Entscheidungsdatum: 23.08.2010
I.
Die Beschwerdeführerinnen sind Unternehmen, die im Ausland erworbene Arzneimittel importieren und in der Bundesrepublik Deutschland vertreiben. Sie wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, unmittelbar gegen § 130a Abs. 1a des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) in der Fassung vom 24. Juli 2010, die am 30. Juli 2010 in Kraft trat.
1. Um die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel zu begrenzen, sind Apotheken seit Januar 2003 verpflichtet, den gesetzlichen Krankenkassen auf die zu ihren Lasten abgegebenen Arzneimittel einen Abschlag in Höhe von 6 % des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers zu gewähren. Die pharmazeutischen Unternehmer sind wiederum verpflichtet, den Apotheken diesen Abschlag zu erstatten (§ 130a Abs. 1 Satz 1, 2 SGB V). Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung des § 130a Abs. 1a SGB V sieht nunmehr vor, dass die pharmazeutischen Unternehmer den Krankenkassen für verschreibungspflichtige Arzneimittel anstelle des Abschlags von 6 % einen Abschlag von 16 % einzuräumen müssen.
§ 130a SGB V lautet auszugsweise:
(1) ...
(1a) Vom 1. August 2010 bis zum 31. Dezember 2013 beträgt der Abschlag für verschreibungspflichtige Arzneimittel abweichend von Absatz 1 16 Prozent. Satz 1 gilt nicht für Arzneimittel nach Absatz 3b Satz 1. Die Differenz des Abschlags nach Satz 1 zu dem Abschlag nach Absatz 1 mindert die am 30. Juli 2010 bereits vertraglich vereinbarten Rabatte nach Absatz 8 entsprechend. Eine Absenkung des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer, die ab dem 1. August 2010 vorgenommen wird, mindert den Abschlag nach Satz 1 in Höhe des Betrags der Preissenkung, höchstens in Höhe der Differenz des Abschlags nach Satz 1 zu dem Abschlag nach Absatz 1; § 130a Absatz 3b Satz 2 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(2) bis (3b) ...
(4) Das Bundesministerium für Gesundheit hat nach einer Überprüfung der Erforderlichkeit der Abschläge nach den Absätzen 1, 1a und 3a nach Maßgabe des Artikels 4 der Richtlinie 89/105/EWGdes Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme die Abschläge durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates aufzuheben oder zu verringern, wenn und soweit diese nach der gesamtwirtschaftlichen Lage, einschließlich ihrer Auswirkung auf die gesetzliche Krankenversicherung, nicht mehr gerechtfertigt sind. Über Anträge pharmazeutischer Unternehmer nach Artikel 4 der in Satz 1 genannten Richtlinie auf Ausnahme von den nach den Absätzen 1, 1a und 3a vorgesehenen Abschlägen entscheidet das Bundesministerium für Gesundheit. Das Vorliegen eines Ausnahmefalls und der besonderen Gründe sind im Antrag hinreichend darzulegen. § 34 Absatz 6 Satz 3 bis 5 und 7 gilt entsprechend. Das Bundesministerium für Gesundheit kann Sachverständige mit der Prüfung der Angaben des pharmazeutischen Unternehmers beauftragen. Dabei hat es die Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sicherzustellen. ...
(5) bis (9) ...
Art. 4 der in Bezug genommenen Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme lautet auszugsweise:
(1) ...
(2) In Ausnahmefällen kann eine Person, die Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels ist, eine Abweichung von einem Preisstopp beantragen, wenn dies durch besondere Gründe gerechtfertigt ist. Diese Gründe sind im Antrag hinreichend darzulegen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, daß eine begründete Entscheidung über jeden derartigen Antrag innerhalb von neunzig Tagen getroffen und dem Antragsteller mitgeteilt wird. Sind die Angaben zur Begründung des Antrags unzureichend, so teilen die zuständigen Behörden dem Antragsteller unverzüglich mit, welche zusätzlichen Einzelangaben erforderlich sind, und treffen ihre Entscheidung innerhalb von neunzig Tagen nach Erhalt dieser zusätzlichen Einzelangaben. Wird die Ausnahme zugelassen, so veröffentlichen die zuständigen Behörden unverzüglich eine Bekanntmachung der genehmigten Preiserhöhung.
Bei einer außergewöhnlich hohen Anzahl von Anträgen kann die Frist ein einziges Mal um sechzig Tage verlängert werden. Die Verlängerung ist dem Antragsteller vor Ablauf der ursprünglichen Frist mitzuteilen.
2. Die Beschwerdeführerin zu 1) beschäftigt 285 Mitarbeiter und erzielte im Jahr 2009 einen Umsatz von 133 Millionen Euro mit einer Gewinnmarge nach Steuern von 4,9 %. Die Beschwerdeführerin zu 2) beschäftigt 360 Mitarbeiter und erzielt einen Umsatz von circa 180 Millionen Euro pro Jahr.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Beschwerde sei zulässig. Man könne sie nicht darauf verweisen, zunächst einen Antrag nach § 130a Abs. 4 Satz 2 SGB V zu stellen. Sie könnten bereits ab Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr mit Gewinn arbeiten. Zudem sei ein Ausnahmeantrag beschränkt auf die Darlegung der finanziellen Situation des jeweiligen Antragstellers, die sich von der Situation der anderen pharmazeutischen Unternehmer unterscheiden müsse. Die Arzneimittelimporteure seien durch den erhöhten Zwangsrabatt jedoch alle gleichermaßen betroffen. Auch habe der Gesetzgeber nicht hinreichend sichergestellt, dass über den Antrag binnen 90 Tagen entschieden werde. Überdies seien weder die Voraussetzung für die Ausnahmeerteilung geregelt noch gebe es die gesetzlich vorgesehenen Verwaltungsvorschriften, was ein weiterer Grund dafür sei, dass ein Antrag nicht gestellt werden könne. Schließlich gehe es nicht an, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen ein formelles Gesetz deshalb nicht zulässig sei, weil das Gesetz eine Ausnahmeregelung enthalte, denn andernfalls werde dem Grundrechtsträger die Rüge unmöglich gemacht, dass schon seine Einbeziehung in das Gesetz verfassungswidrig sei.
Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. § 130a Abs. 1a SGB V in der nunmehr in Kraft getretenen Fassung verstoße gegen die genannten Grundrechte, soweit er Arzneimittelimporteure erfasse. Die Bestimmung sei bereits formell verfassungswidrig, weil es an einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren fehle. Die Norm sei darüber hinaus auch materiell verfassungswidrig. Ihre Unverhältnismäßigkeit ergebe sich schon daraus, dass sie die Arzneimittelimporteure wesentlich stärker belaste als die Hersteller von Arzneimitteln und diese in ihrer Mehrzahl in der wirtschaftlichen Existenz gefährde.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der von den Beschwerdeführerinnen als verletzt gerügten Rechte angezeigt. Sie ist bereits unzulässig.
1. Die Verfassungsbeschwerde genügt nicht dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität. Neben der Ausschöpfung des Rechtswegs erfordert dieser Grundsatz auch, dass der Beschwerdeführer vor Beschwerdeerhebung alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 74, 102 <113>; 78, 58 <68>; 93, 165 <171>; 104, 65 <70>). Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass, sofern eine - möglicherweise grundrechtsverletzende - Regelung Ausnahmen vorsieht, der Beschwerdeführer vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde versuchen muss, unter Berufung auf die Ausnahmebestimmung die Beseitigung des Eingriffsaktes zu erreichen. Auf ein solches Vorgehen kann er nur dann nicht verwiesen werden, wenn es offensichtlich aussichtslos wäre (BVerfGE 78, 58 <69>).
2. Nachvollziehbare Gründe, aus denen sich ergibt, dass es offensichtlich aussichtslos wäre, einen Antrag nach § 130a Abs. 4 Satz 2 SGB V zu stellen, haben die Beschwerdeführerinnen nicht vorgebracht.
a) Nicht zu überzeugen vermag ihr Argument, alle Arzneimittelimporteure seien durch die neue Abschlagsregelung gleichermaßen hart betroffen, so dass schon kein Ausnahmefall gegeben sei. Eine Berufung auf die Ausnahmebestimmung des § 130a Abs. 4 Satz 2 SGB V wäre lediglich dann erkennbar ohne Aussicht auf Erfolg, wenn der gesetzlich vorgeschriebene Abschlag alle pharmazeutischen Unternehmer in vergleichbarem Umfang belasten würde. Solange jedoch - worauf die Beschwerdeführerinnen ihre Verfassungsbeschwerde gerade stützen - nur eine Teilgruppe besonders schwer getroffen wird, ist nicht ersichtlich, warum es Mitgliedern dieser Teilgruppe verwehrt sein sollte, das Vorliegen eines Ausnahmefalls mit "gruppentypischen" Gesichtspunkten zu begründen. Weder Wortlaut noch Systematik des § 130a Abs. 4 Satz 2 SGB V oder der Richtlinie, auf die Bezug genommen wird, bieten Anhaltspunkte für die von den Beschwerdeführerinnen unterstellte enge Auslegung der Norm. Die Beschwerdeführerinnen legen auch nicht in verständlicher Weise dar, weshalb die für die Anerkennung eines Ausnahmefalls verlangten "besonderen Gründe" nicht solche sein können, die bei allen Mitgliedern einer Teilgruppe vorliegen.
Hiervon abgesehen bestehen auch Zweifel, ob alle Arzneimittelimporteure durch die angegriffene Bestimmung gleich schwer beeinträchtigt werden; bei unterschiedlicher Betroffenheit gäbe es neben den "gruppentypischen" auch "individuelle" Gründe zur Rechtfertigung eines Ausnahmefalls. Denn bereits die Beschwerdeführerinnen machen unterschiedliche Angaben zum Umfang ihrer wirtschaftlichen Belastung durch die Gesetzesänderung. Während die Beschwerdeführerin zu 1) angibt, sie rechne mit einem Jahresverlust von 2,8 %, behauptet die Beschwerdeführerin zu 2) "nur" einen Umsatzrückgang von mindestens 30 % und eine Reduzierung des absoluten Jahresergebnisses um 2/3, ohne dass hinreichend erkennbar ist, dass auch sie von einem negativen Jahresergebnis ausgeht. Zudem hält es die Beschwerdeführerin zu 2) anscheinend für möglich, einen Teil des Abschlags durch Preissenkungen im Einkauf auszugleichen.
b) Der Einwand, es fehlten konkrete inhaltliche Regelungen, weswegen kein Antrag gestellt werden könne, geht ebenfalls fehl. Mit der Formulierung "besondere Gründe" hat der Gesetzgeber einen unbestimmten Rechtsbegriff verwandt. Warum es nicht möglich sein soll, diesen Begriff - wie andere unbestimmte Rechtsbegriffe auch - unter Rückgriff auf die übrige gesetzliche Systematik des § 130a SGB V auszulegen, ist weder ersichtlich noch von den Beschwerdeführerinnen konkret dargelegt worden. Dass das Fehlen der Verwaltungsvorschriften, die nach § 130a Abs. 4 Satz 4 in Verbindung mit § 34 Abs. 6 Satz 7 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu erlassen sind, zur Unanwendbarkeit der Ausnahmeregelung führen könnte, ist genauso wenig zu erkennen. Die Verwaltungsvorschriften dienen nur dazu, Näheres zum erforderlichen Begründungsumfang des Antrags und der Art und Weise der einzureichenden Nachweise festzulegen. Solange sie fehlen, ist die zuständige Behörde verpflichtet, im Antragsfall das Ausmaß der Darlegungslasten unter Berücksichtigung von Art. 12 GG eigenständig zu bestimmen. Da die Beschwerdeführerinnen bisher keinen Antrag gestellt haben, lässt sich weder ermessen, ob es in der Praxis an diesem Punkt überhaupt zu Streit kommen wird noch bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, die Behörde könne die Darlegungsanforderungen zu ihren Lasten überspannen. Es geht auch nicht an, zu unterstellen, die Behörde werde die Entscheidungsfrist von 90 Tagen nicht einhalten. Diese Frist ist in § 130a Abs. 4 Satz 4 in Verbindung mit § 34 Abs. 6 Satz 4 SGB V zwingend vorgesehen. Solange nichts anderes erkennbar ist, ist von einem gesetzeskonformen Verhalten der Behörden auszugehen.
c) Schließlich ist auch das Argument, auf die Ausnahmeregelung könne schon deswegen nicht verwiesen werden, weil dann eine Verfassungsbeschwerde gegen die - verfassungswidrige - gesetzliche Norm unmöglich gemacht werde, nicht durchgreifend. Die Abschlagsregelung des § 130a Abs. 1a SGB V und der hierauf bezogene Ausnahmetatbestand des § 130a Abs. 4 Satz 2 bis 8 SGB V sind aufeinander bezogen und können weder einfach- noch verfassungsrechtlich getrennt voneinander betrachtet werden. Grundsätzlich erst dann, wenn das Vorliegen eines Ausnahmefalls in verfassungskonformer Weise verneint worden ist, kann sich die Frage stellen, ob die Regelung des § 130a SGB V im Übrigen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.
3. Ob es den Beschwerdeführerinnen sogar zuzumuten ist, vor Erhebung einer erneuten Verfassungsbeschwerde erst den Rechtsweg hinsichtlich der Ausnahmeerteilung auszuschöpfen, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es ihnen zumutbar, zunächst einen Antrag auf Befreiung von der Abschlagsregelung zu stellen und dessen Bescheidung abzuwarten. Aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist muss nach derzeitigem Sachstand angenommen werden, dass die zuständige Behörde eine zeitnahe Entscheidung treffen wird. Dass die Beschwerdeführerinnen trotz der damit überschaubaren Zeitspanne durch die übergangsweise Anwendung des § 130a Abs. 1a SGB V in einer wirtschaftlich nicht tragbaren Weise betroffen würden, haben sie nicht hinreichend substantiiert dargetan.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.