Entscheidungsdatum: 01.04.2011
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten kann keinen Erfolg haben. Der Beklagte hat nicht dargelegt, dass der geltend gemachte Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 69 BDG, § 41 Berliner Disziplinargesetz - DiszG - vorliegt.
Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis nach Aufhebung des ersten Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung erneut bestätigt (vgl. Beschluss vom 29. Mai 2009 - BVerwG 2 B 3.09 - Buchholz 235.1 § 58 Nr. 5 = NJW 2009, 2614). Es hat festgestellt, der Beklagte habe seine Dienstpflichten als Amtsvormund der Zeugin Z. schwerwiegend verletzt, weil er über längere Zeit eine sexuelle Beziehung zu seinem Mündel unterhalten habe. Das Oberverwaltungsgericht hat die Angaben der Belastungszeugin Z. erneut als erwiesen angesehen. Es hat seine Überzeugung, die Zeugin sei glaubwürdig, vor allem auf die Ergebnisse des aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen V. gestützt, das diese in der ersten Berufungsverhandlung erstattet hatte. Da die Zeugin Z. nicht bereit war, sich von der Sachverständigen V. untersuchen zu lassen, hat diese für ihr Gutachten auf Feststellungen und Wertungen des jugendpsychiatrischen Gutachtens vom 13. August 2003 zurückgegriffen. Dieses Gutachten wurde in einem Jugendstrafverfahren gegen die Zeugin Z. erstellt. Die Sachverständige S. hat das vom Oberverwaltungsgericht in das Berufungsverfahren eingeführte Gutachten vom 13. August 2003 am 21. Juni 2010 schriftlich ergänzt und ihre Ausführungen in der zweiten Berufungsverhandlung erläutert.
Der Beklagte hat in der zweiten Berufungsverhandlung erneut beantragt, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass es sich bei der Zeugin Z. um eine krankhafte Persönlichkeit handele, die durchaus in der Lage sei, eine komplexe unwahre Schilderung zu erfinden und zu kontrollieren. Diesen Beweisantrag hat das Oberverwaltungsgericht in der Verhandlung durch Beschluss mit der Begründung abgelehnt, es verfüge aufgrund des Gutachtens vom 13. August 2003 und der Anhörung der Sachverständigen S. über eigene hinreichende Sachkunde. Umstände, die eine darüber hinausgehende Aufklärung des Sachverhalts erforderlich machen könnten, seien weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
Mit der Beschwerde rügt der Beklagte, das Oberverwaltungsgericht habe durch die Ablehnung des Beweisantrags seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Oberverwaltungsgericht habe den Beweisantrag nicht ablehnen dürfen, weil es selbst noch kein jugendpsychiatrisches Gutachten eingeholt habe. Das Gutachten vom 13. August 2003 stamme aus einem Jugendstrafverfahren. Das Oberverwaltungsgericht habe es ohne förmliches Beweisverfahren im Wege des Freibeweises verwertet. Auch sei es in dem Gutachten vom 13. August 2003 nicht um die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin Z. in Bezug auf die Vorwürfe gegen den Beklagten gegangen. Es sei ernsthaft möglich, dass ein weiteres Gutachten die Überzeugung des Oberverwaltungsgerichts von der Glaubwürdigkeit der Zeugin Z. erschüttert hätte.
Der Senat hat in dem Beschluss vom 29. Mai 2009 a.a.O. zu der Frage der Behandlung eines Beweisantrags auf Einholung eines jugendpsychiatrischen Gutachtens ausgeführt:
"Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet das Gericht, einem Beweisangebot nachzugehen, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet (Beschluss vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1; stRspr). Danach hat das Oberverwaltungsgericht den in der mündlichen Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag nicht übergehen dürfen:
Dem Beweisthema kommt auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Es hat die Beweisfrage für erheblich, aber aufgrund des jugendpsychiatrischen Gutachtens vom 13. August 2003 für hinreichend geklärt gehalten.
Diese Vorgehensweise findet im Prozessrecht keine Stütze, weil das Oberverwaltungsgericht dieses Gutachten nicht prozessordnungsgemäß zum Gegenstand des Disziplinarklageverfahrens gemacht hat. Gemäß § 41 DiszG, § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind. Dies gilt gemäß § 41 DiszG, § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsinstanz. Danach darf das Tatsachengericht ein Beweisangebot zu einer entscheidungserheblichen Tatsache nur unberücksichtigt lassen, wenn sich ausschließen lässt, dass die Beweiserhebung zu neuen Erkenntnissen führen kann, die geeignet sind, die bisherige Überzeugung des Gericht zu erschüttern. Dies ist der Fall, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt "ins Blaue hinein" aufgestellt wird oder das Beweismittel offensichtlich untauglich ist. Das Gericht darf ein Beweisangebot nicht schon deshalb übergehen, weil es die Wahrscheinlichkeit als gering einschätzt, dass durch die Beweiserhebung neue Erkenntnisse gewonnen werden (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. Juli 1994 - 1 BvR 1177/93 - NJW-RR 1995, 441 und vom 22. Januar 2001 - 1 BvR 2075/98 - NJW-RR 2001, 1006; BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2005 a.a.O.; stRspr).
Hat das Gericht zur Feststellung oder Bewertung einer beweiserheblichen Tatsachenfrage bereits Sachverständigenbeweis erhoben, so hat es über den Beweisantrag, zu dieser Frage ein weiteres Gutachten einzuholen, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Das Gericht muss sich darüber klar werden, ob ihm das vorliegende Gutachten die zur Beantwortung der Beweisfrage erforderliche Sachkunde vermittelt (§ 98 VwGO, § 412 Abs. 1 ZPO, § 3 DiszG). Seine Weigerung, ein weiteres Gutachten einzuholen, findet im Prozessrecht nur dann keine Stütze, wenn das bereits vorliegende Gutachten nicht geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist etwa der Fall, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters besteht (Beschluss vom 26. Februar 2008 - BVerwG 2 B 122.07 - ZBR 2008, 257 <259>; stRspr).
Das Ermessen, zu einer beweiserheblichen Tatsachenfrage ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, ist nicht notwendigerweise nur dann eröffnet, wenn das Gericht bereits selbst ein Gutachten eingeholt hat. Vielmehr kann dieses Ermessen auch dann gegeben sein, wenn das Gericht in zulässiger Weise auf ein Gutachten zu der Beweisfrage zurückgreift, das in einem anderen Verfahren erstellt wurde. Jedoch muss es dieses Gutachten nach den Regeln des Sachverständigenbeweises gemäß §§ 402 ff. ZPO in das gerichtliche Verfahren einführen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. November 1993 - 2 BvR 594/93 - BayVBl 1994, 143). Hierfür ist zumindest die rechtzeitige Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten erforderlich, dass es die Beweisfrage aufgrund des anderweitig erstellten Gutachtens beantworten will. Denn nur durch eine solche Mitteilung werden die Verfahrensbeteiligten in die Lage versetzt, ihre prozessualen Rechte und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen, nämlich gemäß § 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO ihre Einwendungen gegen das Gutachten sowie darauf bezogene Anträge und Ergänzungsfragen vorzubringen und gemäß §§ 402, 397 ZPO die Anhörung des Gutachters in der mündlichen Verhandlung zu beantragen. Das Gericht ist in der Regel verpflichtet, einem darauf gerichteten Beweisantrag stattzugeben (Urteil vom 9. März 1984 - BVerwG 8 C 97.83 - BVerwGE 69, 70 <77> = Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 158; Beschlüsse vom 21. September 1994 - BVerwG 1 B 131.93 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 46 und vom 16. Juli 2007 - BVerwG 2 B 55.07 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 95 Rn. 7).
Danach durfte das Oberverwaltungsgericht den Beweisantrag des Beklagten nicht mit der Begründung ablehnen, es könne die Beweisfrage aufgrund des jugendpsychiatrischen Sachverständigengutachtens vom 13. August 2003 sachkundig beurteilen. Denn es hat den Beklagten nicht darauf hingewiesen, dass es sich für die zentrale Frage der Glaubwürdigkeit der Zeugin Z. auf dieses Gutachten stützen werde und im Hinblick darauf einen weiteren Sachverständigenbeweis für entbehrlich halte. Durch seine Vorgehensweise hat das Oberverwaltungsgericht dem Beklagten die - im Gebot des rechtlichen Gehörs verankerte - Möglichkeit genommen, Einwendungen gegen dieses Gutachten zu erheben und die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung zu befragen. Daran ändert nichts, dass der Beklagte den Beweisantrag nur hilfsweise gestellt hat."
Danach hat es der Senat ausdrücklich für zulässig gehalten, dass sich das Tatsachengericht auf ein Sachverständigengutachten stützt, das es nicht selbst in Auftrag gegeben, sondern aus einem anderen Verfahren übernommen hat. Ein derartiges Gutachten kann in gleicher Weise wie ein vom Gericht eingeholtes Gutachten verwertet werden, wenn es nach den Regeln des Sachverständigenbeweises unter Wahrung der prozessualen Rechte der Beteiligten in das Verfahren eingeführt wird. Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf das jugendpsychiatrische Gutachten vom 13. August 2003 nunmehr erfüllt; die Vorgehensweise des Oberverwaltungsgerichts hat den Anforderungen entsprochen, die der Senat in dem Beschluss vom 29. Mai 2009 a.a.O. aufgestellt hat:
Das Oberverwaltungsgericht hat den Beteiligten das Gutachten vom 13. August 2003 übersandt, ihnen rechtzeitig mitgeteilt, dass es beabsichtigt, dieses Gutachten zu verwerten und ihnen Gelegenheit gegeben, Einwendungen gegen das Gutachten und darauf bezogene Anträge und Ergänzungsfragen vorzubringen (vgl. gerichtliches Schreiben vom 27. April 2010). Aufgrund der Einwendungen und Fragen des Beklagten hat die Sachverständige S. das Gutachten am 21. Juni 2010 schriftlich ergänzt. Sie ist in der zweiten Berufungsverhandlung als Sachverständige aufgrund eines Beweisbeschlusses zu demjenigen Beweisthema vernommen worden, das Gegenstand des danach gestellten und abgelehnten Beweisantrags des Beklagten gewesen ist. Dabei hat die Sachverständige S. das schriftliche Gutachten und dessen Ergänzung erläutert. Der Beklagte hat die Sachkunde der Sachverständigen im Bereich der Jugendpsychiatrie und ihre gutachterlichen Angaben weder im Berufungsverfahren noch in der Beschwerdebegründung in Zweifel gezogen.
Das Vorbringen des Beklagten, die Sachverständige S. habe kein "Glaubwürdigkeitsgutachten" erstattet, ist angesichts des Inhalts seines Beweisantrags unerheblich. Der Beklagte hat nicht die Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Gutachtens, sondern eines psychiatrischen Gutachtens beantragt. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Überzeugung, die Zeugin Z. sei glaubwürdig, hauptsächlich auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen V. gestützt und die jugendpsychiatrische Beurteilung ersichtlich nur ergänzend herangezogen. Diese Beweiswürdigung hat der Beklagte nicht angegriffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 41 DiszG, § 77 Abs. 1 und 4 BDG. Ein Streitwert für das Beschwerdeverfahren muss nicht festgesetzt werden, weil die Gerichtskosten gesetzlich betragsgenau festgelegt sind (§ 41 DiszG, § 85 Abs. 11, § 78 Satz 1 BDG, Nr. 10 und 62 des Gebührenverzeichnisses zum BDG).