Bundesverfassungsgericht

Entscheidungsdatum: 06.06.2011


BVerfG 06.06.2011 - 2 BvR 1083/11

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsrechtliche Anforderungen an Entscheidung über Aussetzung des Strafvollzugs wegen Erkrankung des Verurteilten gem § 455 Abs 4 StPO - hier: keine Verletzung von Art 2 Abs 2 S 1 GG bzw Art 1 Abs 1 GG durch Ablehnung einer Haftunterbrechung bei chronischer Herzkrankheit des Verurteilten


Gericht:
Bundesverfassungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
06.06.2011
Aktenzeichen:
2 BvR 1083/11
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20110606.2bvr108311
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
Vorinstanz:
vorgehend Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, 14. April 2011, Az: 1 Ws 43/11, Beschlussvorgehend LG Saarbrücken, 3. Februar 2011, Az: II StVK 136/11, Beschluss
Zitierte Gesetze
§§ 56ff StVollzG

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Versagung einer Haftunterbrechung nach § 455 Abs. 4 StPO.

I.

2

1. Der chronisch herzkranke Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17. August 2001 wegen mehrerer Vermögensdelikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt; die Strafe wird aufgrund langjähriger Auseinandersetzungen um die Haftfähigkeit des Beschwerdeführers erst seit dem 19. Mai 2010 vollstreckt.

3

Mit Bescheid vom 13. Januar 2011 hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken die Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 StPO abgelehnt, weil nach einer eingeholten ärztlichen Stellungnahme der zuständigen Anstaltsärztin eine schwere Erkrankung, die weder in der Vollzugsanstalt noch im Anstaltskrankenhaus behandelt werden könne, nicht vorliege. Auch seien keine schwerwiegenden gesundheitlichen Schädigungen durch den weiteren Strafvollzug zu befürchten. Mit Beschluss vom 3. Februar 2011 hat das Landgericht Saarbrücken den Antrag auf gerichtliche Entscheidung über die gegen die Versagung der Strafunterbrechung vorgebrachten Einwendungen als unbegründet zurückgewiesen, weil keine Anhaltspunkte für eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustands seit August 2010 vorlägen und zudem die medizinische Ausstattung der Justizvollzugsanstalt sowie ein räumlich nahegelegenes Klinikum der Maximalversorgungsstufe eine ausreichende Behandlung gewährleisteten. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens wurde unter Hinweis auf die ausreichend erscheinende Sachkunde der Anstaltsärztin als Fachärztin für Innere Medizin abgelehnt. Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts hat das Oberlandesgericht Saarbrücken mit Beschluss vom 14. April 2011 als unbegründet verworfen.

4

2. Der Beschwerdeführer greift mit seiner Verfassungsbeschwerde die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, des Landgerichts und des Oberlandesgerichts an. Er rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Er ist der Auffassung, die Ablehnung der Strafunterbrechung sei verfassungswidrig, weil er aufgrund seiner chronischen Herzerkrankung haftunfähig sei. Er habe zunehmend Beschwerden und könne in der Strafhaft nicht auf eine ausreichend schnelle und seinen Beschwerden angemessene medizinische Behandlung vertrauen. Zudem sei das Gebot der größtmöglichen Sachaufklärung verletzt, weil die Gerichte trotz wiederholter Anträge kein Sachverständigengutachten über seinen gegenwärtigen Gesundheitszustand und die aus dem Strafvollzug resultierenden Beeinträchtigungen eingeholt hätten.

II.

5

Die Verfassungsbeschwerde, die offensichtlich keine grundsätzliche Bedeutung hat (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), ist nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

6

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

7

Die angegriffenen Entscheidungen lassen eine Verkennung der Bedeutung und Tragweite der gerügten Grundrechte durch die Vollstreckungsbehörde und die Gerichte nicht erkennen (vgl. insoweit BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09 -, RuP 2010, S. 219 ff.).

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1. a) Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebieten grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>). Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen zu vollstrecken sind.

9

b) Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Bei Gesundheitsgefährdungen eines Strafgefangenen entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte ein Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang. Ein Konflikt ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der bei der Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Beachtung erfordert, durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Verurteilten ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die Strafvollstreckung dienen soll, so verletzt der Eingriff den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003 - 2 BvR 1007/03 -, NStZ-RR 2003, S. 345). Diese Grenze ist jedenfalls erreicht, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei Durchführung der Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird (vgl. BVerfGE 51, 324 <345 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003, a.a.O.).

10

c) Darüber hinaus verpflichtet Art. 1 Abs. 1 GG die Strafvollstreckungsbehörde dazu, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>). Der Strafvollzug steht unter dem Gebot, schädlichen Auswirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen im Rahmen des Möglichen entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 109, 133 <150 f.>; 117, 71 <91>) und die Gefangenen lebenstüchtig zu halten (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 117, 71 <91>). Mit der Würde des Menschen wäre es unvereinbar, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>; 72, 105 <113>; 117, 71 <95>), auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren (vgl. BVerfGE 72, 105 <116 f.>). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann dem Interesse des Gefangenen an der Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit ein Gewicht zukommen, welches das der Gründe für einen weiteren, ununterbrochenen Vollzug zu übertreffen vermag (vgl. BVerfGE 64, 261 <277>).

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d) Die §§ 56 ff. StVollzG und § 455 Abs. 4 StPO tragen diesem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung seines Strafanspruchs einerseits und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner Gesundheit und Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit andererseits Rechnung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003, a.a.O.). Bei der Auslegung von § 455 Abs. 4 StPO hat die Vollstreckungsbehörde die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Strafgefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Rechnung zu stellen. Diese kann im Einzelfall eine Strafunterbrechung auch über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten.

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e) § 455 StPO verbietet einen Vollzug, von dem eine nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahr droht. Allerdings muss bei einer solchen Gefahr nicht stets die Strafhaft unterbrochen werden, denn vom Vollzug droht die Gefahr dann nicht, wenn er Mittel zur Abhilfe bereit hält. Solche Mittel sind nicht nur die in § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO ausdrücklich genannte Untersuchung und Behandlung in Vollzugseinrichtungen, sondern auch diejenigen in einem externen Krankenhaus (§ 65 Abs. 2 StVollzG), die ebenfalls ohne Unterbrechung des Vollzugs vonstatten gehen können. Dies gilt aber nur, soweit die Behandlung noch als adäquat angesehen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003, a.a.O.).

13

f) Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; 109, 133 <162>). Drängen sich Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbe-tracht der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Strafgefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eine Strafunterbrechung über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten könnte, ist die Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen gehalten, Einzelheiten insbesondere des Gesundheitszustands, der Lebenserwartung und der Gefährlichkeit des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls hat sie insoweit (ergänzende) ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen.

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2. a) Diesen Anforderungen halten die angegriffenen Entscheidungen stand. Die zunächst auf Betreiben der Staatsanwaltschaft eingeholte ärztliche Stellungnahme der Anstaltsärztin, einer Fachärztin für Innere Medizin, lässt eine schwere Erkrankung des Beschwerdeführers ebenso wenig erkennen wie eine akute Gefährdung des Beschwerdeführers durch die weitere Unterbringung im Strafvollzug. Auch enthält die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, anders als im Fall der eingangs wiedergegebenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2010 (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010, a.a.O.) keine Anhaltspunkte für eine formularmäßige Behandlung des Antrags auf Haftunterbrechung. Die gebotene Auseinandersetzung mit den Grundrechten des Beschwerdeführers muss seitens der Behörden und Fachgerichte nicht zwingend durch ausdrückliche Benennung der geprüften Grundrechtsbestimmungen dokumentiert werden. Es genügt, wenn anderweitig, hier durch die Gegenüberstellung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen an eine verfassungsrechtlich gebotene Haftunterbrechung einerseits und der im konkret zur Entscheidung anstehenden Fall vorgefundenen Umstände andererseits, eine entsprechende Prüfung erkennbar wird. Dies ist vorliegend der Fall.

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b) Die Gerichte waren auch nicht zu einer weitergehenden Sachverhaltsaufklärung verpflichtet, insbesondere nicht zu einer Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens. Die Haftfähigkeit des Beschwerdeführers war wiederholt Gegenstand langjähriger und intensiver fachgerichtlicher Prüfung und endete im Jahre 2008 mit der Feststellung seiner Haftfähigkeit. Zwischenzeitlich eingetretene wesentliche Änderungen seines Gesundheitszustandes hat der Beschwerdeführer nicht substantiiert vorgetragen. Sie ergeben sich namentlich auch nicht aus der ärztlichen Stellungnahme vom 21. November 2010, der eine belastbare medizinische Einschätzung nicht entnommen werden kann, da sie Mängel aufweist, die Zweifel an der Einhaltung fachlicher Mindestvorgaben wecken. Im Gegenteil, der Beschwerdeführer hat sich ausweislich der wiederholten Stellungnahmen der Anstaltsärztin über längere Zeiträume als beschwerdefrei bezeichnet. Auch hat er nach eigenem Vortrag bisher keine Beschwerden erlitten, die eine Verlegung in das Vollzugskrankenhaus oder ein nahegelegenes Klinikum erfordert hätten. Eine schwere Erkrankung, die eine nahe Lebensgefahr, eine geringe Lebenserwartung oder eine schwerwiegende gesundheitliche Schädigung durch den weiteren Vollzug erwarten ließe, konnte von den Gerichten daher auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Informationen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint werden.

16

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

17

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.