Entscheidungsdatum: 10.01.2012
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 4. August 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Der Angeklagte wurde wegen schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung früher verhängter Strafen zu einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
1. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung verkündete der Vorsitzende folgende, „Beschluss“ genannte Anordnung und Feststellungen:
„Die im Sonderband TKÜ-Band enthaltenen Gesprächsprotokolle werden im Selbstleseverfahren eingeführt, das Gericht hatte Gelegenheit, hiervon Kenntnis zu nehmen, alle übrigen Verfahrensbeteiligten hatten ebenfalls Gelegenheit dazu“.
2. Hieran knüpft die Revision an. Sie hält § 261 StPO für verletzt. Die Protokolle seien im Urteil verwertet, obwohl die Mitglieder des Gerichts vom Wortlaut der Protokolle keine Kenntnis erlangt hätten. Dies ergebe sich daraus, dass entgegen § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht festgestellt sei, dass die Richter von den Protokollen Kenntnis genommen hätten.
3. Hier wurde ein Selbstleseverfahren angeordnet und wegen früheren Geschehens sogleich als durchgeführt erklärt. Der Senat hat zunächst geprüft, ob dies den Anforderungen an ein Selbstleseverfahren entsprechen kann. Für die Rüge einer Verletzung von Bestimmungen, die im Zusammenhang mit einem Selbstleseverfahren zu beachten sind, wäre in dieser Form schwerlich Raum, wenn von vorneherein kein ordnungsgemäßes Selbstleseverfahren vorläge.
Ein Selbstleseverfahren ist - auch - in der geschilderten Weise möglich. Ziel eines Selbstleseverfahrens ist es, den Inhalt von Urkunden auch ohne ihre Verlesung zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Hierfür ist bedeutungslos, ob die Erklärung der Richter, vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen zu haben, darauf beruht, dass sie die Urkunden vor oder nach der Anordnung des Selbstleseverfahrens gelesen haben. Es genügt daher, wenn die Urkunden schon zuvor, etwa bei der Prüfung der Eröffnungsentscheidung, gelesen wurden. Soweit Richter die Urkunden nicht ohnehin unabhängig vom Selbstleseverfahren gelesen haben, wie z.B. möglicherweise ein zweiter Beisitzer oder ein Ergänzungsrichter und regelmäßig Schöffen, genügt es dementsprechend, wenn dies, etwa im Vorgriff auf ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren schon vor dessen Anordnung, parallel zur Hauptverhandlung oder auch schon vor der Hauptverhandlung geschieht (vgl. Ganter in Graf, StPO § 249 Rn. 24; Diemer in KK 6. Aufl., § 249 Rn. 36).
Die übrigen Verfahrensbeteiligten müssen sich nicht darauf verweisen lassen, dass sie schon zuvor Gelegenheit zum Lesen der Urkunden gehabt hätten (Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 79). Da sie aber auf die Kenntnisnahme vom Inhalt der Urkunden sogar ganz verzichten können (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300 mwN), genügt - auch von der Revision nicht in Frage gestellt - die in der Hauptverhandlung unwidersprochen gebliebene Feststellung des Vorsitzenden, die übrigen Verfahrensbeteiligten hätten bereits ausreichende Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt.
4. Nach alledem liegt im Ansatz ein prozessordnungsgemäßes Selbstleseverfahren vor.
Urkunden und sonstige Schriftstücke sind aber nur dann im Blick auf ein Selbstleseverfahren ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt, wenn nach dessen Durchführung (als wesentliche Verfahrensförmlichkeit, §§ 273, 274 StPO) zu Protokoll festgestellt ist, dass die Mitglieder des Gerichts vom Wortlaut der Urkunden und/oder sonstigen Schriftstücke Kenntnis genommen haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO). Die hier allein getroffene - auf Grund ihrer Eindeutigkeit auch keiner zu einem anderen Ergebnis führenden Auslegung zugängliche - Feststellung, die Mitglieder des Gerichts hätten Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt, wird den Anforderungen des Gesetzes nicht gerecht (vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR 33/11, NStZ-RR 2011, 253, 255 mwN).
5. Ein Urteil beruht (§ 337 Abs. 1 StPO) auf dem aufgezeigten Mangel, wenn nicht auszuschließen ist, dass wesentliche Urteilsfeststellungen durch die nicht in einem ordnungsgemäß durchgeführten Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden und/oder Schriftstücke beeinflusst worden sind. Allein der Umstand, dass das Selbstleseverfahren durchgeführt worden ist, belegt die Bedeutung der Urkunden und/oder Schriftstücke für die Urteilsfeststellungen nicht (vgl. schon Kempf, StV 1987, 215, 221, 222), selbst die bloße Erwähnung eines Beweismittels bei der gelegentlich anzutreffenden, rechtlich nicht gebotenen und daher überflüssigen floskelhaften Aufzählung der Beweismittel besagt nicht notwendig, dass sich aus ihm etwas Wesentliches für die Urteilsfindung ergeben haben muss (Engelhardt in KK StPO, 6. Aufl., § 267 Rn. 13 mwN). Maßgeblich sind letztlich die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die konkreten Ausführungen zur Beweiswürdigung (vgl. BGH aaO).
Hier hat die Strafkammer gesondert für die Feststellungen zum Vortat-, Tat- und Nachtatgeschehen die maßgeblichen Beweismittel aufgezählt, die zwar hinsichtlich der Zeugen nicht in vollem Umfang identisch sind, die „im Selbstleseverfahren eingeführten TKÜ-Protokolle“ aber jeweils nennen.
Der Generalbundesanwalt weist allerdings zutreffend darauf hin, dass einem wichtigen Zeugen die Protokollierung einiger zentraler Telefongespräche vorgehalten wurde. Jedoch kann eine darauf erfolgte Zeugenaussage nicht den Inhalt der Urkunde bestätigen, sondern nur das, was der Zeuge zu dem ihm vorgehaltenen Inhalt gesagt hat (vgl. Diemer in KK StPO, 6. Aufl., § 249 Rn. 42 mwN). Die Strafkammer stellt jedoch nicht nur auf diese Aussagen ab, sondern etwa auch darauf, dass die Aussage des Zeugen mit einem Gesprächsprotokoll „korrespondiert“.
Soweit schließlich festgestellt ist, dass nach der Aussage eines Polizeibeamten „der Geschädigte den Inhalt der Gespräche … geschildert hat, wie in den TKÜ-Protokollen dokumentiert“, lässt dies unterschiedliche Auslegungen zu. Könnte diese Feststellung nur dahin verstanden werden, dass der Polizeibeamte berichtet hat, die Aussage des Geschädigten hätte nach einer von ihm (dem Polizeibeamten) vorgenommenen Überprüfung mit dem Inhalt der TKÜ-Protokolle übereingestimmt, könnte möglicherweise insoweit ein Beruhen des Urteils auf dem unzureichenden Selbstleseverfahren ausgeschlossen werden. Die genannte Urteilspassage lässt aber ebenso die Auslegung zu, dass nicht der Polizeibeamte die Aussage des Geschädigten mit den Protokollen verglichen hat, sondern dass die Strafkammer den Vergleich der vom Polizeibeamten berichteten Aussagen des Geschädigten mit den Protokollen selbst vorgenommen hat.
6. Im Ergebnis kann nach alledem ein Beruhen des Urteils auf dem aufgezeigten Mangel nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden. Deshalb hat die Revision Erfolg, ohne dass es noch auf Weiteres ankäme.
Nack Wahl Graf
Jäger Sander