Entscheidungsdatum: 13.10.2011
Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Aussetzung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zur Bewährung mit Wirkung zum 2. November 2011.
Der mehrfach - unter anderem wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung - vorbestrafte Beschwerdeführer wurde zuletzt durch Urteil des Landgerichts Münster vom 25. September 2003 wegen Nötigung zu einer Freiheitstrafe von zwei Jahren verurteilt. Außerdem ordnete das Gericht nach § 66 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an, die seit dem 8. März 2005 vollzogen wird.
Durch Beschluss vom 8. Juni 2011 setzte das Oberlandesgericht Hamm die Unterbringung mit Wirkung zum 2. November 2011 zur Bewährung aus. Nach dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 dürfe die Vollstreckung einer primären Sicherungsverwahrung in der Regel nur noch dann aufrechterhalten werden, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten sei. Diese Anforderungen ließen im Fall des Beschwerdeführers - wie sich insbesondere aus einem psychiatrischen Prognosegutachten vom 8. März 2010 und einer Stellungnahme des behandelnden Psychotherapeuten ergebe - die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nicht mehr zu.
Dabei sei die nach § 66 StGB angeordnete und allein wegen eines Verstoßes gegen das Abstandsgebot für verfassungswidrig erklärte Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht etwa für erledigt zu erklären, sondern gemäß § 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen. Hierfür spreche, dass dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist eingeräumt worden sei, um eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung gesetzlich zu normieren. Obwohl ein Widerruf der Aussetzung vor Verwirklichung verfassungsgemäßer Vollzugsbedingungen nur bei äußerst schwerwiegenden Verstößen und daraus resultierender hoher Gefahr für die Allgemeinheit möglich sein werde, könne sich die Sach- und Rechtslage nach Herstellung verfassungsgemäßer Vollzugsbedingungen anders darstellen. Diesen noch nicht hinreichend abschätzbaren Umständen sei im Rahmen der vorliegenden Entscheidung Rechnung zu tragen. Als angemessener Beendigungszeitpunkt der Unterbringung sei der 2. November 2011 zu bestimmen, damit möglichst weitgehende Entlassungsvorbereitungen durchgeführt werden könnten. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - wie mit der sofortigen Beschwerde beantragt - nach Art. 316e Abs. 3 EGStGB für erledigt zu erklären, komme mangels Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen dagegen nicht in Betracht.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit sofortiger Wirkung für erledigt zu erklären und nicht nur zur Bewährung auszusetzen.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen einer notwendigen Annahme (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor; auch im Übrigen ist die Annahme nicht angezeigt.
1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, S. 1931 ff.) geklärt.
2. Sie ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg (BVerfGE 90, 22 <25 f.>), da sie, soweit zulässig, unbegründet ist.
a) Zwar hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 die der Unterbringung des Beschwerdeführers zu Grunde liegende Vorschrift des § 66 StGB und weitere Vorschriften über die Sicherungsverwahrung für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. -, NJW 2011, S. 1931 <1933 f.>). Er hat jedoch zugleich gemäß § 35 BVerfGG angeordnet, dass die Vorschriften nach Maßgabe der Gründe übergangsweise anwendbar bleiben und dabei wie folgt unterschieden:
aa) Die Vorschriften, die auch wegen einer Verletzung des Vertrauensschutzgebots (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) für verfassungswidrig erklärt worden sind - das betrifft § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB, soweit er zur Anordnung der Fortdauer der Unterbringung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Artikel 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen wurden, sowie § 66b Abs. 2 StGB und § 7 Abs. 2 JGG (vgl. Nummer II.2. des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, a.a.O., S. 1933) - bleiben bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur unter engen Voraussetzungen weiter anwendbar: Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und ihre Fortdauer dürfen danach nur noch dann angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Verurteilten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. In den Fällen einer bereits vollzogenen Unterbringung haben die zuständigen Gerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen einer Fortdauer der Unterbringung gegeben sind und - falls nicht - die Freilassung der Betroffenen spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 anzuordnen (vgl. Nummer III.2. des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, a.a.O., S. 1933 f.).
bb) Für die Vorschriften, die - wie insbesondere § 66 StGB - allein aufgrund einer Verletzung des Abstandsgebots (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG) nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sieht die Übergangsregelung vor, dass sie bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nach Maßgabe der Entscheidungsgründe weiter anwendbar bleiben (vgl. Nummer III.1. i.V.m. Nummer II.1. Buchstabe b) des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, a.a.O., S. 1933). Wie in den Urteilsgründen ausgeführt ist, muss während der Weitergeltung der betreffenden Vorschriften bei der Rechtsanwendung der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht handelt. Während der Übergangszeit dürfen Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht daher nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. Die sie betreffenden Regelungen dürfen nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG, a.a.O., S. 1946, Rn. 172).
b) Die Annahme des Beschwerdeführers, dass die in seinem Fall verhängte Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit sofortiger Wirkung für erledigt hätte erklärt werden müssen, findet in dieser Übergangsregelung keine Grundlage.
aa) Zum einen ist der Übergangsregelung nicht zu entnehmen, dass in den Fällen, in denen die Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage der Unterbringung - wie hier des § 66 StGB - ausschließlich auf einer Verletzung des Abstandsgebots beruht und ein dauerhafter weiterer Vollzug der Sicherungsverwahrung nach den oben genannten Kriterien unverhältnismäßig wäre, nur eine Erledigterklärung der Unterbringung in Betracht kommt.
Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass die Fachgerichte die Möglichkeiten einer Führungsaufsicht auszuloten und sich damit auseinanderzusetzen haben, ob und inwieweit der Gefährlichkeitsgrad der Betroffenen hierüber reduziert werden kann (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 1946, Rn. 176). Es ist daher auch nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte - als Konkretisierung der gebotenen umfassenden Verhältnismäßigkeitskontrolle - die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht für erledigt erklären, sondern die Freilassung des Untergebrachten lediglich auf der Grundlage einer Aussetzung zur Bewährung anordnen. Die Aussetzung dient dem sowohl im Hinblick auf den Schutz der Rechte Dritter als auch im Hinblick auf die Belange des Betroffenen selbst verfassungsrechtlich vorgegebenen (vgl. nur BVerfGE 116, 69 <85 f.>, m.w.N.) Ziel der Resozialisierung, indem sie eine fördernde und, soweit notwendig, auch fordernde Einwirkung und Betreuung der in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten erlaubt. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass - solange es nicht zu einem Bewährungswiderruf kommt, der gesonderter Prüfung nach Maßgabe der Übergangsregelung zu unterziehen wäre - die unzureichende Wahrung und gesetzliche Absicherung des Abstandsgebots keinerlei Auswirkungen auf die mit einer Aussetzung zur Bewährung verbundenen Belastungen hat.
bb) Zum anderen findet auch die Forderung des Beschwerdeführers, dass seine Freilassung nicht erst zum 2. November 2011, sondern mit sofortiger Wirkung hätte erfolgen müssen, in der Übergangsregelung nach Nummer III.1. in Verbindung mit Nummer II.1. Buchstabe b) des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, S. 1931 <1933>) keine Grundlage.
Im Hinblick auf den gebotenen Entlassungszeitpunkt ist vielmehr zu unterscheiden: Beruht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - anders als im vorliegenden Fall - auf Vorschriften, die nicht nur wegen eines Verstoßes gegen das Abstandsgebot, sondern darüber hinaus auch wegen eines Verstoßes gegen das Vertrauensschutzgebot mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, überwiegen die öffentlichen Sicherheitsinteressen das grundrechtlich geschützte Vertrauen der Betroffenen nur noch unter den in Nummer III.2. Buchstabe a) des Tenors der Entscheidung vom 4. Mai 2011 genannten strengen Voraussetzungen. Nur sofern und solange diese Voraussetzungen gegeben sind, genügt die Fortdauer der Sicherungsverwahrung noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, a.a.O., S. 1944, Rn. 156). Halten die zuständigen Gerichte diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung daher nicht für gegeben, haben sie die unverzügliche Entlassung der Betroffenen anzuordnen. Eine zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der Durchführung von Entlassungsvorbereitungen kommt in den Fällen, in denen die Freiheitsentziehung auf Vorschriften beruht, die (auch) gegen das Vertrauensschutzgebot verstoßen, nicht in Betracht. Infolge der außerordentlich hohen Eingriffsintensität ist eine befristete Fortdauer der Freiheitsentziehung in diesen Fällen mit dem Freiheitsanspruch der Betroffenen von vornherein nicht in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. September 2011 - 2 BvR 1516/11 -, www.bverfg.de, Rn. 28).
Beruht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hingegen - wie hier - auf Vorschriften, die allein wegen eines Verstoßes gegen das Abstandsgebot mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, lässt die geringere Intensität des Grundrechtseingriffs eine Bestimmung des Entlassungszeitpunkts anhand einer einzelfallbezogenen Abwägung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu. In diese Abwägung ist auch der Gesichtspunkt einzustellen, dass es im Hinblick auf eine erfolgreiche soziale Wiedereingliederung grundsätzlich geboten ist, die von langjährigem Freiheitsentzug Betroffenen rechtzeitig vor dem Entlassungstermin auf die Entlassungssituation und das Leben in Freiheit vorzubereiten (vgl. BVerfGE 116, 69 <90> - zum Jugendstrafvollzug -, BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Mai 1993, NJW 1994, S. 1273 <1274>). Dabei ist der im Einzelfall erforderliche Vorbereitungsaufwand in der Regel umso größer, je länger die Freiheitsentziehung angedauert hat (vgl. BVerfGE 117, 71 <107 f.>). Vorliegend erscheint der zwischen der angegriffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts und der Entlassung liegende Zeitraum von fünf Monaten für die Durchführung der erforderlichen Entlassungsvorbereitungen im Hinblick auf die mehr als sechsjährige Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung, zuzüglich einer vorher vollstreckten zweijährigen Freiheitsstrafe, angemessen. Er trägt dem Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers hinreichend Rechnung.
3. Da die Verfassungsbeschwerde aus den genannten Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat, war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt B. entsprechend § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.