Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 30.04.2014


BGH 30.04.2014 - XII ZR 124/12

Anspruch auf rechtliches Gehör: Gehörsverletzung bei ausschließlicher Auslegung eines Nutzungsvertrags nach dem Wortlaut


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
12. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
30.04.2014
Aktenzeichen:
XII ZR 124/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Köln, 21. September 2012, Az: 1 U 37/12vorgehend LG Köln, 16. März 2012, Az: 16 O 200/11
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 1 wird die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 21. September 2012 zugelassen, soweit das Oberlandesgericht zum Nachteil der Klägerin zu 1 entschieden hat.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 21. September 2012 wird verworfen.

Auf die Revision der Klägerin zu 1 wird das vorgenannte Urteil im Kostenpunkt und im Umfang der Zulassung aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der ehemaligen Beklagten (nachfolgend Insolvenzschuldnerin). Die Parteien streiten um die Verpflichtung der Insolvenzschuldnerin zur Zahlung von Umsatzsteuer auf ein vertraglich vereinbartes Nutzungsentgelt und eine Betriebskostenpauschale.

2

Die Klägerin zu 1 betreibt ein Krankenhaus, die Klägerin zu 2 unterhielt dort unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen (OP-Raum, Aufwachraum, medizinische Geräte, Catering u.a.) eine orthopädische Privatklinik, die die Insolvenzschuldnerin im Wege der Untervermietung übernehmen sollte. Nach umfangreichen Verhandlungen schloss die Insolvenzschuldnerin mit der Klägerin zu 1 einen Nutzungsvertrag, der sie zur Nutzung der vorhandenen Ressourcen des Krankenhauses gegen Zahlung einer Pauschalvergütung in Höhe von jährlich 1.100.000 € berechtigte. Mit der Klägerin zu 2 schloss die Insolvenzschuldnerin einen Untermietvertrag über die Praxisräume. Obwohl die an den Vertragsverhandlungen beteiligten Personen ausweislich des vorvertraglichen Schriftverkehrs die verhandelten Zahlungsbeträge stets als Nettobeträge bezeichnet haben, findet sich weder in Ziffer 9 des Nutzungsvertrags bezüglich der Pauschalvergütung noch in § 5 des Untermietvertrags bezüglich der Betriebskosten eine ausdrückliche Regelung, ob die Insolvenzschuldnerin auf diese Beträge zusätzlich Umsatzsteuer zu entrichten hat.

3

Mit der vorliegenden Klage verlangt die Klägerin zu 1 Umsatzsteuer auf die Pauschalvergütung für die Mitnutzung der Krankenhauseinrichtungen in den Monaten Juni 2010 bis August 2011 in Höhe von monatlich 17.416,67 €. Die Klägerin zu 2 verlangt von der Insolvenzschuldnerin Umsatzsteuer in Höhe von monatlich 380,00 € auf die Betriebskostenpauschale für die Monate April 2010 bis August 2011.

4

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Insolvenzschuldnerin hat das Oberlandesgericht die Klage unter Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung abgewiesen.

5

Nachdem die Klägerinnen gegen das Berufungsurteil Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt hatten, ist mit Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Oktober 2012 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Die Klägerinnen haben den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 6. Mai 2013 wieder aufgenommen. Nach Zulassung der Revision möchten die Klägerinnen die Feststellung der erstinstanzlich zuerkannten Haupt- und Nebenforderungen zur Insolvenztabelle erreichen.

II.

6

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 1 ist begründet. Die insoweit zugelassene Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit darin zum Nachteil der Klägerin zu 1 entschieden worden ist, und im Umfang der Aufhebung zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 544 Abs. 7 ZPO). Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist unzulässig.

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1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist unzulässig, weil der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 € nicht übersteigt, § 26 Nr. 8 EGZPO.

8

a) Für die Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 26 Nr. 8 EGZPO ist der Wert des Beschwerdegegenstands aus dem beabsichtigten Revisionsverfahren maßgebend (BGH Beschluss vom 25. September 2013 - VII ZR 340/12 - juris Rn. 3). Dieser ist im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ohne Bindung an eine Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht von Amts wegen zu bestimmen (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Juli 2005 - XII ZR 295/02 - NJW-RR 2005, 1728).

9

b) Der Wert des Beschwerdegegenstands richtet sich im vorliegenden Fall allerdings nicht nach § 182 InsO. Nach dieser Vorschrift, die auch für die Ermittlung des Werts der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer gilt (vgl. BGH Beschluss vom 25. September 2013 - VII ZR 340/12 juris Rn. 3 mwN), bestimmt sich der Wert des Streitgegenstandes einer Klage auf Feststellung einer Forderung, deren Bestand vom Insolvenzverwalter oder von einem Insolvenzgläubiger bestritten wird, grundsätzlich nur nach dem Betrag, der bei der Verteilung der Insolvenzmasse für die Forderung zu erwarten ist. Für die Ermittlung der erforderlichen Beschwer ist jedoch der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels maßgeblich; durch eine spätere Verminderung der Beschwerdesumme wird das Rechtsmittel nicht unzulässig (BGH Urteil vom 17. Juli 2008 - IX ZR 126/07 - NJW-RR 2009, 126 Rn. 5).

10

Die Klägerinnen haben die Nichtzulassungsbeschwerde zu einem Zeitpunkt eingelegt, als das Insolvenzverfahren über das Vermögen der ehemaligen Beklagten noch nicht eröffnet war. Erst nach der Wiederaufnahme des durch die Insolvenzeröffnung unterbrochenen Verfahrens haben die Klägerinnen ihre Klageanträge geändert und auf Feststellung der erstinstanzlich zuerkannten Haupt- und Nebenforderungen zur Insolvenztabelle angetragen. Deshalb bestimmt sich im vorliegenden Fall der Wert der Beschwer nicht nach § 182 InsO, sondern nach der Höhe der ursprünglichen Klageforderungen.

11

Da die ursprünglich geltend gemachte Forderung der Klägerin zu 2 jedoch nur 6.922,83 € beträgt, ist insoweit der Beschwerdewert des § 26 Nr. 8 EGZPO nicht erreicht. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist daher als unzulässig zu verwerfen. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 1 ist dagegen zulässig, da sie durch das Berufungsurteil in Höhe ihrer zunächst geltend gemachten Klageforderung von 254.863,94 € beschwert ist.

12

c) Entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerde können für die Berechnung des Beschwerdewerts die beiden Klageforderungen nicht addiert werden. Beide Klägerinnen machen jeweils eine selbständige Forderung gegen den Beklagten geltend. Sie sind somit einfache Streitgenossen nach §§ 59, 60 ZPO. Daraus folgt, dass zwei voneinander unabhängige Prozessrechtsverhältnisse bestehen, die nur äußerlich miteinander zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden sind, im Übrigen aber selbständige Verfahren darstellen (Zöller/Vollkommer ZPO 30. Aufl. § 61 Rn. 1 und 8). Deshalb ist die Nichtzulassungsbeschwerde eines Streitgenossen nur dann zulässig, wenn seine mit der Revision geltend zu machende Beschwer den maßgeblichen Wert des § 26 Nr. 8 EGZPO überschreitet (Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO 34. Aufl. § 26 EGZPO Rn. 15). Dies ist für die Klägerin zu 2 nicht der Fall.

13

2. Zu Recht rügt die Klägerin zu 1, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, weil es bei der Auslegung von § 9 des Nutzungsvertrags entscheidungserheblichen Vortrag und Beweisantritte der Klägerin zu 1 nicht berücksichtigt hat.

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a) Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gebietet es, dass sich das Gericht mit allen wesentlichen Punkten des Vortrags einer Partei auseinandersetzt. Zwar muss nicht jede Erwägung in den Urteilsgründen ausdrücklich erörtert werden (§ 313 Abs. 3 ZPO). Aus dem Gesamtzusammenhang der Gründe muss aber hervorgehen, dass das Gericht das zentrale, entscheidungserhebliche Vorbringen einer Partei berücksichtigt und in seine Überlegungen mit einbezogen hat. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann auch in der Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots liegen, wenn diese im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (Senatsbeschluss vom 7. September 2011 - XII ZR 114/10 - GuT 2012, 268 Rn. 9 mwN). Ein solcher Verstoß liegt hier vor, weil das Berufungsgericht bei seinen allein am Wortlaut der Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags orientierten Erwägungen zur Auslegung der Entgeltklausel nicht erkennen lässt, ob es den Vortrag der Klägerin zu 1 hierzu sowie den damit verbundenen Beweisantritt zur Kenntnis genommen und in seine Überlegungen einbezogen hat.

15

b) Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Auslegung von Individualvereinbarungen grundsätzlich Sache des Tatrichters. Dessen Auslegung unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung dahin, ob der Auslegungsstoff vollständig berücksichtigt worden ist, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, sonstige Erfahrungssätze oder die Denkgesetze verletzt sind oder ob die Auslegung auf Verfahrensfehlern beruht (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 2009 - XII ZR 79/07 - NJW-RR 2009, 593 Rn. 18; BGHZ 194, 301 = NJW 2012, 3505 Rn. 14 mwN). Ein solcher revisionsrechtlich beachtlicher Verfahrensfehler liegt hier jedoch vor, weil das Berufungsgericht wesentliche Umstände für die Auslegung entgegen Art. 103 Abs. 1 GG, mithin unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften, nicht berücksichtigt hat.

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c) Das Berufungsgericht hat zur Auslegung der Entgeltregelung in Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags nur ausgeführt, der abgeschlossene Vertrag sei in Bezug auf die Vergütungsregelung eindeutig und klar. Der Begriff "sämtliche Leistungen" in Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags erfasse auch die Umsatzsteuer, zumal eine Pauschalvergütung vereinbart worden sei. Aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Klausel sei für eine Auslegung kein Raum. Auch der vorvertragliche Schriftverkehr zwischen den Parteien lasse keinen Schluss darauf zu, dass die jährliche Nutzungspauschale als Nettobetrag angesehen worden wäre. Eine ergänzende Vertragsauslegung scheide ebenfalls aus.

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Damit stellt das Berufungsgericht ausschließlich auf den Wortlaut der Vereinbarung in Ziffer 9. 1 des Nutzungsvertrags ab. Es meint, dieser Wortlaut sei eindeutig und deshalb komme eine weitere Auslegung nicht in Betracht. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts verstoßen gegen das sich aus den §§ 133, 157 BGB ergebende Verbot einer sich ausschließlich am Wortlaut orientierenden Interpretation. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob der Wortlaut der Vereinbarung in Ziffer 9.1 des Nutzungsvertrags tatsächlich so eindeutig ist, wie das Berufungsgericht annimmt. Auch ein klarer und eindeutiger Wortlaut einer Erklärung bildet keine Grenze für die Auslegung anhand der Gesamtumstände. Das Berufungsgericht verkennt, dass sich die Feststellung, ob eine Erklärung eindeutig ist oder nicht, erst durch eine alle Umstände berücksichtigende Auslegung treffen lässt (Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 - XII ZR 281/99 - NJW 2002, 1260, 1261 mwN). Es gehört zu den anerkannten Grundsätzen für die Auslegung einer Individualvereinbarung, dass zwar ihr Wortlaut den Ausgangspunkt der Auslegung bildet, dass jedoch der übereinstimmende Parteiwille dem Wortlaut und jeder anderen Interpretation vorgeht (BGH Beschluss vom 5. April 2005 - VIII ZR 160/04 - NJW 2005, 1950, 1951 mwN). Schon wegen dieses Vorrangs des von der Klägerin zu 1 behaupteten übereinstimmenden Parteiwillens hätte das Berufungsgericht den Beweisantrag der Klägerin zu 1 nicht übergehen dürfen. Soweit das Berufungsgericht ausführt, die vorvertragliche Korrespondenz lasse nicht darauf schließen, dass die Parteien die Summe von 1.100.000 € als Nettobetrag angesehen haben, weil sie keinen Niederschlag in der schriftlichen Vertragsurkunde gefunden hätte, übersieht das Berufungsgericht, dass der Inhalt der vorvertraglichen Verhandlungen für die Auslegung eines Vertrages entscheidende Bedeutung haben kann (Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 - XII ZR 281/99 - NJW 2002, 1260, 1261 mwN). Das Berufungsgericht hätte damit Anlass gehabt, für die Auslegung die Interessenlage der Beteiligten näher aufzuklären. Wesentliche Erkenntnisse für die Auslegung hätten sich dabei aus der Erhebung der von der Klägerin zu 1 angebotenen Beweise ergeben können.

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d) Die Klägerin zu 1 hat bereits erstinstanzlich vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass sich ihre Geschäftsführerin und der Zeuge Prof. Dr. S. bei einem abschließenden Gespräch am 16. Februar 2010 über die Höhe der Pauschalvergütung, die Miete und die Betriebskosten geeinigt hätten und das Ergebnis dieses Gesprächs in dem von der Klägerin zu 1 vorgelegten Schreiben des Zeugen W. an den Zeugen Dr. H. vom 19. Februar 2010 festgehalten worden sei. Aus diesem Schreiben gehe hervor, dass sich die Beteiligten auf ein jährliches pauschales Nutzungsentgelt von netto 1.100.000 € und einen jährlichen Nettomietzins von 186.000 €, also auf ein Jahresentgelt von insgesamt 1.286.000 € netto verständigt haben. Der Wortlaut von Ziffer 9.1 in der von dem Zeugen Dr. H. erstellten Vertragsurkunde gebe deshalb den Parteiwillen unzutreffend wieder. Dafür spreche auch die vor Vertragsabschluss gewechselte Korrespondenz, in der die Beteiligten ausnahmslos von Nettobeträgen ausgegangen seien.

19

e) Das angefochtene Urteil lässt nicht erkennen, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen der Klägerin zu 1 sowie den Beweisantritt zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Klägerin zu 1 wird dadurch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt (§ 544 Abs. 7 ZPO).

Dose                                  Schilling                         Günter

             Nedden-Boeger                           Botur