Entscheidungsdatum: 11.12.2013
1. Ob einem Betroffenen auch dann, wenn ein Regelfall nach § 276 Abs. 1 Satz 2 FamFG nicht vorliegt, ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist, hängt vom Grad der Krankheit oder Behinderung sowie von der Bedeutung des jeweiligen Verfahrensgegenstands ab (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13. November 2013, XII ZB 339/13 - juris).
2. In Betreuungssachen steht das Verschlechterungsverbot einer Erweiterung des Aufgabenkreises im Beschwerdeverfahren entgegen, wenn allein der Betroffene gegen die Bestellung des Betreuers Beschwerde eingelegt hat.
Der Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 20. Oktober 2010 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben.
Das Verfahren wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.
Verfahrenswert: 3.000 €
I.
Mit Beschluss vom 1. Juli 2010 wurde für die Betroffene auf Anregung des Gesundheitsamts eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung und Vertretung in Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten angeordnet und eine Betreuerin bestellt. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss die Person der Betreuerin ausgetauscht und die Betreuung auf die Aufgabenkreise Sorge für die Gesundheit, die Entscheidung über die Unterbringung und die Vertretung in Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten beschränkt. Einen Verfahrenspfleger haben weder das Amts- noch das Landgericht bestellt. Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene die Aufhebung der Betreuung, hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht zur erneuten Behandlung und Entscheidung.
II.
Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
1. Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass das amtsgerichtliche Verfahren den gesetzlichen Vorgaben gerecht geworden sei. In der Sache sei das Amtsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Betroffene aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung daran gehindert sei, ihre Angelegenheiten sachgerecht selbst zu erledigen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Potthoff leide sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer psychotischen Krise aus dem paranoiden Formenkreis. Krankheitsbedingt sei die Betroffene in der Bildung eines freien Willens erheblich eingeschränkt.
Allerdings sei die Anordnung der Betreuung nur für die Aufgabenkreise gerechtfertigt, in denen diese erforderlich sei. Ein Bedürfnis für die Betreuung im Aufgabenkreis der allgemeinen Aufenthaltsbestimmung sei nicht zu Tage getreten. Dem beabsichtigten Umzug der Betroffenen habe die Betreuerin nicht widersprochen. Aufgrund des Umzugs sei aber inzwischen die Notwendigkeit für einen Betreuerwechsel eingetreten.
2. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass weder das Amts- noch das Beschwerdegericht der anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt haben.
a) Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Liegt eines der Regelbeispiele des § 276 Abs. 1 Satz 2 FamFG vor, so ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der Regel erforderlich.
b) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, war das Beschwerdegericht jedoch nicht bereits nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG verpflichtet, der Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen.
Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers zwingend erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Diese Voraussetzungen lagen zwar im Verfahren vor dem Amtsgericht vor, weil der erstinstanzliche Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen ließ (vgl. Senatsbeschlüsse vom 4. August 2010 - XII ZB 167/10 - FamRZ 2010, 1648 Rn. 11 ff.; vom 28. September 2011 - XII ZB 16/11 - FamRZ 2011, 1866 Rn. 9 und vom 7. August 2013 - XII ZB 223/13 - FamRZ 2013, 1648 Rn. 11). Denn der sozialpsychiatrische Dienst des Gesundheitsamts hatte eine Betreuung der Betroffenen in den Aufgabenkreisen Gesundheitssorge einschließlich Unterbringungsmaßnahmen, Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden, Versicherungen und anderen Institutionen, Haus- und Wohnungsangelegenheiten und Vermögensangelegenheiten angeregt, woraufhin das Amtsgericht den Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens "zur Frage der Betreuungseinrichtung sowie der Unterbringung" beauftragt hatte, ohne eine Einschränkung auf einzelne Aufgabenbereiche vorzunehmen. Nach dem Umfang der amtsgerichtlichen Ermittlungen war jedenfalls bei ex-ante-Betrachtung davon auszugehen, dass die von der anzuordnenden Betreuung erfassten Aufgabenkreise in ihrer Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfassen und die einzelnen, verbliebenen Befugnisse der Betroffenen in ihrer konkreten Lebenssituation keinen nennenswerten eigenverantwortlichen Handlungsspielraum mehr belassen würden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 4. August 2010 - XII ZB 167/10 - FamRZ 2010, 1648 Rn. 13; vom 28. September 2011 - XII ZB 16/11 - FamRZ 2011, 1866 Rn. 9 und vom 7. August 2013 - XII ZB 223/13 - FamRZ 2013, 1648 Rn. 11). Dass das Amtsgericht die Betreuung letztlich nur für die Aufgabenkreise Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung und Vertretung in Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten angeordnet hat, lässt die Erforderlichkeit der Verfahrenspflegerbestellung nicht mehr rückwirkend entfallen.
Zwar wirkt die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der ersten Instanz nach § 276 Abs. 5 FamFG auch in der Beschwerdeinstanz fort. Das Beschwerdegericht kann deswegen einen bereits bestellten Verfahrenspfleger zum Verfahren hinzuziehen, ohne selbst eine Neubestellung vornehmen zu müssen. Ist in erster Instanz die Bestellung eines Verfahrenspflegers aber zu Recht oder (wie hier) verfahrensfehlerhaft unterblieben, hat das Beschwerdegericht für die Beschwerdeinstanz das Vorliegen der Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 FamFG erneut zu prüfen. Denn das Beschwerdegericht tritt in vollem Umfang an die Stelle des Erstgerichts (§ 68 Abs. 3 FamFG) und entscheidet unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung über die Sache neu (Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 2011 - XII ZB 256/10 - FamRZ 2011, 637 Rn. 10 und vom 21. November 2012 - XII ZB 306/12 - FamRZ 2013, 211 Rn. 11). Dabei ist die Entscheidungskompetenz des Beschwerdegerichts jedoch durch den Beschwerdegegenstand begrenzt; das Beschwerdegericht darf nur insoweit über eine Angelegenheit entscheiden, wie sie in der Beschwerdeinstanz angefallen ist (Keidel/Sternal FamFG 17. Aufl. § 69 Rn. 25; Bork/Jacoby/Schwab/Müther FamFG 2. Aufl. § 69 Rn. 13; MünchKomm FamFG/Fischer 2. Aufl. § 69 Rn. 13; Prütting/Helms/Abramenko FamFG 3. Aufl. § 69 Rn. 3; Fröschle/Guckes Praxiskommentar Betreuungs- und Unterbringungsverfahren § 69 FamFG Rn. 3; BeckOK FamFG/Gutjahr [Stand: 1. Oktober 2013] § 69 Rn. 45; Johannsen/Henrich/Althammer Familienrecht 5. Aufl. § 69 FamFG Rn. 4.7; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl. § 293 Rn. 3; HK-BUR § 293 FamFG Rn. 44; Bienwald/Sonnenfeld Betreuungsrecht 5. Aufl. § 293 Rn. 21; Jurgeleit/Stauch Betreuungsrecht 3. Aufl. § 303 FamFG Rn. 89; Knittel Betreuungsrecht [Stand: 1. Oktober 2009] § 293 FamFG Rn. 7; a.A. OLG Hamm FamRZ 1995, 1519, 1521; zur besonderen Situation im Sorgerechtsverfahren vgl. Senatsbeschluss vom 17. Oktober 2007 - XII ZB 42/07 - FamRZ 2008, 45, 48).
Die Entscheidungskompetenz des Landgerichts war hier auf die Anordnung der Betreuung für die Aufgabenkreise Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung und Vertretung in Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten begrenzt, weil das Amtsgericht die Betreuung nur insoweit angeordnet hatte. Eine Erweiterung des Aufgabenkreises im Beschwerdeverfahren wäre von vornherein wegen des Verschlechterungsverbots unzulässig gewesen, weil allein die Betroffene gegen die Bestellung der Betreuerin Beschwerde eingelegt hatte (Keidel/Sternal FamFG 17. Aufl. § 69 Rn. 25; Bork/Jacoby/Schwab/Müther FamFG 2. Aufl. § 69 Rn. 13; Jürgens/Kretz Betreuungsrecht 4. Aufl. § 69 Rn. 6; MünchKomm FamFG/Fischer 2. Aufl. § 69 Rn. 29). Die Anordnung einer Betreuung für die in der Beschwerdeinstanz betroffenen Aufgabenkreise ist aber nicht mehr mit der Anordnung einer Betreuung im Ganzen im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG vergleichbar.
c) Die Erforderlichkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers im Beschwerdeverfahren ergab sich aber aus der Generalklausel des § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Ob es auch dann, wenn keiner der in § 276 Abs. 1 Satz 2 FamFG genannten Regelfälle vorliegt, eines Verfahrenspflegers bedarf, hängt vom Grad der Krankheit oder Behinderung des Betroffenen sowie von der Bedeutung des jeweiligen Verfahrensgegenstands ab (Senatsbeschluss vom 13. November 2013 - XII ZB 339/13 - juris Rn. 10). Das Gericht hat hierzu eine Einzelfallbeurteilung vorzunehmen, ohne dass ihm insoweit ein Ermessen eröffnet ist (Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 276 Rn. 3). Je weniger der Betroffene in der Lage ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen, je eindeutiger erkennbar ist, dass die geplanten Betreuungsmaßnahmen gegen seinen natürlichen Willen erfolgen und je schwerer und nachhaltiger der beabsichtigte Eingriff in die Rechte des Betroffenen ist, umso dringender erforderlich ist die Bestellung des Verfahrenspflegers (Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl. § 276 Rn. 11; HK-BUR/Bauer [Stand: September 2009] § 276 FamFG Rn. 79).
Gemessen hieran war das Landgericht verpflichtet, der Betroffenen für das Beschwerdeverfahren einen Verfahrenspfleger zu bestellen. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen ist die Betroffene zu einer freien Willensbildung in Bezug auf die Betreuung nicht in der Lage. Sie leidet an einer psychotischen Krise aus dem paranoiden Formenkreis, die mit einem vollkommenen Verlust der Kritikfähigkeit gegenüber der eigenen Situation verbunden ist. Auch wenn mit der Betroffenen ein Gespräch ohne weiteres möglich ist, ist sie nach den Feststellungen des Landgerichts nicht in der Lage, auf konkrete Fragen eine einfache und verständliche Antwort zu geben. Damit liegen gravierende Beeinträchtigungen der Betroffenen vor, die sie daran hindern, ihre Rechte im Betreuungsverfahren ausreichend wahrzunehmen. Denn es ist ihr nicht möglich, ihre Einwendungen mit einer differenzierten Begründung vorzutragen.
In Anbetracht der Bedeutung des konkreten Verfahrensgegenstandes im Beschwerdeverfahren führt diese Beeinträchtigung der Betroffenen dazu, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers zwingend geboten war. Denn die zur Prüfung im Beschwerdeverfahren angefallene Betreuung für die Aufgabenkreise Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Unterbringung und Vertretung in Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten greift erheblich in die Rechte der Betroffenen ein.
d) Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Nichtbestellung des Verfahrenspflegers. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Land-gericht nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
3. Der angefochtene Beschluss ist deshalb aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen. Sollten sich die hier angefochtenen Beschlüsse durch eine Folgeentscheidung erledigt haben, wird das Landgericht den am 14. November 2013 vorsorglich gestellten Antrag nach § 62 FamFG zu bescheiden haben. Andernfalls wird es einen Verfahrenspfleger zu bestellen und nach dessen Stellungnahme erneut zu entscheiden haben.
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