Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 13.09.2012


BFH 13.09.2012 - XI R 48/10

Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unzureichender anwaltlicher Vorsorge gegen eine irrtümliche Löschung einer Frist


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsdatum:
13.09.2012
Aktenzeichen:
XI R 48/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend FG München, 8. April 2009, Az: 10 K 784/08, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

NV: Ist dem Wiedereinsetzungsgesuch nicht zu entnehmen, dass und wie die Prozessbevollmächtigten dafür Vorsorge getroffen haben, dass es zu keiner versehentlichen Löschung von Fristen im Fristenkalender kommen kann und dass derartige Streichungen nach Möglichkeit im normalen Geschäftsgang aufgedeckt werden, kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.

Tatbestand

1

I. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) vom 23. Juli 2007, ihr Kindergeld für den in ihren Haushalt aufgenommenen geistig sowie mehrfach körperlich behinderten M zu gewähren, mit Bescheid vom 12. September 2007 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

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Das Finanzgericht wies die sich anschließende Klage der Klägerin ab, ohne die Revision zuzulassen.

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hatte Erfolg. Der vormals zuständige III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) ließ mit Beschluss vom 15. März 2010 III B 78/09 die Revision zu. Der Beschluss wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 24. März 2010 zugestellt.

4

Mit Schreiben vom 5. Mai 2010 machte die damalige Senatsvorsitzende des III. Senats des BFH die Klägerin darauf aufmerksam, dass die Frist zur Begründung der Revision nach § 120 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) am 26. April 2010 abgelaufen war und wies auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO hin.

5

Hierauf begründete die Klägerin mit Schreiben vom 20. Mai 2010 die Revision und beantragte, ihr für die am 26. April 2010 abgelaufene Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

6

Sie bringt vor, die Frist zur Begründung der Revision und die dazugehörige Vorfrist sei im Fristenkalender ihrer Prozessbevollmächtigten gestrichen worden. Es habe nicht eruiert werden können, wann, weshalb und von wem die Frist im Fristenkalender gestrichen worden sei. Da ausgeschlossen werden könne, dass der Prozessbevollmächtigte, der allein die Sache bearbeitet habe, eine Anweisung zur Streichung der Frist gegeben habe, sei das Fristversäumnis auf ein einmaliges Versehen einer Rechtsanwaltsfachangestellten zurückzuführen, deren Ursache retrospektiv nicht mehr aufzuklären gewesen sei.

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Zur Glaubhaftmachung des anwaltlich versicherten Sachvortrags hat die Klägerin eine Ablichtung des Aktenformblatts "Genaue Fristenkontrolle" mit Datierung 26. April 2010 ihrem Schreiben vom 20. Mai 2010 beigefügt.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 FGO).

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1. Die Klägerin hat die Revision nicht rechtzeitig begründet. Hat der BFH --wie hier-- der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, ist die Revision innerhalb von einem Monat nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses zu begründen (§ 116 Abs. 7 Satz 2  1. Halbsatz, § 120 Abs. 2 Satz 1  2. Halbsatz FGO).

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Im Streitfall ist diese Frist für den am 24. März 2010 zugestellten Beschluss nach § 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs am Montag, den 26. April 2010 abgelaufen. Der erst am 20. Mai 2010 beim BFH eingegangene Schriftsatz war mithin verspätet.

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2. Die beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist kann nicht gewährt werden.

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a) Wiedereinsetzung ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung der gesetzlichen Frist gehindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). Dies setzt in formeller Hinsicht voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1  2. Halbsatz FGO) nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll. Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 24. Juli 2002 VII B 150/02, BFH/NV 2002, 1489; vom 25. Juni 2003 XI B 186/02, BFH/NV 2003, 1589; vom 24. Januar 2005 III R 43/03, BFH/NV 2005, 1312; vom 24. Juni 2008 X R 38/07, BFH/NV 2008, 1517; vom 15. Dezember 2011 II R 16/11, BFH/NV 2012, 593). Hiernach schließt jedes Verschulden --mithin auch einfache Fahrlässigkeit-- die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 17. Februar 2010 I R 38/09, BFH/NV 2010, 1283, m.w.N.). Der Beteiligte muss sich ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO; BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 593, m.w.N.).

13

b) Anhand des Vorbringens der Klägerin lässt sich nicht feststellen, dass das Fristversäumnis unverschuldet war. Es ist vorliegend nicht auszuschließen, dass an der Fristversäumnis ursächlich auch ein Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgewirkt hat, das der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist. In einem derartigen Fall kann keine Wiedereinsetzung gewährt werden (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 15. Dezember 2010 IV R 5/10, BFH/NV 2011, 809; vom 14. Dezember 2011 X B 50/11, BFH/NV 2012, 440).

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Dem Wiedereinsetzungsgesuch ist nicht zu entnehmen, wodurch sich die Prozessbevollmächtigten der Klägerin vor der irrtümlichen Streichung der Fristen im Fristenkalender geschützt haben. Bei der Organisation des Fristenwesens muss sichergestellt sein, dass keine versehentliche Streichung erfolgen kann (vgl. zur unbeabsichtigten Löschung im elektronischen Fristenkalender, Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. März 2012 II ZB 10/11, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2012, 803, unter II.2.a, m.w.N.).

15

Die Klägerin hat nicht dargelegt, welche Sicherungen es in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten gegen ein unbeabsichtigtes Streichen von Fristen gab. Sie hat im Kern lediglich dargetan, dass die Fristen in der Kanzlei nur auf ausdrücklichen Hinweis durch den jeweiligen, die Sache bearbeitenden Prozessbevollmächtigten oder nach Ausgang des entsprechenden fristwahrenden Schriftsatzes gestrichen würden. Die Darlegungen der Klägerin lassen aber nicht erkennen, dass und wie ihr Prozessbevollmächtigter dafür Vorsorge getroffen hat, dass es zu keiner versehentlichen Streichung von Fristen im Fristenkalender kommen kann und dass etwaige derartige Streichungen nach Möglichkeit im normalen Geschäftsgang aufgedeckt werden. Etwa indem sichergestellt wird, dass der Fristenkalender nur von einer klar begrenzten Personengruppe geführt werden darf, sämtliche Eintragungen mit einem Namenskürzel zu versehen und nachzuverfolgen sind und die Einhaltung dieser Vorgaben zeitnah überprüft wird. An derartigen Sicherungen fehlte es offenbar.

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Nach dem Vortrag der Klägerin hatten alle Anwaltssekretärinnen Zugang zu dem Fristenkalender und waren zur Eintragung von Fristen befugt. Soweit sie an anderer Stelle ausführt, es seien nur einige wenige der Angestellten mit der Führung des Fristenkalenders betraut, bleiben diese Angaben vage; es hätte der Klägerin insoweit oblegen, die Angestellten namentlich zu benennen und geeignete Erklärungen von diesen beizubringen.

17

Der Senat kann mithin nicht beurteilen, ob es sich --wie die Klägerin behauptet-- bei dem Fristversäumnis um ein einmaliges, der Klägerin nicht zuzurechnendes Versehen einer Rechtsanwaltsfachangestellten in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten gehandelt hat. Im Ergebnis muss daher davon ausgegangen werden, dass die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist auf einem der Klägerin zuzurechnenden Verschulden beruht.

18

c) Zudem hat die Klägerin die von ihr vorgetragenen Tatsachen nicht glaubhaft gemacht.

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Als präsentes Beweismittel i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 ZPO hat die Klägerin lediglich eine Ablichtung des Aktenformblatts "Genaue Fristenkontrolle" mit Datierung 26. April 2010 vorgelegt. Aus diesem ist nicht zu entnehmen, dass --wie die Klägerin behauptet-- die Revisionsbegründungsfrist im Fristenkalender eingetragen und gestrichen worden sei. Es fehlt vollständig die Vorlage einer Ablichtung des Fristenkalenders. Ohne dieses Mittel der Glaubhaftmachung konnte sich der Senat trotz anwaltlicher Versicherung schon nicht von der Richtigkeit des Vortrages der Klägerin überzeugen.