Entscheidungsdatum: 27.09.2016
Die Klägerin begehrt die nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr im Februar 1993 erteilten Aufnahmebescheid.
Die 1937 geborene Klägerin reiste 1993 nach Deutschland ein und erhielt im gleichen Jahr eine Spätaussiedlerbescheinigung.
Der 1965 geborene Sohn der Klägerin sowie dessen Ehefrau und die beiden Kinder hatten 1994 ebenfalls einen Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedler gestellt, den das Bundesverwaltungsamt abgelehnt hatte. Im Jahr 1999 reiste der Sohn der Klägerin gemeinsam mit seiner Familie mit einem Besuchsvisum nach Deutschland ein. Er betrieb neben dem vertriebenenrechtlichen Verfahren erfolglos staatsangehörigkeitsrechtliche und ein asylrechtliches Verfahren.
Anfang des Jahres 2004 wurde der Sohn der Klägerin gemeinsam mit seiner Familie nach Kirgisistan abgeschoben.
Am 8. Juni 2011 beantragte die Klägerin die nachträgliche Einbeziehung ihres Sohnes, seiner Ehefrau und deren beider Kinder in den ihr erteilten Aufnahmebescheid. Diesen Antrag lehnte das Bundesverwaltungsamt mit Bescheid vom 13. November 2012 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine nachträgliche Einbeziehung nicht in Betracht komme, da die einzubeziehenden Personen nicht seit der Ausreise des antragstellenden Spätaussiedlers ununterbrochen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet gehabt hätten, sondern sich vom 20. September 1999 bis Anfang 2004 in Deutschland aufgehalten hätten.
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage der Klägerin wies das Verwaltungsgericht ab.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht hat die Klägerin die Berufung zurückgenommen, soweit sie die nachträgliche Einbeziehung ihres Sohnes, dessen Ehefrau und deren Sohnes in den Aufnahmebescheid begehrt hatte.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 16. September 2015 das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, die Enkelin der Klägerin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid vom 25. Februar 1993 einzubeziehen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Enkelin der Klägerin sei ein "im Aussiedlungsgebiet verbliebener Abkömmling" im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG. Dem stehe nicht entgegen, dass diese sich von September 1999 bis Anfang 2004 in Deutschland aufgehalten habe. Der Wortlaut dieser Tatbestandsvoraussetzung schließe einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland nicht aus. Das "Verbleiben im Aussiedlungsgebiet" erfordere nicht notwendigerweise Kontinuität, sondern könne auch auf den Zeitpunkt des Trennens oder Verlassens abstellen. Das Tatbestandsmerkmal beschreibe die Trennungssituation, die dadurch gekennzeichnet sei, dass der antragstellende Spätaussiedler in Deutschland lebe, während die einzubeziehende Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einbeziehungsantrag ihren Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet haben müsse. Aus dem Wort "verblieben" ergebe sich demgegenüber nicht, dass ein früherer vorübergehender Aufenthalt außerhalb des Aussiedlungsgebietes den Anspruch entfallen lasse. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich kein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber die Fallgestaltung eines vorübergehenden Aufenthalts in Deutschland gesehen habe oder als anspruchsschädlich habe berücksichtigt wissen wollen. Das Normverständnis des Senats werde insbesondere durch die teleologische Auslegung bestätigt. Es sei die Absicht des Gesetzgebers gewesen, die Familienzusammenführung in möglichst vielen Fällen zuzulassen und so dauerhafte Trennungen der Familien der Spätaussiedler zu vermeiden. Eine solche Familientrennung liege unabhängig davon vor, ob der jetzt im Aussiedlungsgebiet lebende Familienangehörige sich zwischenzeitlich vorübergehend in Deutschland aufgehalten habe. Die sonstigen Voraussetzungen für eine nachträgliche Einbeziehung seien gegeben.
Die Beklagte macht mit der Revision insbesondere geltend, das Tatbestandsmerkmal "im Aussiedlungsgebiet verblieben" sei nach grammatischer, historischer und systematischer Auslegung dahin zu verstehen, dass ein ununterbrochener Aufenthalt des Familienangehörigen im Aussiedlungsgebiet erforderlich sei. In Fällen wie dem vorliegenden sei nicht die Aussiedlung des Spätaussiedlers, sondern die Rückkehr des Abkömmlings in das Herkunftsgebiet Ursache für die Familientrennung. Die vom Oberverwaltungsgericht vorgenommene teleologische Auslegung des § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG beruhe auf einem falschen Verständnis der Rechtsnorm. Diese diene allein der Bereinigung einer sich aus der Aussiedlung des Spätaussiedlers ergebenden dauerhaften Familientrennung. Eine solche entstehe nur dann, wenn der Spätaussiedler unter Zurücklassung seiner Familienangehörigen nach Deutschland aussiedle. Verlasse der nicht einbezogene Familienangehörige mit dem Spätaussiedler oder nach diesem das Aussiedlungsgebiet mit dem Ziel des dauerhaften Aufenthalts in Deutschland und kehre später in das Herkunftsgebiet zurück, handele es sich hierbei nicht um eine aussiedlungsbedingte Trennung.
Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich im Wesentlichen der Beklagten an.
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die Enkelin der Klägerin sei im Sinne von § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG "im Aussiedlungsgebiet verblieben", ist mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid nach § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG. Da sich die Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), ist das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung zurückzuweisen.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des von der Klägerin mit der Verpflichtungsklage verfolgen Anspruchs auf nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid ist § 27 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl I S. 1902), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. September 2013 (BGBl I S. 3554). Die nachfolgende Änderung des Bundesvertriebenengesetzes durch das Gesetz zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner (LPartRBerG) vom 20. November 2015 (BGBl I S. 2010) hat diese Regelung unverändert gelassen.
1. Nach § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG kann abweichend von § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG der im Aussiedlungsgebiet verbliebene Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers, der seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes hat, nachträglich nach Satz 1 in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers einbezogen werden, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind hier nicht erfüllt. Die Enkelin der Klägerin ist kein "im Aussiedlungsgebiet verbliebener" Abkömmling der Klägerin im Sinne dieser Bestimmung, weil sie sich nach der Aussiedlung der Klägerin nicht ununterbrochen im Aussiedlungsgebiet aufgehalten hat.
Wie der Senat mit Urteil vom heutigen Tag im Parallelverfahren 1 C 19.15 entschieden hat, kann ein Familienangehöriger nur dann nachträglich in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers einbezogen werden, wenn er seinen Wohnsitz seit dessen Aussiedlung ununterbrochen im Aussiedlungsgebiet hatte. Die Formulierung "der im Aussiedlungsgebiet verbliebene" legt nach dem Sprachgebrauch eher ein Verständnis nahe, wonach die genannte Voraussetzung mehr als ein nur punktuelles Zurückbleiben des Abkömmlings im Aussiedlungsgebiet im Zeitpunkt der Aussiedlung der Bezugsperson umfasst, dieser vielmehr im gesamten Zeitraum zwischen der Aussiedlung der Bezugsperson und der Entscheidung über die nachträgliche Einbeziehung seinen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet gehabt haben muss. Auch dem systematischen Vergleich mit dem für den Spätaussiedlerstatus vorausgesetzten Erfordernis eines ununterbrochenen Wohnsitzes im Aussiedlungsgebiet seit bestimmten Stichtagen (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG: "seit dem ... ") und der in diesem Zusammenhang geregelten Wohnsitzfiktion des § 27 Abs. 1 Satz 3 BVFG lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass ein zwischenzeitlicher - über einen Besuchsaufenthalt hinausgehender - Aufenthalt des Familienangehörigen im Bundesgebiet bei der Anwendung des § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG generell unschädlich ist. Die Entstehungsgeschichte der Regelung über die nachträgliche Einbeziehung von Ehegatten und Abkömmlingen vermag die Auslegung des Berufungsgerichts ebenfalls nicht zu stützen. Sie deutet im Gegenteil eher darauf hin, dass der Gesetzgeber von der Vorstellung eines kontinuierlichen Verbleibens im Aussiedlungsgebiet ausgegangen ist; jedenfalls finden sich keine positiven Anhaltspunkte dafür, dass insbesondere der Ablehnung der Änderungsanträge der Opposition und des Landes Hessen auf Streichung der Worte "im Aussiedlungsgebiet verbliebene" bzw. deren Ergänzung um die Worte "oder bereits ausgereist" (BT-Drs. 17/7215 sowie BR-Drs. 57/2/11) seinerzeit eine nach dem Wortlaut nicht naheliegende und nach der Systematik eher auszuschließende Auslegung zugrunde gelegen haben könnte. Die Annahme, eine vorübergehende Wohnsitzverlegung in das Bundesgebiet stehe einem Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung nicht entgegen, lässt sich vor diesem Hintergrund auch nicht mit teleologischen Erwägungen begründen. Insbesondere rechtfertigt das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, die Einheit von Spätaussiedlerfamilien in möglichst vielen Fällen wieder herzustellen, für sich genommen nicht die Annahme, eine vorübergehende Aufgabe des Wohnsitzes im Aussiedlungsgebiet schließe die nachträgliche Einbeziehung nicht aus. Denn dieses Ziel wird bereits durch die zeitliche Entkopplung der Einbeziehung von der Aussiedlung des Spätaussiedlers in Verbindung mit dem Wegfall des Härteerfordernisses erreicht. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf die Ausführungen im Parallelverfahren verwiesen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - Rn. 12 ff.).
Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, die Enkelin der Klägerin nachträglich in den ihr erteilten Aufnahmebescheid einzubeziehen. Diese ist nicht im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG "im Aussiedlungsgebiet verblieben", weil sie sich vom 20. September 1999 bis Anfang 2004 in Deutschland aufgehalten hatte. Damit hatte sie ihren Wohnsitz in Kirgisistan vorübergehend aufgegeben.
2. Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Voraussetzungen der allenfalls noch als weitere Anspruchsgrundlage für die begehrte Einbeziehung in Betracht kommenden Regelungen des § 27 Abs. 1 Satz 2 Halbs.2 BVFG liegen nicht vor. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG kann abweichend von § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG Personen, die sich ohne Aufnahmebescheid im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten, ein Aufnahmebescheid erteilt werden, oder es kann die Eintragung nach Abs. 2 Satz 1 nachgeholt werden, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die Nachholung der Eintragung nach Abs. 2 ist ebenfalls auf eine Einbeziehung von Abkömmlingen oder Ehegatten in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers und damit auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet.
Der Senat kann offenlassen, ob sich der Anwendungsbereich dieser Regelung nach Schaffung einer Rechtsgrundlage für die nachträgliche Einbeziehung von Angehörigen nunmehr auf die Fallgestaltung beschränkt, dass sich der Familienangehörige schon in Deutschland aufhält. Die Nachholung der Einbeziehung nach dieser Regelung bleibt jedenfalls an die Voraussetzung des § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG gebunden, dass es sich um eine Einbeziehung zum Zweck der gemeinsamen Aussiedlung handeln muss. Ungeachtet der Frage, wie diese Voraussetzung in Grenzfällen zu definieren ist, kann von einer Einbeziehung zum Zwecke der gemeinsamen Aussiedlung jedenfalls keine Rede mehr sein, wenn diese - wie hier - erst nach vollständigem Abschluss der Aussiedlung des Spätaussiedlers und ohne jeden noch erkennbaren zeitlichen Zusammenhang mit dieser beantragt wird. In diesen Fällen ist eine nachträgliche Einbeziehung allein auf der Grundlage von § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - Rn. 31).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.