Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 30.09.2011


BVerwG 30.09.2011 - 2 B 66/11

Beihilfe für beidseitige Beinverlängerung; beihilferechtlicher Krankheitsbegriff; beihilferechtliche Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für Beihilfegewährung; Gebot erschöpfender Sachaufklärung


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsdatum:
30.09.2011
Aktenzeichen:
2 B 66/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 24. Januar 2011, Az: 1 A 527/08, Urteilvorgehend VG Köln, 2. Januar 2008, Az: 3 K 267/07
Zitierte Gesetze
§ 1 S 1 BhV
§ 5 Abs 1 S 1 Nr 1 BhV

Leitsätze

Die Aufwendungen zu einem operativen Eingriff in einen gesunden Körper, durch den das subjektiv als belastend empfundene Aussehen verändert wird, sind auch dann nicht notwendig im beihilferechtlichen Sinne, wenn die Belastungen das Ausmaß einer psychischen Krankheit angenommen haben (im Anschluss an die stRspr des BSG zu § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V SGB 5>).

Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers kann keinen Erfolg haben. Die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und des Verfahrensmangels im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen nicht vor.

2

Der Kläger beansprucht Beihilfe zu den Aufwendungen für Operationen, durch die seiner damals 19-jährigen Tochter Ober- und Unterschenkel verlängert wurden. Dadurch wurde die Körpergröße der Tochter von 145 cm um 11,5 cm erhöht. Die Tochter litt zuvor wegen ihres Körperwuchses an psychischen Störungen.

3

Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. In dem Berufungsurteil hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, eine Körpergröße von 145 cm sei für sich genommen noch keine Krankheit im beihilferechtlichen Sinne. Körperliche Funktionen der Tochter seien nicht beeinträchtigt gewesen; sie habe auch nicht an einem entstellenden Aussehen gelitten. Die Operationen seien beihilferechtlich nicht notwendig gewesen, um die auf die geringe Größe zurückzuführenden psychischen Störungen der Tochter zu behandeln. Nach medizinischem Erkenntnisstand sei die Eignung von Eingriffen in den gesunden Körper zur Heilung psychischer Krankheiten nicht anerkannt. Beihilfen seien Zuschüsse zu Aufwendungen im Krankheitsfall. Mit diesem Zweck sei nicht zu vereinbaren, Beihilfen bereits dann zu gewähren, wenn der Betroffene subjektiv auf die operative Änderung seines Aussehens ohne Krankheitswert fixiert sei und eine psychotherapeutische Behandlung aus diesem Grund abgelehnt werde oder keinen Erfolg verspreche.

4

Der Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist gegeben, wenn die Rechtssache eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f.; stRspr).

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Danach kommt der vom Kläger aufgeworfenen Frage,

ob der beihilferechtliche Krankheitsbegriff eine Trennung von körperlicher und psychischer Krankheit kenne bzw. "ganzheitliche" Störungen mit sowohl seelischen als auch körperlichen Beeinträchtigungen erfasse,

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keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Der beihilferechtliche Krankheitsbegriff ist in der Senatsrechtsprechung geklärt. Auf deren Grundlage ist die Frage für den Ausgang des Rechtsstreits nicht entscheidungserheblich, sodass sie sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen würde.

7

Die Beihilfegewährung dient der Erstattung von Aufwendungen, die aus Anlass einer Krankheit entstanden sind (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BhV; nunmehr § 1 Satz 1, §§ 12 f. BBhV). Da die Beihilfevorschriften keinen eigenständigen Krankheitsbegriff statuieren, ist grundsätzlich auf den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurückzugreifen (Urteil vom 24. Februar 1982 - BVerwG 6 C 8.77 - BVerwGE 65, 87 <91> = Buchholz 238.4 § 30 SG Nr. 5 S. 5; Beschluss vom 4. November 2008 - BVerwG 2 B 19.08 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 370 Rn. 4). Danach ist Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Zustand des Körpers oder des Geistes, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Jemand ist krank, wenn er in seiner Körperfunktion beeinträchtigt ist oder an einer anatomischen Abweichung leidet, die entstellend wirkt (Urteile vom 24. Februar 1982 a.a.O. und Beschluss vom 4. November 2008 a.a.O.; BSG, Urteile vom 10. Februar 1993 - 1 RK 14/92 - BSGE 72, 96 <98>; vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R - BSGE 93, 252 Rn. 4 f.; vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 19/07 R - BSGE 100, 119 Rn. 11 und vom 28. September 2010 - B 1 KR 5/10 R - NJW 2011, 1899 Rn. 10).

8

Danach steht außer Frage, dass Störungen, die sowohl mit seelischen als auch mit körperlichen Beeinträchtigungen verbunden sind, vom beihilferechtlichen Krankheitsbegriff erfasst werden. Es kommt darauf an, ob das Krankheitsbild sowohl körperlicher als auch seelischer Natur ist (BSG, Urteil vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 15). Hierfür reicht nicht aus, dass das subjektive Empfinden des Betroffenen, sein körperlicher Zustand sei unzulänglich, psychische Störungen hervorruft. Subjektive Wahrnehmungen sind ohne Bedeutung für die Frage, ob eine körperliche Krankheit vorliegt. Maßgeblich sind objektive Kriterien, insbesondere der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse (BSG, Urteile vom 19. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 5 f.; vom 28. Februar 2008 a.a.O. Rn. 16 und vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 14).

9

Diesen Krankheitsbegriff hat das Oberverwaltungsgericht seiner tatsächlichen und rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt, wobei es Bezug auf die Senatsrechtsprechung genommen hat. Es hat den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellten Sachverhalt dahingehend gewürdigt, dass es sich bei der geringen Körpergröße der Tochter des Klägers objektiv nicht um eine Krankheit gehandelt hat. Das Oberverwaltungsgericht hat lediglich eine psychische Störung angenommen, die sich wegen des Empfindens der Unzulänglichkeit aufgrund der geringen Körpergröße ausgeprägt hat. Diese tatsächlichen Feststellungen lassen eine rechtliche Würdigung nicht zu, die Krankheit der Tochter des Klägers sei "ganzheitlich", d.h. körperlicher und seelischer Art. Vielmehr kann daraus nur der Schluss auf eine ausschließlich psychische Erkrankung gezogen werden.

10

Auch die weitere vom Kläger aufgeworfene Frage,

ob ein operativer Eingriff aus Anlass einer psychischen Krankheit beihilferechtlich notwendig sei, wenn die psychotherapeutische Behandlung fehlgeschlagen sei,

ist nicht rechtsgrundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

11

Der Begriff der beihilferechtlichen Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für die Beihilfengewährung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BhV; nunmehr § 6 Abs. 1 Satz 1 BBhV) ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt. Danach sind Aufwendungen dem Grund nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden sowie der Beseitigung oder zum Ausgleich körperlicher Beeinträchtigungen dient. Entsprechend dem Zweck der Beihilfengewährung müssen die Leiden und körperlichen Beeinträchtigungen Krankheitswert besitzen. Die Behandlung muss darauf gerichtet sein, die Krankheit zu therapieren. Zusätzliche Maßnahmen, die für sich genommen nicht die Heilung des Leidens herbeiführen können, können als notwendig gelten, wenn sie die Vermeidung oder Minimierung von mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Behandlungsrisiken und Folgeleiden bezwecken (Urteil vom 7. November 2006 - BVerwG 2 C 11.06 - BVerwGE 127, 91 = Buchholz 237.8 § 90 RhPLBG Nr. 2 ).

12

Der beihilferechtliche Begriff der Notwendigkeit krankheitsbedingter Aufwendungen entspricht jedenfalls im hier maßgebenden Bereich inhaltlich dem Begriff der Notwendigkeit einer Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Regelung muss die Behandlung notwendig sein, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fehlt es an der Notwendigkeit im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V für operative Eingriffe in den gesunden Körper, durch die psychischen Krankheiten entgegengewirkt werden soll, die auf einen subjektiv als unzulänglich empfundenen körperlichen Zustand ohne Krankheitswert zurückzuführen sind. Denn nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Erkenntnisse ist generell zweifelhaft, ob derartige Eingriffe zur Überwindung einer psychischen Krankheit geeignet sind. Die psychischen Wirkungen der körperlichen Veränderungen können nicht eingeschätzt werden, insbesondere ist nach dem Eingriff eine Symptomverschiebung zu besorgen. Hinzu kommt, dass der operative Eingriff dem subjektiven Empfinden des Betroffenen geschuldet ist, der eine körperliche Eigenschaft als belastend empfindet und sich damit nicht abfindet. Letztlich müssten Schönheitsoperationen auf Kosten der Allgemeinheit durchgeführt werden, wenn psychotherapeutische Maßnahmen nicht helfen, weil der Betroffene auf den Eingriff fixiert ist (BSG, Urteile vom 10. Februar 1993 a.a.O. S. 98 f.; vom 9. Juni 1998 - B 1 KR 18/96 R - BSGE 82,158 <163 f.>; vom 19. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 7 f. und vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 14).

13

Diese Erwägungen gelten gleichermaßen für die Auslegung des Begriffs der beihilferechtlichen Notwendigkeit. Sie schließen aus, die Notwendigkeit einer Operation zur Veränderung des Aussehens davon abhängig zu machen, ob die medizinisch gebotene psychotherapeutische Behandlung im konkreten Fall (noch) Erfolg verspricht.

14

Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Verständnis des Begriffs der beihilferechtlichen Notwendigkeit dem Berufungsurteil zugrunde gelegt, wobei es Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genommen hat. Die rechtliche Würdigung wird von der tatsächlichen Feststellung getragen, nach dem medizinischen Erkenntnisstand sei die psychotherapeutische Eignung chirurgischer Eingriffe zweifelhaft. Bereits diese den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindende Feststellung schließt aus, derartige Eingriffe als beihilferechtlich notwendig anzuerkennen.

15

Mit der Verfahrensrüge macht der Kläger geltend, das Oberverwaltungsgericht habe gegen das Gebot erschöpfender Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen. Es habe Beweis zur Klärung der Erfolgsaussichten einer weiteren psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung der Tochter des Klägers erheben müssen. Diese Rüge kann bereits deshalb keinen Erfolg haben, weil es nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht entscheidungserheblich darauf ankommt, ob diese Erfolgsaussichten bestehen.

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Die Tatsachengerichte haben auf der Grundlage ihrer materiell-rechtlichen Auffassung zu entscheiden, ob sie weitere Aufklärungsmaßnahmen ergreifen, insbesondere Beweisangeboten nachgehen. Die Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO verlangt nicht, dass ein Tatsachengericht Ermittlungen anstellt, die aus seiner Sicht unnötig sind, weil es deren Ergebnis nach seinem Rechtsstandpunkt für den Ausgang des Rechtsstreits unerheblich ist (stRspr; vgl. Urteil vom 14. Januar 1998 - BVerwG 11 C 11.96 - BVerwGE 106, 115 <119> = Buchholz 451.171 § 7 AtG Nr. 5 S. 58; Beschluss vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1 S. 1 f.).

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Wie dargelegt hat das Oberverwaltungsgericht die beihilferechtliche Notwendigkeit und damit die Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen zu den Operationen der Tochter des Klägers wegen der Zweifel in der medizinischen Wissenschaft an der generellen Eignung derartiger Eingriffe abgelehnt. Nach dieser das Berufungsurteil selbstständig tragenden Erwägung kommt es auf die Erfolgsaussichten weiterer psychotherapeutischer Behandlungen der Tochter nicht an, weil die medizinischen Zweifel die beihilferechtliche Notwendigkeit ungeachtet der psychotherapeutischen Erfolgsaussichten ausschließen.