Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 18.07.2018


BGH 18.07.2018 - XII ZB 635/17

Notwendigkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers in Betreuungssachen: Möglichkeit der Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten und der Anordnung eines umfassenden Einwilligungsvorbehalts in Vermögensangelegenheiten


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
12. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
18.07.2018
Aktenzeichen:
XII ZB 635/17
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2018:180718BXIIZB635.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Stade, 14. November 2017, Az: 9 T 119/17vorgehend AG Bremervörde, 1. September 2017, Az: 8 XVII 59/17
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Zur Notwendigkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers bei möglicher Erstreckung des Aufgabenkreises der Betreuung auf alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen und bei Anordnung eines umfassenden Einwilligungsvorbehalts in Vermögensangelegenheiten (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 23. August 2017, XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 und vom 9. Mai 2018, XII ZB 577/17, juris).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 14. November 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die 1940 geborene Betroffene leidet an einer phasenhaft verlaufenden bipolaren affektiven Störung. Für sie ist 2017 eine rechtliche Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Wohnungs- sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten eingerichtet worden.

2

Im vorliegenden Verfahren ist die Betreuung auf Anregung des Betreuers um die Vermögenssorge erweitert und insoweit ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet worden. Das Landgericht hat die von der Betroffenen eingelegte Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen richtet sich deren Rechtsbeschwerde.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde rügt mit Recht als verfahrensfehlerhaft, dass in den Vorinstanzen für die Betroffene kein Verfahrenspfleger bestellt worden ist.

4

1. Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2018 - XII ZB 214/17 - juris Rn. 7 mwN und vom 23. August 2017 - XII ZB 611/16 - FamRZ 2017, 1865 Rn. 6 mwN).

5

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht es, wenn die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2018 - XII ZB 214/17 - juris Rn. 8 und vom 23. August 2017 - XII ZB 611/16 - FamRZ 2017, 1865 Rn. 7 mwN).

6

Zudem ist auch die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts mit gravierenden Auswirkungen auf die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass in Verfahren, die einen umfassenden Einwilligungsvorbehalt in Vermögensangelegenheiten zum Gegenstand haben, für den Betroffenen in der Regel ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist (Senatsbeschluss vom 9. Mai 2018 - XII ZB 577/17 - juris Rn. 12).

7

Gemessen hieran kann die Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben. Das Amtsgericht hat die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war. Dass davon der Postverkehr noch ausgenommen ist, entbindet als verbliebene Angelegenheit von der Anordnung einer Verfahrenspflegschaft noch nicht. Außerdem hat das Amtsgericht einen umfassenden Einwilligungsvorbehalt in Vermögensangelegenheiten angeordnet.

8

Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers kann nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur dann abgesehen werden, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2018 - XII ZB 214/17 - juris Rn. 9; vom 23. August 2017 - XII ZB 611/16 - FamRZ 2017, 1865 Rn. 8 f. mwN und vom 9. Mai 2018 - XII ZB 577/17 - juris Rn. 12). Weil das Landgericht entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist.

9

2. Gemäß § 74 Abs. 5 und Abs. 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

10

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose    

        

Klinkhammer    

        

Günter

        

Nedden-Boeger    

        

Krüger