Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 12.07.2018


BVerwG 12.07.2018 - 1 C 16/17

Generalprävention kann ein Ausweisungsinteresse begründen


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
12.07.2018
Aktenzeichen:
1 C 16/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:120718U1C16.17.0
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 19. April 2017, Az: 11 S 1967/16, Urteilvorgehend VG Sigmaringen, 17. März 2016, Az: 3 K 496/14, Urteil
Zitierte Gesetze
Art 20 AEUV
§ 30 Abs 3 AsylVfG 1992
§ 85 Nr 2 AsylVfG 1992
§ 54 Abs 2 Nr 8a AufenthG

Leitsätze

1. Generalpräventive Gründe können auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründen.

2. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse muss zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch aktuell sein. Das ist nicht der Fall, wenn es durch Zeitablauf so sehr an Bedeutung verloren hat, dass es bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht mehr herangezogen werden kann. Für Ausweisungsinteressen, die an strafbares Verhalten anknüpfen, bieten die strafrechtlichen Verjährungsfristen der §§ 78 ff. StGB einen geeigneten Rahmen zur Konkretisierung. Bei abgeurteilten Straftaten stellen die Fristen für ein Verwertungsverbot nach § 51 BZRG in jedem Fall die Obergrenze dar.

3. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht eigener Art nach Art. 20 AEUV besteht nach der Rechtsprechung des EuGH dann, wenn ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird. Das Aufenthaltsrecht ist zu bescheinigen, wie dies in § 4 Abs. 5 AufenthG für das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts vorgesehen ist.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, hilfsweise die Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts.

2

Der Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 2009 nach Deutschland ein und beantragte hier unter falschem Namen seine Anerkennung als Asylberechtigter. Den Antrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) im Juni 2010 als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Die hiergegen gerichtete Klage wurde rechtskräftig abgewiesen.

3

In der Folgezeit beantragte der Kläger weiterhin unter falschem Namen Duldungen, die auch erteilt wurden. Eine Abschiebung war mangels Pass- oder Ersatzpapieren nicht möglich. Wegen wiederholter Zuwiderhandlungen gegen eine Aufenthaltsbeschränkung wurde der Kläger mit Strafbefehl vom 2. November 2010 rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen und mit Strafbefehl vom 20. Januar 2011 rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt.

4

Im Januar 2013 erkannte der Kläger die Vaterschaft eines von einer deutschen Staatsangehörigen erwarteten Kindes an. Mit Schreiben vom 29. Januar 2013 teilte er der Ausländerbehörde unter Vorlage eines nigerianischen Reisepasses mit, dass er im Rahmen seiner Asylantragstellung wahrheitswidrig einen falschen Namen angegeben habe. Zugleich beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, da er nach der Geburt des Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten werde, einen Anspruch hierauf habe. Der Sohn wurde am 3. März 2013 geboren, ein zweiter Sohn im September 2015. Beide Kinder sind deutsche Staatsangehörige und leben bei der Mutter. Das Sorgerecht wird von den Eltern gemeinsam ausgeübt.

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Die Ausländerbehörde lehnte im April 2013 den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Sie berief sich dabei auf § 10 Abs. 3 AufenthG. Der Asylantrag des Klägers sei nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 Asyl(Vf)G abgelehnt worden. Zwar vermittele § 28 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Durch seine Straftaten, insbesondere seine langjährigen Falschangaben habe der Kläger jedoch objektive Ausweisungsgründe verwirklicht. Damit liege die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht vor. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen.

6

Dem Kläger wurden fortlaufend Duldungen erteilt, auf deren Grundlage er sich in Deutschland aufhält. Darin wird ihm auch die Erwerbstätigkeit gestattet.

7

Das Verwaltungsgericht wies die auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gerichtete Klage ab. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 19. April 2017 das erstinstanzliche Urteil geändert und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen. Sein Urteil hat er im Wesentlichen wie folgt begründet: Zwar sei wegen des als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylantrages ein strikter Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlich (§ 10 Abs. 3 AufenthG). Ein solcher liege hier aber vor. Denn die Erteilungsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG seien ebenso erfüllt wie die des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Es liege kein Ausweisungsinteresse vor, wie es § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fordere. Generalpräventive Gründe reichten hierfür nicht aus. Der Wortlaut der zum 1. Januar 2016 neu gefassten Ausweisungsvorschriften stehe einer Einbeziehung rein generalpräventiver Ausweisungsinteressen entgegen. § 53 Abs. 1 AufenthG n.F. verlange eine aktuelle Gefährdung durch den Aufenthalt des Ausländers und erfasse damit die rein generalpräventiv begründete Ausweisung nicht. Eine Korrektur des Gesetzestextes im Wege der Analogie, der teleologischen Extension oder der Rechtsfortbildung widerspreche dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot. Zwar habe der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung auch nach der Neuregelung des Ausweisungsrechts generalpräventiv begründete Ausweisungen weiter ermöglichen wollen. Der gesetzgeberische Wille habe im Gesetzeswortlaut aber keinen Niederschlag gefunden und sei daher unbeachtlich. Die Gesetzesbegründung lasse auch nicht erkennen, in welchen Fällen nach neuem Recht generalpräventive Ausweisungen legitim seien und in welchem Verhältnis die Ausweisungszwecke der General- und der Spezialprävention in dem neuartigen Abwägungsmodell des Ausweisungsrechts zueinander stehen sollten.

8

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision. Er ist der Auffassung, dass generalpräventive Gründe auch nach dem neuen Ausweisungsrecht zu berücksichtigen seien. Im vorliegenden Fall liege aufgrund der abgeurteilten Straftaten und aufgrund der (strafrechtlich nicht geahndeten) jahrelangen Identitätstäuschung ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor.

9

Der Kläger schließt sich der Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichtshofs an und macht weiterhin geltend, die Anerkennung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses führte in weitem Umfang zur "Vernichtung" gesetzlicher Ansprüche ohne die Grenzen, die bei spezialpräventiven Ausweisungen etwa bei fehlender Wiederholungsgefahr oder Tilgungsreife einer verhängten Strafe bestünden. Die Einschränkung solcher generalpräventiv motivierter Ausweisungsinteressen sei unverzichtbar, um zu verhältnismäßigen Ergebnissen zu kommen. Hilfsweise beruft er sich darauf, dass ihm aufgrund der Rechtsprechung des EuGH ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zustehe, das aus Art. 20 AEUV abzuleiten sei, wenn ein Kleinkind mit Unionsbürgerschaft ohne den gesicherten Aufenthalt des drittstaatsangehörigen Elternteils faktisch zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen wäre. Die Voraussetzungen eines solchen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts lägen hier vor.

10

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem Verfahren, sieht generalpräventive Gründe als vom neuen Ausweisungsrecht erfasst an und hält dabei abgeurteilte Straftaten im Rahmen der Tilgungsfristen des Bundeszentralregistergesetzes für verwertbar.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen mit einer Begründung verpflichtet, die Bundesrecht verletzt. Abweichend von der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts können generalpräventive Gründe, wie sie hier zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung vorgelegen haben, auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründen (1.). Gegen Bundesrecht verstößt das Urteil des Berufungsgerichts auch dadurch, dass es einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bejaht hat, ohne zu prüfen, ob der Kläger das Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt (2.). Während der Senat über den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG abschließend entscheiden und die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückweisen konnte, war eine solche Entscheidung zu dem im Revisionsverfahren geltend gemachten Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV nicht möglich (3.). Zur Prüfung, ob dessen Voraussetzungen vorliegen, war der Rechtsstreit insoweit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, hilfsweise auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV.

13

Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wie auch auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 10 und vom 25. März 2015 - 1 C 16.14 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 22 Rn. 14). Dabei sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9). Der Entscheidung über die Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht sind daher die Vorschriften der § 5 Abs. 1 und 2, § 10 Abs. 3, § 53 Abs. 1 und § 54 AufenthG in der Fassung zugrunde zu legen, die sie durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2429) erhalten haben. Seitdem hat sich die Rechtslage nicht geändert.

14

1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen zu, weil es an der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlt, dass kein Ausweisungsinteresse besteht.

15

A. Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt - d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen - vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Der Begriff des Ausweisungsinteresses verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und anhand von Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf. Diese Vorschriften regeln die Aufenthaltsbeendigung bei Vorliegen eines öffentlichen Ausweisungsinteresses. Umgekehrt setzt die Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG knüpfte in seiner bis zur Neuregelung geltenden Fassung an die damalige Terminologie des Ausweisungsrechts an und setzte in der Regel voraus, dass kein "Ausweisungsgrund" im Sinne der §§ 53 ff. AufenthG a.F. vorlag. Die geänderte Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stellt nach den Gesetzesmaterialien lediglich eine Folgeänderung zur Neuordnung des Ausweisungsrechts in den §§ 53 ff. AufenthG dar (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25. Februar 2015, BT-Drs. 18/4097 S. 35). Daher ist die zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG a.F. und inhaltlich entsprechenden Vorläufervorschriften ergangene Rechtsprechung auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG n.F. übertragbar. Danach kam es für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2004 - BVerwG 1 C 10.03 - BVerwGE 122, 94 <98>). Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt - sofern sie nicht durch § 10 Abs. 3 AufenthG ausgeschlossen ist - erst im Rahmen der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt (oder im Rahmen einer - wie hier in § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG - spezialgesetzlich vorgesehenen Ermessensentscheidung).

16

B. Auch allein generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG generalpräventive Gründe zu. Diese grundlegende Norm des neuen Ausweisungsrechts verlangt nämlich nicht, dass von dem ordnungsrechtlich auffälligen Ausländer selbst eine Gefahr ausgehen muss. Vielmehr muss dessen weiterer "Aufenthalt" eine Gefährdung bewirken (so auch OVG Koblenz, Urteile vom 23. Mai 2017 - 7 A 11445/16 - juris und vom 5. April 2018 - 7 A 11529/17 - juris; VGH München, Urteil vom 28. Juni 2016 - 10 B 15.1854 - juris; VGH Kassel, Urteil vom 27. Februar 2018 - 6 A 2148/16 - AuAS 2018, 112; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 53 AufenthG Rn. 34 ff.; Graßhof, in: Kluth/Heusch, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 27 ff.). Vom Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann aber auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. zum früheren Ausweisungsrecht: BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 17 ff.).

17

Der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG unterscheidet sich insoweit ausdrücklich von dem des § 53 Abs. 3 AufenthG, der für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das "persönliche Verhalten des Betroffenen" eine schwerwiegende Gefahr darstellt. Insofern findet der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich formulierte gesetzgeberische Wille, eine Ausweisungsentscheidung grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen stützen zu können (BT-Drs. 18/4097 S. 49), entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts im Gesetzeswortlaut seinen Niederschlag.

18

Entsprechendes gilt für die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Diese verlangt das Fehlen eines Ausweisungsinteresses, ohne dieses auf Tatbestände einzugrenzen, bei denen die Gefahr vom Ausländer selbst ausgehen muss. Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unterscheidet sich insoweit von anderen Tatbeständen, die das Fehlen einer vom Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zur Erteilungsvoraussetzung erheben. So verlangen § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis und § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG für die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU gleichlautend, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung u.a. der "vom Ausländer ausgehenden Gefahr" nicht entgegenstehen.

19

Ist der Wortlaut des § 53 Abs. 1 und des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG offen und stehen Gesichtspunkte der systematischen Auslegung - wie hier - jedenfalls nicht entgegen, kommt dem gesetzgeberischen Willen erhebliche Bedeutung für die Gesetzesauslegung zu. Dieser wird aus der Gesetzesbegründung der Bundesregierung im Gesetzentwurfs vom 25. Februar 2015 (BT-Drs. 18/4097 S. 49) hinreichend deutlich, wenn ausgeführt wird:

"Die Ausweisungsentscheidung kann grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden, wenn nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls das Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Dies gilt allerdings nicht für die in § 53 Absatz 3 genannten Personengruppen. Hier ist die Ausweisung nur zulässig, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist."

20

Des Weiteren ergibt sich auch aus dem Gesetz selbst, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will. Denn gerade das im vorliegenden Fall einschlägige, nach der Einstufung des Gesetzgebers schwer wiegende Ausweisungsinteresse wegen Falschangaben zur Verhinderung einer Abschiebung, das § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG normiert, dient typischerweise generalpräventiven Interessen. Falschangaben - wie hier in Gestalt der Identitätstäuschung - bergen nach Entdeckung in aller Regel nicht mehr die Gefahr der Wiederholung durch den betreffenden Ausländer. Dessen Identität ist nach Aufdeckung der Täuschung in aller Regel geklärt. Dieses Ausweisungsinteresse dient daher nicht - jedenfalls nicht vorrangig - spezialpräventiven Zwecken, sondern zielt maßgeblich darauf ab, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile im Falle eines pflichtwidrigen Verhaltens aufgezeigt werden.

21

Ergibt sich aus den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung, dass § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auch generalpräventive Ausweisungsinteressen erfasst, kommt es auf die umfangreichen Ausführungen des Berufungsgerichts zu den Grenzen einer Rechtsfortbildung (UA S. 15 - 30) nicht an.

22

C. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG allerdings nur dann entgegen, wenn es noch aktuell ist, das heißt zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist. Das ist hier der Fall.

23

Dabei ist zu berücksichtigten, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt - auch bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG - nicht mehr herangezogen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 2002 - 1 C 6.01 - BVerwGE 115, 352 <360>). Das Aufenthaltsgesetz enthält allerdings keine feste Regeln, wie lange ein bestimmtes Ausweisungsinteresse, wie es etwa in den Tatbeständen des § 54 AufenthG normiert ist, verhaltenslenkende Wirkung entfaltet und einem Ausländer generalpräventiv entgegengehalten werden kann. Eine Heranziehung der in § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Kriterien für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist nicht möglich, da sie an die Ausreise des Ausländers anknüpfen. Auch geht es hier nicht um den Erlass einer Ausweisung und die damit zusammenhängende Frage, wie lange sich der Ausländer aus dem Bundesgebiet fernzuhalten hat, sondern lediglich um die Vorfrage, ob weiterhin ein Ausweisungsinteresse besteht. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, hält der Senat für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung allerdings eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung für angezeigt. Diese verfolgen zwar einen anderen Zweck, geben dem mit zunehmendem Zeitabstand eintretenden Bedeutungsverlust staatlicher Reaktionen (die an Straftaten anknüpfen) aber einen zeitlichen Rahmen, der nicht nur bei repressiven Strafverfolgungsmaßnahmen, sondern auch bei der Bewertung des generalpräventiven Ausweisungsinteresses herangezogen werden kann. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten (hier: die beiden durch Strafbefehl geahndeten Verstöße gegen Aufenthaltsbeschränkungen) bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG).

24

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war das generalpräventiv auf die Identitätstäuschung des Klägers gestützte Ausweisungsinteresse noch aktuell, das auf den abgeurteilten Rechtsverstößen des Zuwiderhandelns gegen Aufenthaltsbeschränkungen beruhende hingegen nicht. Für die vom Kläger begangene Identitätstäuschung im Sinne von § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, §§ 271, 276 und 276a StGB beträgt die einfache Verjährungsfrist fünf Jahre, weil die Tat mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht ist. Die absolute Verjährungsfrist beträgt damit zehn Jahre. Die Verjährungsfrist begann mit Beendigung der Tat durch Offenbarung der wahren Identität des Klägers im Januar 2013 zu laufen. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts im April 2017 war damit noch nicht einmal die einfache Verjährungsfrist abgelaufen. Die Aktualität des Ausweisungsinteresses dauert bei der vom Kläger begangenen Identitätstäuschung aber bis in den oberen Bereich des vom Senat zugrunde gelegten Fristenregimes fort. Denn es besteht ein hohes öffentliches Interesse an der Verhinderung von Identitätstäuschungen im aufenthaltsrechtlichen Verfahren, dem durch wirksame verhaltenslenkende Maßnahmen Rechnung zu tragen ist. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Kläger nicht eine einmalige Täuschungshandlung begangen hat, sich seine Falschangaben vielmehr in zahlreichen Einzelakten über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erstreckten. Eine aus dem BZRG abzuleitende absolute Obergrenze besteht nicht, da die Identitätstäuschung strafrechtlich nicht geahndet wurde.

25

Demgegenüber ist das Ausweisungsinteresse, das sich aus den beiden durch Strafbefehl geahndeten Verstößen gegen Aufenthaltsbeschränkungen ergab, nicht mehr aktuell. Denn die Verurteilungen nach § 85 Nr. 2 Asyl(Vf)G vom November 2010 und im Januar 2011 erfolgten zu Geldstrafen von 10 und von 20 Tagessätzen und waren daher fünf Jahre nach den Verurteilungen zu tilgen (§ 46 Abs. 1 Nr. 1 BZRG). Sie durften dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht im April 2017 nicht mehr vorgehalten werden.

26

Der Senat weist darauf hin, dass das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG objektiv bestimmt wird. Da es sich bei der Frage, ob die Erteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses vorliegt, zudem um eine rechtlich gebundene Entscheidung handelt, sind die oben genannten Grenzen für die Aktualität eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses auch dann zu beachten, wenn die Behörde ihre aufenthaltsrechtliche Entscheidung allein auf spezialpräventive Gründe gestützt hat, objektiv aber zusätzlich ein generalpräventives Ausweisungsinteresse vorliegt.

27

D. Bleibeinteressen des Klägers, wie sie insbesondere aus dem Interesse an weiterer Wahrnehmung der elterlichen Sorge für seine beiden minderjährigen Söhne resultieren, können bei der Frage der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG im vorliegenden Fall nicht berücksichtigt werden, da dem die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG entgegenstehen. Der Kläger hat einen Asylantrag gestellt, der im Jahr 2010 rechtskräftig abgelehnt worden ist, und zwar als offensichtlich unbegründet (§ 30 Abs. 3 AsylG). Damit darf ihm vor Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Durch die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG soll im Interesse einer effektiven Steuerung und Begrenzung der Einwanderung die missbräuchliche Stellung von Asylanträgen sanktioniert und der Anreiz für die Schaffung von Bleiberechten nach negativem Abschluss eines Asylverfahrens reduziert werden. Die Sperrwirkungen des § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG finden nur im Falle eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Dabei muss es sich nach der Rechtsprechung des Senats um einen strikten Rechtsanspruch handeln, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Das bedeutet, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein müssen und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat. Hierfür genügt weder eine Soll- noch eine Ermessensvorschrift, selbst wenn im Einzelfall ein atypischer Fall vorliegt oder das Ermessen "auf Null" reduziert ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 Rn. 19 zu § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 20 ff. zu § 10 Abs. 1 AufenthG).

28

Ein solcher strikter Rechtsanspruch liegt hier nicht vor, da der Kläger nicht die Tatbestandsvoraussetzungen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Ein mögliches unionsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV zur Sicherung des Aufenthaltsrechts der vom Drittstaatsangehörigen abhängigen Kinder in der Europäischen Union (dazu nachstehend Rn. 32 ff.) ist kein nationaler Rechtsanspruch im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG und wird auch sonst von dieser Regelung nicht berührt. Aus einem solchen Rechtsanspruch ergibt sich ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht eigener Art, aber nicht ein nationaler Aufenthaltstitel nach § 28 AufenthG mit den sich aus nationalem Recht ergebenden Beschränkungen und Verfestigungsmöglichkeiten.

29

Bleibeinteressen des Klägers, die sich insbesondere aus der Aufrechterhaltung des Kontakts zu seinen zwei minderjährigen Kindern ergeben, wird durch die ihm erteilte Duldung Rechnung getragen.

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2. Das Urteil des Berufungsgerichts verstößt gegen Bundesrecht weiterhin dadurch, dass es einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bejaht hat, ohne zu prüfen, ob der Kläger das Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich insoweit auch nicht als im Ergebnis richtig dar. Denn der Kläger reiste im Jahr 2009 nach Deutschland ein, ohne im Besitz eines für ihn als nigerianischen Staatsangehörigen erforderlichen Visums zu sein. Der Kläger kann die Aufenthaltserlaubnis auch nicht abweichend von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nach § 39 Nr. 5 AufenthV ohne vorherige Ausreise erlangen. Gemäß § 39 Nr. 5 AufenthV kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt ist und er aufgrund der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Die letztgenannte Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht, weil er während seines Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Denn auch unter einem "Anspruch" im Sinne von § 39 Nr. 5 AufenthV ist grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 Rn. 15 m.w.N.). Einen solchen Anspruch hat der Kläger jedoch nicht erworben, da er die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt hat, wie oben näher dargelegt.

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Ein möglicher unionsrechtlicher Anspruch aus Art. 20 AEUV auf Sicherung des Aufenthaltsrechts der vom Drittstaatsangehörigen abhängigen Kinder in der Europäischen Union ist kein nationaler Rechtsanspruch im Sinne von § 39 Nr. 5 AufenthV.

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3. Nicht abschließend entscheiden konnte der Senat die Frage, ob der Kläger - wie von ihm hilfsweise geltend gemacht - einen Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV hat. Der Rechtsstreit war daher insoweit für die erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

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Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV handelt es sich um einen eigenen Streitgegenstand, den der Kläger noch in das Revisionsverfahren einbeziehen durfte. Denn das grundsätzliche Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 142 VwGO) erstreckt sich nicht auf eine nach § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO privilegierte Klageerweiterung. Danach ist eine Erweiterung des Klageantrags in der Hauptsache ohne Änderung des Klagegrundes nicht als Änderung der Klage anzusehen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Denn mit der Berufung auf ein von seinen Kindern abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht stützt sich der Kläger der Sache nach auf keinen anderen Lebenssachverhalt als mit seinem bisherigen Begehren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht zum Zusammenleben mit seinen Kindern. In beiden Fällen geht es darum, ob der Kläger wegen seiner hier lebenden Kinder einen Anspruch auf Aufenthaltslegalisierung hat.

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Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann einem Drittstaatsangehörigen wie dem Kläger ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird (grundlegend: EuGH, Urteile vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 [ECLI:EU:C:2004:639], Zhu und Chen - Rn. 25 ff.; vom 8. März 2011 - C-34/09 [ECLI:EU:C:2011:124], Zambrano - Rn. 41 ff.; in jüngerer Zeit: Urteile vom 13. September 2016 - C-165/14 [ECLI:EU:C:2016:675], Rendón Martin - NVwZ 2017, 218 Rn. 51 ff.; vom 10. Mai 2017 - C-133/15 [ECLI:EU:C:2017:354], Chavez-Vilchez - NVwZ 2017, 1445 Rn. 70 ff.; vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:EU:C:2018:308], K.A - Rn. 64 ff; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 33 ff.).

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Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts kann nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch nur "ausnahmsweise" oder bei "Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte" erfolgen (EuGH, Urteile vom 15. November 2011 - C-256/11 [ECLI:EU:C:2011:734], Dereci - NVwZ 2012, 97 Rn. 67; vom 8. November 2012 - C-40/11 [ECLI:EU:C:2012:691], Iida - NVwZ 2013, 357 Rn. 71 und vom 8. Mai 2018 - C-82/16 - Rn. 51). Verhindert werden soll nämlich nur eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 34). Gegen eine rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger - wie hier - mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Allerdings ist es möglich, dass dessen ungeachtet eine so große affektive Abhängigkeit des Kindes von dem nicht aufenthaltsberechtigten Elternteil besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen - hier vom Berufungsgericht zu treffenden - Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 - Rn. 71; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 32 ff.). Dabei ist auch die Dauer einer zu erwartenden Trennung des Kindes vom drittstaatsangehörigen Elternteil zu berücksichtigen. Insoweit spielt eine Rolle, ob der Drittstaatsangehörige das Unionsgebiet - etwa zur Nachholung des Visumverfahrens - für unbestimmte Zeit oder aber nur für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum zu verlassen hat (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 - Rn. 56 und 58).

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Das Berufungsgericht hat - auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung und des im Berufungsverfahrens anhängigen Streitgegenstands - keine hinreichenden tatrichterlichen Feststellungen getroffen, die eine abschließende Beurteilung erlauben, ob zwischen dem Kläger und seinen Kindern ein derartiges tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis besteht. Die entsprechenden Feststellungen wird das Berufungsgericht nunmehr zu treffen haben. Sollte es die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV als erfüllt ansehen, wäre dem durch Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis dieses Rechts Rechnung zu tragen. Hierbei handelt es sich um keine Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht mit den sich aus dem Aufenthaltsgesetz ergebenden Beschränkungen und Verfestigungsmöglichkeiten. Es ist auch keine Aufenthaltskarte nach dem FreizügG/EU auszustellen, da eine solche in Umsetzung der Vorgaben aus der Unionsbürgerrichtlinie andere Voraussetzungen hat, die hier nicht erfüllt sind. Vielmehr handelt es sich um die Bescheinigung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts eigener Art, wie sie in § 4 Abs. 5 AufenthG für das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts vorgesehen ist.

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, soweit über die Klage abschließend entschieden worden ist. Soweit der Rechtsstreit noch weiterer Verhandlung und Entscheidung bedarf, war die Kostenentscheidung hingegen der Schlussentscheidung vorzubehalten.