Bundesverfassungsgericht

Entscheidungsdatum: 15.07.2016


BVerfG 15.07.2016 - 2 BvR 857/14

Nichtannahmebeschluss: Zum Anspruch auf nachträgliches rechtliches Gehör im strafprozessualen Beschwerdeverfahren bzgl Eingriffsmaßnahmen, die ohne Anhörung des Betroffenen angeordnet worden waren (§ 33 Abs 4 S 1 StPO) - Beschuldigter muss auch im Anwendungsbereich des § 33 Abs 3 StPO im Beschwerdeverfahren Möglichkeit zur Stellungnahme zu Erklärungen der Staatsanwaltschaft gem § 33 Abs 2 StPO erhalten - hier: Heilung der Gehörsverletzung im Anhörungsrügeverfahren nach § 33a StPO


Gericht:
Bundesverfassungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
15.07.2016
Aktenzeichen:
2 BvR 857/14
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20160715.2bvr085714
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Bielefeld, 31. März 2014, Az: 02 Qs 592/13, Beschlussvorgehend LG Bielefeld, 10. Januar 2014, Az: 02 Qs-336 Js 1434/13- 592/13, Beschluss
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

1

1. In einem Strafverfahren gegen einen gesondert verfolgten Beschuldigten fanden die Ermittlungsbehörden bei einer Wohnungsdurchsuchung 1,5 kg Amphetamine sowie Listen, aus denen sich ergab, an wen und für welche Summe der Wohnungsbesitzer Betäubungsmittel verkauft hatte. Die Ermittlungsbehörden ordneten einen in dieser Namensliste enthaltenen Spitz- oder Codenamen aufgrund eines Eintrags in dem Mobiltelefon des gesondert Beschuldigten dem Beschwerdeführer zu; dieser Name wies zwar keine Gemeinsamkeiten mit dem bürgerlichen Namen des Beschwerdeführers auf, ließ jedoch einen Bezug zu seinem Unternehmen erkennen. Das Amtsgericht ordnete die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers wegen des Verdachts des Erwerbs nicht geringer Mengen von Amphetaminen an. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein und machte geltend, dass die Zuordnung des Listennamens zu ihm allenfalls eine Vermutung darstelle. Er habe nie unter dem ihm zugeordneten Spitznamen firmiert und da es sich bei den anderen in der Liste enthaltenen Namen jeweils um Klarnamen gehandelt habe, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der gesondert verfolgte Beschuldigte lediglich bei ihm eine Ausnahme gemacht habe. Zudem sei die Durchsuchung unverhältnismäßig, da mildere Mittel zur Aufklärung des Tatverdachts zur Verfügung gestanden hätten. Die Staatsanwaltschaft nahm zu der Beschwerdebegründung Stellung und führte aus, dass die Namensliste mindestens sieben im Weiteren aufgeführte Spitznamen enthalten habe.

2

2. Das Landgericht verwarf die Beschwerde, ohne dem Beschwerdeführer oder seinem Prozessbevollmächtigten zuvor die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft übermittelt zu haben. In seinem Beschluss zitierte das Landgericht die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft und schloss sich dieser ohne weitere eigene Begründung an.

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3. Der Beschwerdeführer erhob Anhörungsrüge (§ 33a StPO). Das Landgericht habe sein Recht auf rechtliches Gehör verletzt, da es ihm vor der Entscheidung keine Gelegenheit gegeben habe, sich mit der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft auseinanderzusetzen. Im Übrigen vertiefte und erweiterte er sein Beschwerdevorbringen.

4

4. Das Landgericht verwarf die Anhörungsrüge als unzulässig. Soweit der Beschwerdeführer rüge, dass ihm die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vor der Entscheidung des Landgerichts nicht zur Kenntnis gegeben worden sei, begründe dies keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Kammer sei nicht gehalten gewesen, die Ausführungen der Staatsanwaltschaft vor der Beschlussfassung an den Verteidiger zu übersenden. Eine derartige Verpflichtung bestehe nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 33 Abs. 3 StPO nur, wenn Tatsachen oder Beweisergebnisse zum Nachteil eines Beteiligten verwertet werden sollten, zu denen er noch nicht gehört worden sei. Im Weiteren legte das Landgericht dar, warum auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des Beschwerdeführers die Durchsuchungsanordnung nicht zu beanstanden sei.

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5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 13 GG, da ein hinreichender Tatverdacht nicht bestanden habe und die Durchsuchungsanordnung unverhältnismäßig gewesen sei.

II.

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Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung liegen nicht vor (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

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1. Das Landgericht hat zwar zunächst den Anspruch des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (a). Es hat die Gehörsverletzung jedoch im Rahmen der Entscheidung über die Anhörungsrüge geheilt (b).

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a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 47, 182 <187 f.>; 49, 212 <215>, stRspr) und vermittelt den Beteiligten einen umfassenden Anspruch, über den gesamten Prozessstoff kommentarlos und ohne Einschränkungen unterrichtet zu werden (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 2014 - 2 BvR 969/14, Rn. 49, juris). Maßgebend ist dabei der Gedanke, dass die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit haben müssen, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (BVerfGE 22, 114 <119>; 49, 212 <215>; 89, 28 <35>; 101, 106 <129>). Dazu müssen sie grundsätzlich Gelegenheit haben, sich zu Stellungnahmen der Gegenseite in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>; 49, 325 <328>; BVerfGK 7, 438 <441>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. August 1992 - 2 BvR 628/92 -, Rn. 10, juris; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2009 - 2 BvR 1575/09 -, Rn. 3, juris; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2010 - 2 BvR 1183/09 -, Rn. 22, juris). Dies gilt unabhängig davon, ob eine Äußerung im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 2014 - 2 BvR 969/14 -, Rn. 49, juris), da der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren dient (vgl. BVerfGE 107, 395 <409>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2011 - 2 BvR 301/11 -, Rn. 2, juris; EGMR, Ziegler v. Switzerland, Urteil vom 21. Februar 2002, Nr. 33499/96, § 38; Steck-Risch et al. v. Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00, § 57). Will das Beschwerdegericht einer Beschwerde nicht oder nur teilweise stattgeben, so muss es den Beschwerdeführer zum Vorbringen der anderen Verfahrensbeteiligten und zum Ergebnis etwaiger Ermittlungen hören (vgl. zu § 308 StPO: Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 308 Rn. 8).

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§ 33 Abs. 3 StPO sichert den Anspruch auf rechtliches Gehör für den Fall, dass bei Beschlüssen außerhalb der Hauptverhandlung andere Beteiligte durch die für sie nachteilige Verwertung von Tatsachen oder Beweisergebnissen belastet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 1962 - 2 BvR 173/60 -, BVerfGE 14, 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Januar 1994 - 2 BvR 1912/93 - NJW 1994, S. 783). Die Vorschrift bietet jedoch nicht die Grundlage dafür, den Anspruch auf rechtliches Gehör abweichend von Art. 103 Abs. 1 GG einzuschränken, auch wenn sie sich ihrem Wortlaut nach auf eine Pflicht zur Gehörsgewährung im Hinblick auf Tatsachen und Beweisergebnisse beschränkt (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Januar 2006 - 2 BvR 1075/05 - NJW 2006, S. 1048). Erst recht ermöglicht sie es nicht, eine Entscheidung zu Lasten des Beschuldigten zu treffen, ohne dass dieser die Möglichkeit hatte, zu der nach § 33 Abs. 2 StPO stets erforderlichen mündlichen oder schriftlichen Erklärung der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen zu können. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör, der sowohl objektivrechtliches Verfahrensprinzip als auch ein prozessuales Urrecht des Menschen ist, gewinnt besondere Bedeutung gerade dann, wenn im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet werden können (§ 33 Abs. 4 Satz 1 StPO); in einem solchen Fall ist dem Gehörsrecht im Beschwerdeverfahren uneingeschränkt zur Wirkung zu verhelfen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Januar 2006 - 2 BvR 1075/05 - NJW 2006, S. 1048).

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Nach diesen Grundsätzen hat das Landgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt, indem es ihm oder seinem Verteidiger die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vor der Entscheidung über seine Beschwerde nicht zur Kenntnis gegeben hat. Indem das Landgericht sich die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, die dem Vorbringen des Beschwerdeführers, dass in der Kundenliste keine anderen Spitz- oder Codenamen zu finden seien, durch die Benennung sechs weiterer in der Kundenliste enthaltenen Spitznamen entgegentrat, ausdrücklich zu Eigen gemacht hat, hat es Tatsachen zu Lasten des Beschwerdeführers verwertet, zu denen dieser zuvor nicht hatte Stellung nehmen können. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG wäre indes hiervon unabhängig auch dann zu bejahen, wenn die von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen Tatsachenbehauptungen für die Entscheidung des Landgerichts keine Rolle gespielt hätten. Denn auch in diesem Fall hätte ihm vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt werden müssen.

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b) Der Gehörsverstoß des Landgerichts ist jedoch durch die Entscheidung über die Anhörungsrüge geheilt worden. Nach Art. 103 Abs. 1 GG beruht eine Entscheidung nur dann auf einem Gehörsverstoß und ist deshalb aufzuheben, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung zu einer für die Beteiligten günstigeren Lösung geführt hätte (vgl. BVerfGE 7, 239 <241>; 13, 132 <145>; 52, 131 <152 f.>; 89, 381 <392 f.>; stRspr). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann auch in einem Beschluss geheilt werden, mit dem die Anhörungsrüge als unbegründet zurückgewiesen wird (BVerfGK 15, 116 <119 f.>). Denn der Rechtsbehelf der Anhörungsrüge bezweckt die Heilung von Verletzungen des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 107, 395 <410 ff., 416>). Eine Heilung von Gehörsverstößen in der gleichen oder einer weiteren Instanz hat die Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon vor der Einführung der Anhörungsrüge als grundsätzlich möglich angesehen, wenn das betreffende Gericht in der Lage ist, das Vorbringen zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 5, 22 <24>; 62, 392 <397>; 73, 322 <326 f.>; 107, 395 <411 f.>). Diese Voraussetzung ist im Rahmen des Anhörungsrügeverfahrens jedenfalls dann als erfüllt anzusehen, wenn das Gericht einem Gehörsverstoß durch bloße Rechtsausführungen im Anhörungsrügebeschluss zum Vorbringen des Betroffenen in der Anhörungsrüge abhelfen kann. In einem solchen Fall wäre es reine Förmelei, von Verfassungs wegen die Fortführung des Verfahrens zu verlangen, obwohl sich das Gericht schon unter Berücksichtigung des übergangenen Vortrags eine abschließende Meinung gebildet hat und klar ist, dass eine für den Beteiligten günstigere Lösung ausgeschlossen ist, also die Entscheidung nicht auf der Gehörsverletzung beruht. Etwas anderes gilt freilich in Fällen, in denen das Gericht den Gehörsverstoß durch bloß ergänzende Erwägungen zum Vorbringen in der Anhörungsrüge nicht zu heilen vermag, wie etwa beim Übergehen eines erheblichen Beweisantrags (vgl. BVerfGE 50, 32 <35>; 60, 247 <249>; BVerfGK 15, 116 <119 f.>).

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Das Landgericht hat zu dem weiteren und vertieften Vortrag des Beschwerdeführers im Rahmen der Anhörungsrügeentscheidung Stellung genommen und im Einzelnen begründet, weshalb es den Durchsuchungsbeschluss auch unter Berücksichtigung der Einwände als verhältnismäßig ansehe. Damit hat es seinen Gehörsverstoß im Rahmen des Anhörungsrügeverfahrens geheilt.

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2. Eine Verletzung weiterer Grundrechte des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich. Insbesondere bestand ein hinreichender Tatverdacht für die Durchsuchungsanordnung, die auch nicht unverhältnismäßig war.

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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

15

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.