Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 19.09.2017


BGH 19.09.2017 - 1 StR 436/17

Minder schwerer Fall des Totschlags: Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung einer Einlassung des Angeklagten und zum Vorliegen des Tatbestandsmerkmals "auf der Stelle zur Tat hingerissen"


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
19.09.2017
Aktenzeichen:
1 StR 436/17
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2017:190917B1STR436.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Mannheim, 7. April 2017, Az: 1a Ks 203 Js 28593/16
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 7. April 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt; zudem hat es das bei der Tat verwendete Keramikhaushaltsmesser eingezogen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet die Angeklagte an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Subtypus. Sie erlebt intensiv Stimmungen, die sehr wechselnd, launenhaft sein können. Sie wird schnell traurig oder wütend, ist leicht reizbar und handelt häufig „aus dem Bauch heraus“, ohne über die Konsequenzen ihres Tuns nachzudenken. Zudem ist sie nur schwer in der Lage, mit Kritik an ihrer Person oder ihren Handlungsweisen umzugehen, was häufig zu Streit führt. Ihr Verhalten ist stark belohnungsabhängig mit der Neigung, nicht unmittelbar belohnte Handlungen aufzugeben, so dass es ihr schwer fällt, schwierige Zeiten um eines übergeordneten Zieles willen durchzustehen. Diese psychische Störung führte letztlich dazu, dass die Angeklagte keine Berufsausbildung absolvierte, Beschäftigungsverhältnisse nur von kurzer Dauer und auch Beziehungen instabil und nicht längerfristig waren. Sie stand unter einem erheblichen Leidensdruck, den sie mit einem riskanten Alkoholkonsum zu kompensieren versuchte. Eine Alkoholabhängigkeit ist bei der Angeklagten allerdings nicht gegeben.

3

Im Jahre 2012 lernte sie den 21 Jahre älteren späteren Geschädigten kennen und ging mit ihm 2014 eine Liebesbeziehung ein. Beide Partner behielten jedoch jeweils ihre Wohnungen. Nach einer in der Anfangszeit sehr harmonischen Beziehung führte insbesondere eine schwere Krebserkrankung der Mutter der Angeklagten dazu, dass sich der Geschädigte vernachlässigt fühlte und zunehmend eifersüchtig wurde, ohne dass die Angeklagte ihm hierzu einen Anlass gegeben hatte. Er machte ihr immer wieder Vorhaltungen und drohte mehrfach, sich das Leben zu nehmen, wobei er sich jeweils ein Messer an den Hals hielt. Er beabsichtigte dabei nicht ernstlich, sich das Leben zu nehmen, sondern versuchte lediglich, die Angeklagte unter Druck zu setzen. Aufgrund von Streitigkeiten kam es mehrfach dazu, dass die Angeklagte dem Geschädigten den Wohnungsschlüssel zu ihrer Wohnung entzog.

4

Im Frühjahr des Jahres 2016 gerieten beide wiederum in einen heftigen Streit, wobei der Geschädigte der Angeklagten erstmals eine Ohrfeige gab, die sie damit beantwortete, dass sie ihm ebenfalls eine Ohrfeige gab und ihn aus ihrer Wohnung verwies. Die Schwierigkeiten verschärften sich, als die Angeklagte Ende August 2016 mit ihrer Mutter während einer Pause in deren Chemotherapie eine Reise unternahm. Während dieser Reise „bombardierte“ der grundlos eifersüchtige Geschädigte die Angeklagte mit „WhatsApp“-Nachrichten und Vorwürfen. Die Angeklagte stand unter einem erheblichen emotionalen Druck und war erschöpft. Auch nach ihrer Rückkehr am 1. September 2016 war die Stimmung zwischen ihr und dem Geschädigten äußerst angespannt. Sie machte dem Geschädigten deshalb klar, dass sie zunächst Abstand brauche und er in seiner Wohnung übernachten müsse, was dieser auch akzeptierte.

5

Am Abend des 5. September 2016 befanden sich die Angeklagte und der Geschädigte in der Wohnung der Angeklagten. Sie ärgerte sich zunehmend darüber, dass sie auch für den Geschädigten arbeitete, obwohl sie müde war. Er gewann entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten den Eindruck, dass die Angeklagte mit anderen Männern über das Smartphone Kontakte knüpfte, und steigerte sich weiter in seine Eifersucht hinein. Gegen 23.30 Uhr kam der Geschädigte aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und versetzte der am Wohnzimmertisch sitzenden Angeklagten völlig unvermittelt und ohne ein Wort zu sagen eine heftige Ohrfeige, worauf sie nach rechts mit dem Stuhl auf den Boden kippte. Als sie versuchte, nach ihm zu treten, versetzte er ihr noch eine Ohrfeige. Durch die Ohrfeigen erlitt die Angeklagte u.a. eine Verletzung an der Lippe sowie Schürfungen und Rötungen. Die nunmehr völlig aufgebrachte Angeklagte stand daraufhin auf, gab dem Geschädigten ebenfalls eine Ohrfeige und verwies ihn der Wohnung. Aus Wut und um ihrer Forderung, er solle die Wohnung verlassen, Nachdruck zu verleihen, warf sie eine befüllte Bonbonschale aus Glas in Richtung des Geschädigten. Die Schale schlug am Boden auf und zersplitterte. Der Geschädigte machte gleichwohl keine Anstalten, die Wohnung zu verlassen.

6

Die Angeklagte blieb zunächst in der Küche, um abzuwarten, dass der Geschädigte ihrer Aufforderung nachkommen werde. Sie schaute dann aus der Küche heraus und forderte den Geschädigten mehrfach auf, die Wohnung zu verlassen, ohne dass dieser dem nachkam. Als sie ein weiteres Mal aus der Küche herausblickte, sah sie den Geschädigten, ein kleines Küchenmesser in der Hand haltend, im Flur stehen. Sie fragte ihn, ob er nun „wieder damit anfange“, da sie befürchtete, er werde nunmehr wieder damit drohen, sich in ihrer Wohnung das Leben zu nehmen. Auch hegte sie die Befürchtung, er könne ihr das Gesicht zerschneiden, wie er es bereits einmal angekündigt hatte. Sie wollte unbedingt Distanz zu dem Geschädigten bekommen, musste aber erkennen, dass er dies ignorierte. Dies steigerte ihre Wut darüber, dass er ihrer mehrfachen Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, keine Folge leistete, nochmals erheblich. Daher wollte sie dieser Aufforderung Nachdruck verleihen. Sie nahm in der Küche aus einer Plastikbox ein 32,5 cm langes Küchenmesser und trat damit dem Geschädigten, der seinerseits das zuvor von ihm in der Hand gehaltene Messer wieder abgelegt hatte, entgegen. Sie forderte ihn schreiend nochmals auf, die Wohnung zu verlassen. Sie hielt das Messer in Hüfthöhe vor sich, trat auf ihn zu und stach ihm mit einem mit mäßigem Kraftaufwand geführten Stich von vorne in den linken Oberbauch. Dabei nahm sie billigend in Kauf, dass der von ihr zur Erreichung ihres Ziels geführte Stich, den Geschädigten aus der Wohnung zu verweisen, diesen töten könnte. Die hierbei verursachte Stichverletzung führte in kürzester Zeit zum Tod des Geschädigten. Er schlug mit einem dumpfen Schlag mit dem Hinterkopf auf den Boden und verstarb. Nach der Wertung des Landgerichts war die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten bei der Tat wegen ihrer Alkoholisierung mit einer Blutalkoholkonzentration von maximal 1,64 Promille in Kombination mit ihrer Persönlichkeitsstörung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert.

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2. Das Landgericht hat die Tat als Totschlag gemäß § 212 Abs. 1 StGB gewertet. Im Rahmen der Strafzumessung hat es das Vorliegen eines minder schweren Falls nach § 213 1. Alt. StGB verneint, weil der finale Bauchstich nicht auf das Vorgeschehen zurückzuführen sei. Auf dieses habe die Angeklagte mit dem Tritt in die Richtung des Geschädigten, einer Ohrfeige, seines Verweises aus der Wohnung und dem in seine Richtung gezielten Wurf einer gläsernen Bonboniere abschließend reagiert. Auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung und unter Berücksichtigung des vertypten Strafmilderungsgrundes der eingeschränkten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) hat das Landgericht jedoch einen sonstigen minder schweren Fall (§ 213 2. Alt. StGB) angenommen.

II.

8

Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Feststellungen des Landgerichts beruhen auf einer lückenhaften und deshalb durchgreifend rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung.

9

1. Bereits die Beweiswürdigung zum Tathergang hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Damit fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für eine Verurteilung der Angeklagten wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.

10

a) An die Bewertung der Einlassung eines Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 1995 - 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Dabei sind entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Auch im Übrigen hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Beweisergebnisses zu bilden (st. Rspr.; vgl. nur BGH aaO BGHR Einlassung 6 sowie Ott in KK-StPO, 7. Aufl., § 261 StPO Rn. 57 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).

11

b) Diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht stand. Die Urteilsausführungen lassen eine umfassende Würdigung der Einlassung der Angeklagten vermissen.

12

aa) Das Landgericht hat den Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen im Wesentlichen die Angaben der Angeklagten in der Hauptverhandlung zugrunde gelegt. Abweichend von ihrer Einlassung hat es sich jedoch davon überzeugt, dass die Angeklagte das Tatmesser nicht etwa zufällig im Rahmen von Arbeiten beim Kochen in der Hand gehabt habe, sondern dieses bewusst aus einer Box herausgenommen habe. Diese Überzeugung stützt das Landgericht auf entsprechende Angaben der Angeklagten bei einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung.

13

Zudem ist das Landgericht abweichend von der Einlassung der Angeklagten zu der Überzeugung gelangt, dass sie den tödlichen Stich bewusst ausgeführt habe. Das Landgericht hat dabei in den Blick genommen, dass sich die Angeklagte in der Hauptverhandlung eingelassen hatte, sie habe lediglich mit dem Messer vor dem Geschädigten „herum gefuchtelt“, um ihrer Forderung, er solle die Wohnung verlassen, Nachdruck zu verleihen. Da der Geschädigte sich auf sie zubewegt habe, habe sie befürchtet, dass er ihr nochmals eine Ohrfeige versetzen oder sie packen würde. Bei diesem Herumfuchteln müsse sie den Geschädigten mit dem Messer verletzt haben. Sie habe ihn aber überhaupt nicht verletzen und schon gar nicht umbringen wollen. Sie habe nur gewollt, dass er gehe. Das Landgericht hält die Einlassung der Angeklagten auch insoweit für widerlegt, zumal sie mit früheren Angaben in Widerspruch stehe. So habe die Angeklagte nicht nur in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben, das Messer nach vorne gehalten zu haben. Gegenüber den am Tatort eintreffenden Polizeibeamten habe sie sogar spontan geäußert, sie habe nur einmal zugestochen.

14

bb) Ausgehend hiervon hätte das Landgericht auch die übrigen Angaben der Angeklagten nicht ohne weiteres den Feststellungen zugrunde legen dürfen. Vielmehr hätte es erörtern müssen, ob über die vom Landgericht für widerlegt angesehenen Angaben hinaus auch die weiteren Angaben der Angeklagten nicht der Wahrheit entsprachen. Denn entlastende Angaben des Angeklagten sind nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. August 1995 - 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Das Landgericht hätte daher insbesondere erörtern müssen, ob die Einlassung der Angeklagten auch insoweit unwahr war, als sie behauptete, der Geschädigte habe ihr völlig unvermittelt und ohne ein Wort zu sagen eine Ohrfeige gegeben, woraufhin sie mit dem Stuhl auf den Boden gekippt sei.

15

cc) Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich dieser Beweiswürdigungsmangel nicht nur zum Vorteil, sondern auch zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt hat. Da mithin die Feststellungen zum Tatablauf insgesamt keinen Bestand haben können, fehlt auch dem Schuldspruch eine tragfähige Grundlage. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

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2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat zum Tatbestandsmerkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ in § 213 1. Alt. StGB auf Folgendes hin:

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Für dieses Merkmal ist nicht entscheidend, ob sich die Tat als „Spontantat“ darstellt. Vielmehr kommt es darauf an, ob der durch eine schwere Provokation, die in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls auch in Ohrfeigen liegen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2016 - 1 StR 581/15, StraFo 2016, 167), hervorgerufene Zorn noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. April 2007 - 5 StR 134/07, NStZ-RR 2007, 200 und vom 28. September 2010 - 5 StR 358/10, NStZ-RR 2011, 10). Entscheidend ist, ob ein motivationspsychologischer Zusammenhang zwischen der Misshandlung oder Beleidigung durch das Opfer und der Körperverletzungshandlung des Täters besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1999 - 2 StR 384/99, NStZ-RR 2000, 80). Das kann auch noch nach mehreren Stunden der Fall sein (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 1984 - 3 StR 443/83, NStZ 1984, 216; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 213 Rn. 9a). Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe auf die beiden Ohrfeigen des Geschädigten am Tatabend mit dem Tritt in die Richtung des Geschädigten, eine ihm gegebene Ohrfeige, seines Verweises aus der Wohnung und dem in seine Richtung gezielten Wurf einer Bonboniere abschließend reagiert, genügte angesichts der Feststellungen zum weiteren Tatablauf und zur Persönlichkeit der Angeklagten diesen Maßstäben nicht. In diesem Zusammenhang könnte gegebenenfalls die beharrliche Weigerung des Geschädigten, die Wohnung zu verlassen, Gewicht erlangen.

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