeutische Einzelgespräche mit dem psychologischen Psychotherapeuten in der Justizvollzugsanstalt geführt, bevor der Therapeut die Sitzungen beendete, da seiner Ansicht nach kein Ansatz mehr für weitere Gespräche vorhanden war. Die Bemühungen des Verurteilten um eine Fortsetzung der Therapie mündeten ab dem 9. März 2004 in therapeutische Einzelsitzungen bei einem anstaltsexternen Psychotherapeuten. Dass er nach seiner bedingten Entlassung im Jahre 2005 weisungswidrig eine ambulante Verhaltenstherapie nicht durchgeführt hat, lag in der fehlenden Kostenübernahme durch die Krankenkasse begründet.
Dass die Therapiebemühungen letztlich bei dem Verurteilten zu keinem Verhaltenswechsel geführt haben, stellt keine neue Tatsache im Sinne des § 66b StGB dar. Allein das Misslingen einer Therapie lässt die Gefährlichkeit eines Verurteilten weder erstmals hervortreten noch rechtfertigt sie deren Neubewertung; es verdeutlicht lediglich, dass dessen bereits bestehende und erhöhte Gefährlichkeit durch den Vollzug der Freiheitsstrafe nicht beseitigt werden konnte (vgl. BGH NStZ 2007, 328). Hier ergeben sich aus den Urteilsgründen keine Hinweise darauf, dass sich das Gericht der Anlassverurteilung eine Überzeugung von den Erfolgsaussichten einer während des Strafvollzuges zu absolvierenden Therapie gebildet hat, die die erkennbare Gefährlichkeit des Verurteilten hätte beseitigen können (vgl. BGH NJW 2008, 3010, 3011). Im Übrigen hätte schon dem Ausgangsgericht die voraussichtliche Erfolgslosigkeit bekannt werden können. Zahlreiche gewichtige Umstände sprachen gegen einen Erfolg der therapeutischen Behandlung, wie z.B. das Bestehen pädophiler Neigungen seit frühester Jugend, die große Anzahl der Taten über einen Zeitraum von 13 Jahren, die Auswahl beliebiger Opfer, die Vornahme diverser auf Video festgehaltener sexueller Praktiken, sein Empathiemangel oder auch der rechtfertigende Verweis auf die Bräuche anderer Völker. Angesichts dieser zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits zu Tage liegenden, gegen die Erfolgsaussicht einer Therapie im Strafvollzug sprechenden gewichtigen Umstände hätte es demnach bereits dem über die Anlasstaten befindenden Gericht offen gestanden, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit zu ergreifen. Dass der Tatrichter im Ausgangsverfahren offenkundig nicht in einen die Frage der Sicherungsverwahrung betreffenden Erkenntnisprozess eingetreten ist, obwohl bereits zum damaligen Zeitpunkt die formellen Anordnungsvoraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vorlagen und nach den Feststellungen die Kriminalprognose des Verurteilten negativ zu beurteilen war, führt nicht dazu, die bereits bekannten Tatsachen als "rechtlich neu erkennbar" zu bewerten (BGH StV 2007, 29, 30). Denn das Verfahren nach § 66b StGB dient nicht der nachträglichen Korrektur früherer Entscheidungen, in denen die Anordnung der Sicherungsverwahrung - von der Staatsanwaltschaft unbeanstandet - rechtsfehlerhaft unterblieben ist (vgl. BGHSt 50, 121, 126; 180, 188; 275, 278; 284, 297; NJW 2006, 3154; StV 2008, 636, 637).
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