Entscheidungsdatum: 23.10.2014
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. September 2010 - 20 W 480/08 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Das Land Hessen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob nach Ablehnung des Asylgesuchs im Flughafenverfahren eine Unterbringung im Transitbereich des Flughafens eine Freiheitsentziehung darstellt, die nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG umgehend der richterlichen Anordnung bedarf, und ob diese Frage unter Beachtung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zunächst dem Bundesgerichtshof vorzulegen war.
1. Die syrische Beschwerdeführerin traf am 30. Dezember 2007 ohne Personaldokumente am Flughafen Frankfurt am Main ein. Ihr noch im Transitbereich gestellter Asylantrag wurde am 14. Januar 2008 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Einen hiergegen gerichteten Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht am 23. Januar 2008 ab. Auf Antrag des Bundespolizeiamtes vom 27. Januar 2008 ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main am 28. Januar 2008 zur Sicherung der Abreise der Beschwerdeführerin ihre Unterbringung im Transitbereich an (§ 15 Abs. 6 AufenthG), weil für die Vollziehung der Zurückweisung zunächst Heimreisedokumente zu beschaffen waren. Nachdem dies nicht zeitnah möglich war, wurde der Beschwerdeführerin im weiteren Verfahren die Einreise in die Bundesrepublik gestattet.
2. Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Feststellung, dass ihre Unterbringung im Transitbereich vom 24. Januar 2008 bis zum 28. Januar 2008 mangels richterlicher Anordnung rechtswidrig gewesen sei, wies das Amtsgericht Frankfurt am Main zurück. Aus dem Gesetz ergebe sich die Erforderlichkeit einer richterlichen Entscheidung erst mit Ablauf einer Frist von 30 Tagen. Diese Frist sei eingehalten worden.
3. In der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde machte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, dass eine Freiheitsentziehung vorliege, wenn dem Betroffenen eine Abreise nicht möglich sei. Die 30-Tages-Frist des § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG finde in diesem Fall keine Anwendung, vielmehr sei eine sofortige richterliche Entscheidung erforderlich.
4. Das Landgericht Frankfurt am Main führte in dem die sofortige Beschwerde zurückweisenden Beschluss aus, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Begrenzung des Aufenthalts auf den Transitbereich eines Flughafens während des laufenden Asylverfahrens keine Freiheitsentziehung oder -beschränkung darstelle (BVerfGE 94, 166 <198 f.>), gelte auch in den Fällen, in denen das Asylverfahren vor Ablauf der 30-Tages-Frist abgeschlossen werde oder der Betroffene keinen Asylantrag stelle. Da jeder Staat berechtigt sei, den Zutritt zu seinem Staatsgebiet frei zu regeln, sei der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht berührt. Die mit dem Fehlen von Personalpapieren verbundene faktische Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Einzelfall sei keine der deutschen Staatsgewalt zurechenbare Maßnahme, sondern liege in der Verantwortung des betroffenen Ausländers. § 15 Abs. 6 AufenthG sei vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass ein Verlassen des Transitbereichs in Richtung eines ausländischen Staates nur grundsätzlich möglich sein müsse.
5. Mit ihrer sofortigen weiteren Beschwerde verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Begehren weiter und verwies insbesondere auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München (Beschluss vom 12. Dezember 2005 - 34 Wx 157/05 -, InfAuslR 2006, S. 139 f.) und des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Beschluss vom 5. November 1996 - 20 W 352/96 - und vom 26. Februar 1997 - 20 W 428/96 -, InfAuslR 1997, S. 47 f., 226 ff.), wonach es sich jedenfalls nach Abschluss des Asylverfahrens bei der Unterbringung im Transitbereich um eine Freiheitsentziehung handele, wenn dem Betroffenen das Verlassen des Bundesgebiets tatsächlich oder rechtlich unmöglich sei.
6. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main wies die sofortige weitere Beschwerde zurück und schloss sich zur Frage des Vorliegens einer Freiheitsentziehung der Auffassung des Landgerichts an. Die von der Beschwerdeführerin zitierten Entscheidungen seien überholt, weil sie vor Inkrafttreten des § 15 Abs. 6 AufenthG ergangen seien.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Beschlüsse des Amtsgerichts, Landgerichts und Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und macht geltend, sie hätte bereits am 24. Januar 2008 einem Richter vorgeführt werden müssen. Bei der Unterbringung im Transitbereich handele es sich jedenfalls nach Abschluss des Asylverfahrens um eine Freiheitsentziehung, sofern dem Betroffenen die umgehende Abreise rechtlich oder tatsächlich unmöglich sei. Unerheblich sei dabei, ob dem Betroffenen seine Lage selbst zuzurechnen sei, etwa weil er seine Personaldokumente vernichtet habe. Diese Rechtslage habe sich mit der Neuregelung des § 15 Abs. 6 AufenthG nicht geändert. Die Vorschrift bestimme nur, dass nach Ablauf von 30 Tagen eine richterliche Anordnung selbst dann erforderlich sei, wenn dem Betroffenen eine Abreise möglich sei. Andernfalls sei eine richterliche Entscheidung sofort herbeizuführen. Der Gesetzgeber könne den Schutzbereich des Freiheitsgrundrechts nicht durch einfaches Gesetz festlegen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Flughafenverfahren betreffe nur den Zeitraum vor Abschluss des Asylverfahrens.
1. Das Hessische Justizministerium, das Bundesministerium des Innern und der Präsident des Bundesgerichtshofs hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
2. Das Bundesministerium des Innern hält eine Freiheitsentziehung aus den in BVerfGE 94, 166 ff. dargelegten Gründen, die es ebenso wie die Fachgerichte auch auf den Zeitraum nach erfolglosem Abschluss des Flughafenverfahrens erstreckt, für nicht gegeben. Die Verfassungsbeschwerde sei daher mangels Rechtsschutzbedürfnisses nach Erledigung der Maßnahme bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet, weil Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG nicht berührt sei. Die 2007 eingeführte Regelung des § 15 Abs. 6 AufenthG sei kein Indiz für eine Verschiebung der in BVerfGE 94, 166 ff. aufgestellten Maßstäbe, sondern trage der belastenden Wirkung längerer Unterbringungen Rechnung, wenn der Vollzug der Zurückweisung nicht umgehend möglich sei. Letzteres lasse sich innerhalb des Zeitraums von 30 Tagen absehen, wobei die Formulierung ("spätestens") genügend Spielraum für eine angemessene Einzelfallentscheidung biete. Der Gesetzgeber sei ausdrücklich davon ausgegangen, dass auch bei längerer Unterbringung keine Freiheitsentziehung oder -beschränkung vorliege. Im Übrigen habe die Beschwerdeführerin die Möglichkeit ihrer Ausreise selbst verzögert, indem sie ohne Papiere eingereist sei.
3. Die Beschwerdeführerin entgegnet, an der Flughafenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestünden angesichts der anderslautenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ohnehin Bedenken, und wiederholt, dass das Bundesverfassungsgericht keine Aussage für eine Unterbringung nach Abschluss des Asylverfahrens treffe. Sie habe die für die Unterbringung vorgesehenen Räume im Transitbereich des Flughafens tatsächlich nicht verlassen können. Die Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit auf diese Unterbringungsräume sei eine Freiheitsentziehung im Sinne des damals geltenden § 2 FEVG und der öffentlichen Gewalt zuzurechnen, so dass es auf die Frage der Zurechnung von Beschränkungen für das luftseitige Verlassen des Hoheitsgebiets nicht mehr ankomme. Das Vorliegen einer Freiheitsentziehung könne auch nicht von einem Verschulden abhängig gemacht werden. Es könne vor Ablauf der 30 Tage nicht im Ermessen der Bundespolizei stehen, zu bestimmen, ab wann eine Unterbringung richterlich zu überprüfen sei.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main richtet, nimmt die Kammer sie zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE 42, 237 <240 ff.>). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet. Danach liegen die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung vor.
1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 ist verletzt, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht willkürlich außer Acht lässt (BVerfGE 13, 132 <143>; 42, 237 <241>; 76, 93 <96>; 87, 282 <285>). Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil das Oberlandesgericht gemäß § 28 Abs. 2 FGG, Art. 111 FGG-RG zur Vorlage des Rechtsstreits an den Bundesgerichtshof verpflichtet und die Nichtvorlage objektiv unter keinem Gesichtspunkt vertretbar war.
a) Die Kammer konnte einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter prüfen, obwohl die Beschwerdeführerin Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht gerügt hat. Im Rahmen einer zulässig erhobenen Verfassungsbeschwerde ist das Bundesverfassungsgericht nicht darauf beschränkt, zu untersuchen, ob die gerügte Grundrechtsverletzung vorliegt. Es kann die angegriffenen Entscheidungen vielmehr unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit hin überprüfen (vgl. BVerfGE 42, 237 <240 f.>; 312 <325 f.>; 54, 117 <124>; 71, 202 <204>; 113, 29 <46 f.>; 124, 235 <241 f.>).
b) Das Oberlandesgericht war gemäß § 28 FGG in der bis zum Inkrafttreten der Gesetzesreform am 1. September 2009 gültigen (Art. 112 Abs. 1 FGG-RG) und nach Art. 111 Abs. 1 und Abs. 2 FGG-RG weiterhin anwendbaren Fassung zur Vorlage an den Bundesgerichtshof verpflichtet, weil es bei der Entscheidung über eine weitere Beschwerde von der auf weitere Beschwerde ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abwich. Zumindest die ebenfalls auf sofortige weitere Beschwerde ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 12. Dezember 2005 ist eine Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts im Sinne von § 28 Abs. 2 FGG, die die entscheidungserhebliche Rechtsfrage anders beantwortete und damit zu einem anderen Ergebnis kam. Denn das Oberlandesgericht München vertrat nach ausführlicher Erörterung des Meinungsstands in Rechtsprechung und Literatur die Auffassung, dass eine Freiheitsentziehung vorliege, wenn ein abgelehnter Asylbewerber, dessen Zurückweisung nicht ohne Verzögerung vollzogen werden kann, gegen seinen Willen im Transitbereich des Flughafens untergebracht werde (Beschluss vom 12. De-zember 2005 - 34 Wx 157/05 -, InfAuslR 2006, S. 139, 141).
Dass § 15 Abs. 6 AufenthG erst nach dieser Entscheidung eingeführt worden ist, ist unerheblich. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts im hier angegriffenen Beschluss bleibt die vor Einführung von § 15 Abs. 6 AufenthG ergangene Rechtsprechung für die entscheidungserhebliche Rechtsfrage relevant. Denn die Gesetzesänderung hat jedenfalls für den Zeitraum vor Ablauf der 30-Tage-Frist keine Klärung herbeigeführt. Auch für den Zeitraum nach Ablauf der 30 Tage ist nicht abschließend geklärt, ob eine verfassungsrechtliche oder lediglich eine einfach-gesetzliche Verpflichtung für eine richterliche Anordnung besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10 -, InfAuslR 2011, S. 449). Nach wie vor stellt sich nach Ablehnung des Asylgesuchs daher die Frage, ob die Unterbringung im Transitbereich eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darstellt, die gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG der richterlichen Anordnung bedarf. Allein vor dem Hintergrund dieser weiterhin streitigen Rechtsfrage (vgl. zum Streitstand Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Bd. II, § 15 Rn. 127 ff., 66. ErgL Dezember 2012) ist zu klären, wie § 15 Abs. 6 AufenthG den Vorgaben der Verfassung entsprechend und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 25. Juni 1996 - Nr. 17/1995/523/609, Amuur ./. Frankreich, InfAuslR 1997, S. 49 ff.; Urteil vom 24. Januar 2008 - Nr. 29787/03 und 29810/03, Riad und Idiab ./. Belgien) auszulegen ist.
c) Die Voraussetzungen für die Pflicht zur Vorlage an den Bundesgerichtshof lagen mithin zweifelsfrei vor; das Unterlassen der Vorlage war sachlich nicht vertretbar. Obwohl die divergierende Rechtsprechung von der Beschwerdeführerin ausdrücklich in das Verfahren eingebracht wurde und derselbe Senat des Oberlandesgerichts bereits anderslautende Entscheidungen getroffen hatte, fehlt eine Auseinandersetzung mit der Vorlagefrage. Die bloße Feststellung, dass § 15 Abs. 6 AufenthG erst nach der anderslautenden Rechtsprechung eingeführt wurde, führt angesichts der weiterhin ungeklärten Rechtsfrage nicht dazu, dass die Vorlage vertretbar unterbleiben konnte. Insoweit hat das Oberlandesgericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. September 2010 ist aufzuheben, ohne dass es einer Entscheidung über die weiteren hiergegen gerichteten Rügen der Beschwerdeführerin bedarf. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Soweit die Beschwerdeführerin die Verletzung von Rechten durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts geltend macht, steht der Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegen (vgl. BVerfGK 7, 350 <357>; 15, 37 <53>).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. dazu auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.