Entscheidungsdatum: 08.03.2017
1. Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Rostock vom 29. September 2016 - 431 Js 16463/16 - verletzt, soweit sie in ihren Gründen eine Schuldfeststellung enthält, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Sie wird mit ihren Gründen aufgehoben. Die Sache wird insoweit an die Staatsanwaltschaft Rostock zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
4. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die Begründung der Entscheidung zum Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 JGG.
Die Staatsanwaltschaft Rostock führte - unter dem Aktenzeichen 431 Js 16463/16 - gegen den am 15. August 2001 geborenen Beschwerdeführer ein Er-mittlungsverfahren wegen des Verdachts der Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB. Ihm wurde zur Last gelegt, er habe zusammen mit einem gleichaltrigen Freund am 25. Dezember 2015 im Bereich des Rostocker Hafens einen Stromkasten sowie zwei ummauerte Sitzbänke mit lila Farbe besprüht. Die für die Reinigung anfallenden Kosten werden auf etwa 500 Euro geschätzt. Die Hansestadt Rostock stellte wegen dieses Vorfalls Strafanzeige gegen unbekannt. Aufgrund der Beobachtungen eines Zeugen wurde der Beschwerdeführer in der Nähe des Tatortes von der Polizei angetroffen; der ihn begleitende Freund wies an den Fingernägeln entsprechende Farbspuren auf.
Der Beschwerdeführer ließ über einen von seinem Vater beauftragten Rechtsanwalt den Tatvorwurf bestreiten. An dem fraglichen Ort seien unterschiedliche Gruppierungen von Jugendlichen unterwegs gewesen. Die Beschreibung des Zeugen treffe auf den Beschwerdeführer nicht zu. Zudem sei in rechtlicher Hinsicht der objektive Tatbestand einer Sachbeschädigung nicht erfüllt, weil die Tatobjekte bereits zuvor flächendeckend bemalt worden seien.
Am 29. September 2016 traf der sachbearbeitende Oberstaatsanwalt folgende Verfügung:
[…]
3. Vermerk:
Die Beschuldigten K. und W. [Name des Beschwerdeführers] haben das Unrecht der Tat eingesehen und sind bisher noch nicht strafrechtlich aufgefallen.
Ferner ist der eingetretene Schaden gering.
Eine Ahndung durch den Richter ist daher entbehrlich.
4. Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG bezüglich der Beschuldigten K. und W.
(Erledigungskennziffer: 409)
Tatvorwürfe (für Mitteilung an Erziehungsregister):
K. - Sachbeschädigung (§ 303 StGB)
W. - Sachbeschädigung (§ 303 StGB)
5. Kein Bescheid - amtliches Einschreiten.
6. Einstellungsnachricht an
a) Verteidigerin L. für Beschuldigten K.
b) Verteidiger E. für Beschuldigten W.
[…]
Mit Datum vom 29. September 2016 teilte die Staatsanwaltschaft Rostock dem Verteidiger des Beschwerdeführers das Absehen von der Verfolgung mit folgendem (beglaubigtem) Schreiben mit:
Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt E.,
Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht, die normalerweise eine Anklageerhebung und eine Gerichtsverhandlung zur Folge hätte. Ausnahmsweise werde ich aber in diesem Fall von der weiteren Verfolgung absehen, weil mir sein Verschulden nicht groß erscheint.
Sein Verhalten wird jedoch ausdrücklich gerügt, und er wird eindringlich vor weiteren Verfehlungen gewarnt. Im Wiederholungsfall kann er mit einer solchen Beendigung des Verfahrens nicht rechnen.
Das Absehen von der Verfolgung ist gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 7 Bundeszentralregistergesetz mit einer Eintragung in das Erziehungsregister […] verbunden. […].
1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der - durch seine Eltern gesetzlich vertretene - Beschwerdeführer einen Verstoß gegen die im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleistete Unschuldsvermutung durch die Feststellung, er habe eine Straftat begangen.
Zudem liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG vor, weil der Beschwerdeführer - dem sich aus § 2 Abs. 1 JGG ergebenden Anlie-gen des Jugendgerichtsgesetzes widersprechend - schlechter gestellt werde als ein Erwachsener, bei dem das Ermittlungsverfahren nach § 153 StPO eingestellt würde. Eine Einstellung nach § 153 StPO würde nicht in das Bundeszentralregister eingetragen; dagegen werde das Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG in das Erziehungsregister des Beschwerdeführers eingetragen.
Daneben beantragt der Beschwerdeführer hinsichtlich der Eintragung in das Erziehungsregister den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG.
2. Das Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat mit Zuschrift vom 20. Januar 2017 Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde teilweise für begründet.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung rügt, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
a) Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <370>; 82, 106 <114>).
Die Unschuldsvermutung verwehrt es den Strafverfolgungsorganen nicht, schon vor Abschluss der Hauptverhandlung verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung des Beschuldigten zu beurteilen (vgl. BVerfGE 74, 358 <372>; 82, 106 <115>). Festlegungen zur Schuld zu treffen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen, ist den Strafgerichten allerdings erst erlaubt, wenn die Schuld des Angeklagten in einem mit rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <372>; 82, 106 <115>).
Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Sie verbietet aber, gegen den Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion gleichkommen, oder ihm in einer strafgerichtlichen Entscheidung Schuld zuzuweisen, ohne dass ihm in dem gesetzlich dafür vorgeschriebenen Verfahren strafrechtliche Schuld nachgewiesen worden ist. Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben, können darum auch in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden. Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muss auch in der Formulierung der Gründe hinreichenden Ausdruck finden. Dabei ist der Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen. Unabhängig davon sollten die Gerichte und Strafverfolgungsorgane im Blick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung darauf Bedacht nehmen, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden; dies gilt insbesondere bei Formblättern (vgl. BVerfGE 82, 106 <117>).
Wird ein Strafverfahren eingestellt, bevor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, so fehlt es an der prozessordnungs-gemäßen Grundlage für eine Erkenntnis zur Schuld. Wie die Einstellungsvorschrift des § 153 StPO verlangt auch § 45 JGG nur eine hypothetische Schuldbeurteilung. Die Strafverfolgungsorgane haben den Sachverhalt, so wie er sich im jeweiligen Verfahrensstadium abzeichnet, daraufhin zu prüfen, ob die Schuld des Angeklagten gering wäre, wenn die Feststellungen in einer Hauptverhandlung diesem Bild entsprächen. Die strafrechtliche Relevanz darf nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld festgestellt, sie darf lediglich unterstellt werden (vgl. BVerfGE 74, 358 <373>; 82, 106 <116>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. November 2005 - 2 BvR 878/05 -, juris, Rn. 19).
b) Nach diesen Maßstäben verstößt die dem Verteidiger des Beschwerde-führers mitgeteilte Begründung der Verfügung, von einer Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG abzusehen, gegen die im Rechtsstaatsprinzip gründende Unschuldsvermutung. Sie verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Die Formulierung "Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht", lässt sich nicht mehr als gebotene Beschreibung einer Verdachtslage verstehen. Auch wenn im zweiten Satzteil nicht ausdrücklich von einem Schuldspruch gesprochen wird, ist der Wortlaut der Formulierung "einer Straftat schuldig gemacht" einer noch der Unschuldsvermutung Rechnung tragenden Beschreibung der Verdachtslage nicht zugänglich. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass im Folgesatz das "Verschulden" des Beschwerdeführers als "nicht groß" bewertet wird.
c) Die Mitteilung vom 29. September 2016 an den Verteidiger des Beschwerdeführers ist daher mit ihren Gründen aufzuheben und die Sache an die Staatsanwaltschaft Rostock zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht gegeben sind. Insoweit wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer weiteren Begründung abgesehen.
3. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.