Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 10.02.2016


BGH 10.02.2016 - XII ZB 478/15

Unterbringungssache: Erfordernis der Anhörung des Betroffenen bei Verlängerung einer Unterbringungsmaßnahme; Absehen von einer erneuten Anhörung durch das Beschwerdegericht


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
12. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
10.02.2016
Aktenzeichen:
XII ZB 478/15
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2016:100216BXIIZB478.15.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Nürnberg-Fürth, 10. September 2015, Az: 13 T 6170/15vorgehend AG Nürnberg, 7. Juli 2015, Az: XVII 2386/03
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Im Verfahren betreffend die Verlängerung einer Unterbringungsmaßnahme gelten sämtliche Verfahrensgarantien für die Erstentscheidung uneingeschränkt, insbesondere die zwingende Anhörung des Betroffenen gemäß § 319 FamFG (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. September 2015, XII ZB 250/15, FamRZ 2015, 2156).

2. In einem Unterbringungsverfahren kann das Beschwerdegericht nicht gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs bei der Anhörung des Betroffenen zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. März 2011, XII ZB 346/10, FamRZ 2011, 805).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 10. September 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.

Beschwerdewert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die 70-jährige Betroffene befindet sich wegen einer schweren Alkoholabhängigkeit mit organisch bedingter Wesensveränderung seit 2012 mit einzelnen Unterbrechungen in der geschlossenen Unterbringung.

2

Am 20. Februar 2015 beantragte die Betreuerin die Verlängerung der Unterbringungsgenehmigung. In der Anhörung vor dem Amtsgericht am 12. Mai 2015 wurde als Alternative zur weiteren dauernden Unterbringung der Betroffenen deren Entlassung in ihr häusliches Umfeld unter Beaufsichtigung durch eine 24-Stunden-Pflegekraft erörtert. Während die Betroffene ihre häusliche Beaufsichtigung zunächst vehement ablehnte, wurde schließlich vereinbart, die Unterbringung um (nur) drei Monate zu verlängern, um während dieser Zeit eine Pflegekraft zu suchen, die sich um die Betroffene kümmern könne. Sollte dies funktionieren, solle der dreimonatige Unterbringungsbeschluss ersatzlos auslaufen. Der Abrede entsprechend verlängerte das Amtsgericht die Unterbringung mit Beschluss vom 13. Mai 2015 für drei Monate bis zum 13. August 2015.

3

Nachdem die Betroffene am 28. Mai 2015 einen Suizidversuch begangen hatte, hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 7. Juli 2015 die geschlossene Unterbringung bis längstens 12. Mai 2016 genehmigt, ohne ein neues Gutachten einzuholen und ohne die Betroffene erneut anzuhören. Das Landgericht hat die dagegen eingelegte Beschwerde der Betroffenen und des für sie bestellten Verfahrenspflegers zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.

II.

4

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

5

1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen liege bei der Betroffenen eine schwere Alkoholabhängigkeit vor. Ihre äthyltoxisch bedingten hirnorganischen Teilleistungsstörungen entsprächen einer seelischen Behinderung; ihre Persönlichkeitsstörung sei als psychische Krankheit zu klassifizieren. Aufgrund ihrer erheblich beeinträchtigten Kritik- und Urteilsfähigkeit und Realitätswahrnehmung, verbunden mit Selbstüberschätzung und dem Unvermögen, sachlich und realitätsgerecht abzuwägen, sei sie nicht geschäftsfähig und zu einer freien Willensbildung nicht in der Lage. Sie verleugne im Sinne eines psychischen Abwehrmechanismus ganz überwiegend ihr süchtiges Verhalten und nehme die wiederholten Rückfälle und damit verbundene Risiken nicht wahr mit der Folge einer verzerrten Realitätswahrnehmung. Aufgrund der formalen Denkstörungen vermöge sie sich mit logischen Argumenten nicht flexibel auseinanderzusetzen, sondern beharre sehr rigide auf ihren Standpunkten. Bei einer Rückkehr in den häuslichen Bereich würde sie sich dem Alkoholkonsum hingeben. Es bestehe ein hohes Selbstgefährdungspotenzial; in der Vergangenheit sei es immer wieder zu einem zeitweilig exzessiven Alkoholkonsum gekommen. Die Betroffene sei mehrfach in hilflosem Zustand aufgefunden worden. Derartige Vorfälle würden sich bei einer Rückkehr in ihre Wohnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wiederholen. Sofern sie nicht durch somatische Komplikationen oder durch einen Sturz zu Tode komme, würde eine Fortsetzung ihres Alkoholkonsums früher oder später zu einem geistigen Verfall führen. Zwar könne sie kurzfristig abstinent bleiben und passe sich insbesondere deswegen der Situation vordergründig an, um die Unterbringung und die Betreuung zu vermeiden. Dies werde ihr jedoch nicht dauerhaft gelingen, da sie überwiegend ihr Suchtverhalten leugne sowie Krankheitseinsicht und Therapiemotivation nicht bestünden. Die Betroffene müsse daher weiterhin zu ihrem Wohle in der beschützenden Abteilung eines Pflegeheims zu ihrem Selbstschutz untergebracht werden. Eine dauerhafte Abstinenz sei nur durch die dauerhafte geschlossene Unterbringung mit Freiheitsentziehung zu erzielen.

6

Ihren Suizidversuch am 28. Mai 2015 habe sie unternommen, um eine Rückkehr in ihr häusliches Umfeld ohne 24-Stunden-Beaufsichtigung zu erpressen. Nach diesem Vorfall könne der Versuch ihrer Entlassung in das häusliche Umfeld nicht weiter verfolgt werden. Soweit die Betroffene sich im Nachgang zu dem Vorfall wieder mit einer 24-Stunden-Pflegekraft einverstanden erklärt habe, sei dies nur erfolgt, um eine positive Entscheidung des Gerichts zu erlangen. In Wahrheit wolle sie dringlich alleine in die Wohnung zurückkehren. Nach dem Suizidversuch der Betroffenen gerade wegen der Auflage einer 24-Stunden-Beaufsichtigung scheide diese Möglichkeit nunmehr aus.

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2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie ist - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - verfahrensfehlerhaft ergangen.

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a) Gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 FamFG gelten für die Verlängerung der Genehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme die Vorschriften für die erstmalige Anordnung oder Genehmigung entsprechend. Das bedeutet, dass sämtliche Verfahrensgarantien für die Erstentscheidung uneingeschränkt auch im Verlängerungsverfahren gelten, insbesondere die zwingende Anhörung des Betroffenen gemäß § 319 FamFG sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum (Fort-)Bestehen der Unterbringungsvoraussetzungen gemäß § 321 FamFG (Senatsbeschluss vom 16. September 2015 - XII ZB 250/15 - FamRZ 2015, 2156 Rn. 10 mwN).

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b) Das gesamte Verfahren leidet unter einem schwerwiegenden Verfahrensfehler.

10

aa) Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Betroffenen nicht ankommt. Im Beschwerdeverfahren kann allerdings nicht von einer Wiederholung solcher Verfahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. In diesem Fall muss das Beschwerdegericht, vorbehaltlich der Möglichkeiten nach § 69 Abs. 1 Satz 2 und 3 FamFG, den betreffenden Teil des Verfahrens nachholen oder das gesamte Verfahren wiederholen. Die Anhörung des Betroffenen in Unterbringungsverfahren nach § 319 Abs. 1 FamFG dient der Verwirklichung der in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechte eines Betroffenen in Freiheitsentziehungssachen. Die Anhörung des Betroffenen nach § 319 Abs. 1 FamFG vor der Entscheidung über die Unterbringung gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten i.S.v. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Verfahrensfehler bei der Durchführung der Anhörung verletzen den Betroffenen deshalb nicht nur in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. März 2011 - XII ZB 346/10 - FamRZ 2011, 805 Rn. 13 f. mwN).

11

Das Amtsgericht hat entgegen § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG die Betroffene vor der erneuten Verlängerung der Unterbringungsmaßnahme nicht persönlich angehört. Zwar ist die Betroffene zuletzt am 12. Mai 2015 angehört worden mit dem Ergebnis einer Verlängerung der Unterbringungsgenehmigung, jedoch nicht wie vom Sachverständigen vorgeschlagen um ein Jahr, sondern (nur) um drei Monate, um ihre Entlassung in das häusliche Umfeld unter Beaufsichtigung durch eine 24-Stunden-Pflegekraft vorzubereiten. Nachdem dieses Konzept infolge des zwischenzeitlichen Suizidversuchs aus der Sicht des Amtsgerichts gescheitert war, hätte die Betroffene zu den neuen Umständen, die eine weitere Verlängerung ihrer Unterbringung begründeten, erneut angehört werden müssen.

12

bb) Weil die Entscheidung des Amtsgerichts vom 7. Juli 2015 ein Verfahren zur Verlängerung der Unterbringung im Sinne des § 329 Abs. 2 Satz 1 FamFG betrifft, hätten die Instanzgerichte gemäß § 321 FamFG außerdem ein neues Sachverständigengutachten einholen müssen.

13

c) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose                              Schilling                      Günter

           Nedden-Boeger                        Botur