Bundesverfassungsgericht

Entscheidungsdatum: 07.10.2016


BVerfG 07.10.2016 - 2 BvR 1313/16

Nichtannahmebeschluss: Erhebung der Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren zur Rechtswegerschöpfung ( § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG) auch dann erforderlich, wenn eine Gehörsverletzung (Art 103 Abs 1 GG) nicht ausdrücklich, sondern lediglich der Sache nach gerügt wird - verfassungsrechtliche Anforderungen an fachgerichtliche Handhabung der Präklusionsregelungen (hier: § 531 Abs 2 ZPO)


Gericht:
Bundesverfassungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer
Entscheidungsdatum:
07.10.2016
Aktenzeichen:
2 BvR 1313/16
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20161007.2bvr131316
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Köln, 18. Mai 2016, Az: 16 U 132/13, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Beschwerdeführerin rügt eine willkürliche Anwendung des § 531 Abs. 2 ZPO durch das Berufungsgericht.

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1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Sie ist gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG unzulässig, weil die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin den Rechtsweg nicht erschöpft hat.

3

a) Wird mit der Verfassungsbeschwerde ein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend gemacht, so zählt die Anhörungsrüge an das Fachgericht zum Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Regelfall abhängig ist (vgl. BVerfGE 122, 190 <198>). Die Beschwerdeführerin rügt der Sache nach eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör, hat aber keine Anhörungsrüge erhoben.

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aa) Nachdem das Landgericht im erstinstanzlichen Vortrag der Beschwerdeführerin ein Bestreiten der die Aktivlegitimation des Klägers begründenden Tatsachen erkannt und die Klage wegen fehlender Aktivlegitimation abgewiesen hatte, hat das Oberlandesgericht die Beschwerdeführerin als Berufungsbeklagte darauf hingewiesen, dass es ihrem erstinstanzlichen Vorbringen ein solches Bestreiten nicht entnehmen könne, weiteren Vortrag aber nicht zugelassen. In der Verfassungsbeschwerde benennt die Beschwerdeführerin als Grundrecht, in dem sie sich verletzt sieht, jedoch lediglich Art. 3 Abs. 1 GG. Den grundrechtsgleichen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG nennt sie nicht, sondern macht ausdrücklich geltend, einer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO habe es vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht bedurft, weil sie sich nur gegen die willkürliche Anwendung der berufungsrechtlichen Präklusionsvorschriften wende. Entscheidend ist aber nicht, welches Grundrecht ein Beschwerdeführer benennt, sondern welches er objektiv der Sache nach rügt (vgl. BVerfGK 19, 23 <23 f.>; Desens, NJW 2006, S. 1243 <1246>; Heinrichsmeier, NVwZ 2010, S. 228 <229>). Rügt er der Sache nach eine Verletzung rechtlichen Gehörs, so bedarf es zur Erschöpfung des Rechtswegs der Erhebung der Anhörungsrüge vor dem zuständigen Fachgericht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2008 - 1 BvR 27/08 -, juris, Rn. 12; BVerfGK 19, 23 <23 f.>).

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bb) Der Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens bestimmt sich, ausgehend von der subjektiven Beschwer des Beschwerdeführers, nach der behaupteten Verletzung eines der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Rechte (vgl. BVerfGE 96, 251 <257>; 126, 1 <17>). Nach § 92 BVerfGG hat ein Beschwerdeführer in der Begründung seiner Verfassungsbeschwerde das Recht, das verletzt sein soll, zu bezeichnen. Aber auch wenn ein Beschwerdeführer bestimmte konkret benannte und anhand des einschlägigen Grundgesetzartikels bezeichnete Grundrechte als verletzt rügt, kann seinem Vorbringen die Rüge der Verletzung eines weiteren oder anderen, nicht ausdrücklich benannten Grundrechts zu entnehmen sein (vgl. BVerfGE 79, 174 <201>; 84, 366 <369>; 85, 214 <217>; BVerfGK 19, 23 <24 f.>).

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Dabei ist zwar zu beachten, dass dem Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Dispositionsfreiheit zukommt, aufgrund derer es ihm freisteht, die von ihm erhobene Verfassungsbeschwerde auf die Rüge bestimmter Grundrechtsverletzungen zu beschränken (vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>; BVerfGK 19, 23 <24 f.>). Darauf kommt es im vorliegenden Fall aber - unabhängig davon, dass der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangen kann, dass der Beschwerdeführer eine Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren selbst dann erhebt, wenn er im Rahmen der ihm insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>) - nicht an.

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b) Die Beschwerdeführerin hat auf die Rüge einer Gehörsverletzung nicht verzichtet, sondern rügt mit ihrem tatsächlichen Vorbringen und ihren rechtlichen Erwägungen der Sache nach jedenfalls auch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Sie macht geltend, das Oberlandesgericht sei gehalten gewesen, ihr Vorbringen zu den fehlenden tatsächlichen Voraussetzungen der Aktivlegitimation des Klägers nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Präklusionsvorschriften schränken die Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozess ein (vgl. BVerfGE 75, 302 <314>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 - 1 BvR 2333/09 -, NJW-RR 2010, S. 421<421>).AuslegungundAnwendungvonprozessualenPräklusionsvorschriften sind verfassungsrechtlich an Art. 103 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 302 <314 f.> m.w.N.). Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen auf das bei Art. 3 Abs. 1 GG verortete Willkürverbot bezieht, ändert nichts daran, dass es sich bei ihren Darlegungen der Sache nach um eine Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG handelt, für die eine Anhörungsrüge zum Rechtsweg gehört (vgl. BVerfGK 14, 95 <98>; 19, 23 <24>).

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c) Eine Anhörungsrüge war hier auch nicht deswegen entbehrlich, weil sie offensichtlich aussichtslos gewesen wäre (vgl. BVerfGK 7, 403 <407>).

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Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hindert den Gesetzgeber nicht, durch Präklusionsvorschriften auf eine Prozessbeschleunigung hinzuwirken, sofern die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hat, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt (vgl. BVerfGE 69, 145 <149>; 81, 264 <273>). Wegen der Intensität des Eingriffs einer Präklusion sind Auslegung und Anwendung dieser das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften durch die Fachgerichte einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht (vgl. BVerfGE 69, 145 <149>; 75, 302 <314>). Insoweit ist Art. 103 Abs. 1 GG etwa bei einer offenkundig unrichtigen Anwendung solcher Vorschriften verletzt (vgl. BVerfGE 69, 145 <149>).

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2. Die von der Beschwerdeführerin gerügte Auslegung und Anwendung des § 531 Abs. 2 ZPO durch das Oberlandesgericht begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

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a) Nach ständiger Rechtsprechung darf der in erster Instanz siegreiche Berufungsbeklagte darauf vertrauen, nicht nur rechtzeitig darauf hingewiesen zu werden, dass und aufgrund welcher Erwägungen das Berufungsgericht der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will, sondern dann auch Gelegenheit zu erhalten, seinen Tatsachenvortrag sachdienlich zu ergänzen oder weiteren Beweis anzutreten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juni 2003 - 1 BvR 2285/02 -, NJW 2003, S. 2524; BGH, Urteil vom 9. Oktober 2009 - V ZR 178/08 -, NJW 2010, S. 363 <365> m.w.N.). Das Gericht muss sachdienlichen Vortrag der Partei auf einen nach der Prozesslage gebotenen Hinweis nach § 139 ZPO zulassen. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Die Hinweispflicht auf eine von der ersten Instanz abweichende Beurteilung liefe nämlich leer, wenn ein von dem Berufungsbeklagten darauf vorgebrachtes entscheidungserhebliches Vorbringen bei der Entscheidung über das Rechtsmittel unberücksichtigt bliebe. Neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, ist zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2009 - V ZR 178/08 -, NJW 2010, S. 363 <365> m.w.N.).

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So führt etwa ein Übersehen der richtigen Beweislastverteilung durch das erstinstanzliche Gericht dazu, dass der nach einem entsprechenden Hinweis in zweiter Instanz erfolgende Beweisantritt nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zugelassen werden muss (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2007 - IV ZR 145/07 -, juris, Rn. 5). Gleiches dürfte für den nach Verkennung des Nichtbestreitens in der ersten Instanz und einem entsprechenden Hinweis im Berufungsverfahren erfolgenden bestreitenden Tatsachenvortrag gelten.

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b) Dass die Beschwerdeführerin den statthaften und nicht offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO nicht erhoben hat, hat zur Folge, dass die Verfassungsbeschwerde nicht nur in Bezug auf die behauptete Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern insgesamt unzulässig ist (vgl. BVerfGK 19, 23 <25>). Ob der von der Beschwerdeführerin gerügte Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt, bedarf deshalb keiner Entscheidung.

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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.