Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 16.11.2017


BVerwG 16.11.2017 - 10 B 2/17

Volle gerichtliche Überprüfbarkeit der kommunalen Pflicht zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen (Soll-Regelung)


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsdatum:
16.11.2017
Aktenzeichen:
10 B 2/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2017:161117B10B2.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 9. November 2016, Az: 6 B 15.2732, Urteilvorgehend VG München, 28. Oktober 2014, Az: M 2 K 14.1641, Urteil
Zitierte Gesetze
Art 5 Abs 1 S 3 KAG BY 1993
Art 61 Abs 1 GemO BY 1998
Art 62 GemO BY 1998

Gründe

1

Die klagende Gemeinde wendet sich gegen einen Bescheid des Landratsamtes als Kommunalaufsichtsbehörde, mit dem diese u.a. die Aufhebung ihrer Straßenausbaubeitragssatzung beanstandete. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab.

2

Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Aufhebung der Ausbaubeitragssatzung der Klägerin als rechtswidrig angesehen, weil bayerische Gemeinden nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 des bayerischen Kommunalabgabengesetzes (BayKAG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. April 1993 (GVBl S. 264), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. März 2016 (GVBl S. 36) Beiträge für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen erheben sollen, soweit nicht Erschließungsbeiträge zu erheben sind. Bei der klagenden Gemeinde lägen keine Umstände vor, die im Rahmen dieser "Soll"-Regelung die Annahme eines atypischen Falls rechtfertigten. Ob ein atypischer Fall gegeben sei, der gemeindliches Ermessen hinsichtlich der Beitragserhebung eröffne, unterliege in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Rechtsaufsichtsbehörden und die Gerichte. Den Gemeinden sei insoweit kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ein atypischer Fall komme nur in Betracht, wenn bei Einhaltung der in Art. 62 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (BayGO) i.d.F. der Bekanntmachung vom 22. August 1998 (GVBl S. 796) festgelegten Rangfolge der Deckungsmittel die stetige Aufgabenerfüllung und die dauernde Leistungsfähigkeit der Gemeinde sichergestellt seien (Art. 61 Abs. 1 BayGO). Das sei bei der Klägerin, deren Haushalt nicht unerheblich kreditfinanziert sei und deren Einnahmen zu einem wesentlichen Teil aus gegenüber Beiträgen nachrangigen gemeindlichen Steuern erzielt würden, nicht der Fall. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

3

Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde der Klägerin hiergegen hat keinen Erfolg.

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1. Die von der Klägerin als grundsatzbedeutsam formulierte Frage,

ob die verfassungsrechtlich gewährleistete kommunale Finanzhoheit einen von der Rechtsaufsichtsbehörde und den Gerichten nur eingeschränkt kontrollierbaren Beurteilungsspielraum der Gemeinden bei deren Entscheidung über den Erlass bzw. die Aufhebung einer Straßenausbaubeitragssatzung fordert, wenn sie nach dem Landesrecht nur in bei wertender Betrachtung des Einzelfalls atypischen Ausnahmefällen auf den Erlass einer solchen Satzung verzichten dürfen,

rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie lässt sich, soweit sie revisibles Recht betrifft und daher im Rahmen eines Revisionsverfahrens klärungsfähig wäre, auf der Grundlage der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten.

5

Das Bundesverwaltungsgericht hätte in einem Revisionsverfahren von der berufungsgerichtlichen Auslegung des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 BayKAG auszugehen, wonach diese Regelung den Gemeinden bei ihrer Entscheidung über die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen keinen Beurteilungsspielraum einräumt und die Annahme eines atypischen Falls, der ein Abweichen von der "Soll"-Regelung rechtfertigt, von der Aufsichtsbehörde und von den Verwaltungsgerichten vollständig überprüft wird. Diese Auslegung entspricht im Übrigen ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu "Soll"-Regelungen im Bereich des revisiblen Rechts (vgl. nur BVerwG, Urteile vom 10. September 1992 - 5 C 80.88 - Buchholz 436.61 § 18 SchwbG Nr. 6 S. 22 und vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 <359>). Sie verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gegen Bundesrecht.

6

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die kommunale Finanzhoheit als Ausprägung der verfassungsrechtlich garantierten gemeindlichen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG nur im Rahmen der Gesetze gewährleistet ist. Der Gesetzgeber ist befugt, sie inhaltlich auszuformen und zu begrenzen. Er hat dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf nicht in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung eingreifen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04 - juris Rn. 91 ff.; BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - BVerwGE 138, 89 <94 ff.> m.w.N.). Der Gesetzgeber kann den Gesetzesvorbehalt des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise dadurch ausfüllen, dass er eine Beitragserhebungspflicht der Gemeinden anordnet, ohne ihnen dabei einen Ermessensspielraum zu belassen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 1996 - 8 B 205.96 - juris Rn. 4). Ebenso wenig ist er zur Einräumung eines Beurteilungsspielraums der Gemeinden verpflichtet, wenn er anstelle einer ausnahmslos zwingenden Regelung Raum für eine Abweichung von der Beitragserhebungspflicht in atypischen Fällen lässt.

7

Die Gemeinden unterliegen in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der staatlichen Rechtsaufsicht als von Verfassungs wegen vorgesehenem Korrelat der kommunalen Selbstverwaltung. Diese Aufsicht ist auf eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des gemeindlichen Handelns beschränkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - BVerwGE 138, 89 <97>). Des Weiteren ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt, dass Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich eine vollständige gerichtliche Nachprüfung hoheitlicher Maßnahmen gebietet, soweit nicht der Gesetzgeber der Verwaltung erkennbar Gestaltungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielräume belässt. Für eine solche Einschränkung der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis bedarf es eines gegenüber dem Grundsatz wirksamen Rechtsschutzes hinreichend gewichtigen Sachgrundes (BVerfG, Beschlüsse vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 <22 f.> und vom 22. November 2016 - 1 BvL 6/14 u.a. - juris Rn. 21).

8

Aus den Darlegungen der Klägerin ist keine über diese bereits höchstrichterlich geklärten Rechtsfragen hinausgehende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache erkennbar. Soweit sie meint, bei der wertenden Betrachtung des Einzelfalls im Hinblick auf das Vorliegen eines atypischen Falls sei die Entscheidung der Gemeinde einzubeziehen, keine Straßenausbaubeiträge erheben zu wollen, verkehrt sie das Verhältnis zwischen der Rechtsfolge einer gegebenenfalls bestehenden Atypik und ihren - hier vom Berufungsgericht verneinten - tatbestandlichen Voraussetzungen. Die Beschwerdebegründung verdeutlicht auch nicht, welcher hinreichend gewichtige Sachgrund zur Annahme eines Beurteilungsspielraums der Gemeinde im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 BayKAG veranlassen müsste und inwieweit ein solcher Spielraum, wie verfassungsrechtlich gefordert, der gesetzlichen Regelung selbst hinreichend deutlich zu entnehmen ist. Gegen eine nur eingeschränkt rechtsaufsichtlich und gerichtlich kontrollierbare Entscheidungsbefugnis der einzelnen Gemeinde über das Vorliegen eines atypischen Falls spricht außerdem, dass eine Gemeinde in Wahrnehmung ihrer Finanzautonomie allenfalls die eigene Situation, nicht jedoch die für die vom Gesetz vorgesehene Regelhaftigkeit der Beitragserhebung maßgebliche Situation anderer, "typischer" Gemeinden im Geltungsbereich der gesetzlichen Norm einschätzen kann.

9

Soweit die Klägerin das Erfordernis eines gemeindlichen Beurteilungsspielraums daraus ableitet, dass die vom Berufungsgericht gegen eine Atypik der Haushaltssituation der Klägerin angeführte Rangfolge der gemeindlichen Deckungsmittel nach Art. 62 BayGO dort unter den Vorbehalt des Vertretbaren und Gebotenen gestellt sei, betrifft dies allein die Auslegung nicht revisiblen Landesrechts. Dies gilt auch, soweit die Klägerin die vom Berufungsgericht zur Ausfüllung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 BayKAG angewandten landesrechtlichen Maßstäbe des Art. 62 BayGO durch das Kriterium einer andauernden gemeindlichen Haushaltsnotlage ersetzt sehen will. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der gemeindlichen Finanzhoheit geböte im Übrigen selbst bei einer Veränderung des irrevisiblen landesrechtlichen Maßstabes für die Annahme eines atypischen Falls nicht, der Gemeinde insoweit einen Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Zudem leitet die Klägerin das von ihr für einen atypischen Fall präferierte Kriterium der andauernden Haushaltsnotlage aus einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der kommunalaufsichtlichen Beanstandung von Hebesätzen für die Grund- und Gewerbesteuern (BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 8 C 43.09 - BVerwGE 138, 89) ab, die einen wesentlich anderen einfachgesetzlichen Rahmen betraf.

10

2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen des von der Klägerin behaupteten Verfahrensmangels einer Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

11

Die Klägerin sieht in dem Urteil des Berufungsgerichts ihren Vortrag unberücksichtigt, die angefochtene kommunalaufsichtliche Beanstandung könne nicht auf einen formalen Fehler der Satzung zur Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung gestützt werden, weil darin eine im gerichtlichen Verfahren unzulässige Auswechslung der Begründung des Bescheides des Beklagten liege. Entgegen der Auffassung der Klägerin in der Beschwerdebegründung hat der Verwaltungsgerichtshof sein Berufungsurteil allerdings nicht darauf gestützt, dass die Aufhebungssatzung an einem formalen Fehler leide. Es hat diese Satzung vielmehr bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 3 BayKAG als nichtig angesehen (UA S. 21 f.) und lediglich im Übrigen darauf hingewiesen, dass sie nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sei. Das angegriffene Urteil kann daher nicht, wie es der Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO voraussetzt, auf dem von der Klägerin behaupteten Verfahrensmangel beruhen.

12

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.