Entscheidungsdatum: 18.01.2011
Formkörper
1. Aus dem Umstand, dass bestimmte Sachverhaltsbereiche vom Gericht bei der Befragung des gerichtlichen Sachverständigen nicht aufgegriffen werden, kann nicht geschlossen werden, dass das Gericht sie für unerheblich hält, sondern nur, dass das Gericht insoweit keinen (weiteren) Aufklärungsbedarf sieht .
2. Die Anhörungsrüge kann nur dann darauf gestützt werden, dass das Gericht den Sachverständigen im Patentnichtigkeitsverfahren zu einer zum Stand der Technik gehörenden Entgegenhaltung nicht befragt hat, wenn sie in Bezug auf diese Veröffentlichung aufgestellte tatsächliche Behauptungen aufzeigen kann, von denen das Gericht abgewichen ist, ohne über die hierzu erforderliche eigene Sachkunde zu verfügen .
Die Anhörungsrüge der Klägerinnen wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
I. Die zulässige Anhörungsrüge ist unbegründet. Sie könnte nur dann Erfolg haben, wenn der Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden wäre. Daran fehlt es hier.
1. Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Dies verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und auf ihre sachlich-rechtliche und verfahrensrechtliche Entscheidungserheblichkeit zu prüfen und ferner keine Erkenntnisse zu verwerten, zu denen die Verfahrensbeteiligten sich nicht äußern konnten (Senatsbeschluss vom 27. Juni 2007 - X ZB 6/05, BGHZ 173, 47 Rn. 30 - Informationsübermittlungsverfahren II). Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass die von den Gerichten zu treffenden Entscheidungen frei von Verfahrensfehlern ergehen, welche ihren Grund darin haben, dass Sachvortrag der Parteien nicht zur Kenntnis genommen oder nicht berücksichtigt wird (BVerfGE 60, 250, 252; 69, 141, 142 f.; BVerfG NJW-RR 2004, 1150, 1151).
2. Die Klägerinnen machen geltend, der Senat habe wesentliche Teile des einschlägigen Sachverhalts übergangen. Er habe den gerichtlichen Sachverständigen nur zu den Entgegenhaltungen K7 und K9 befragt, wobei der Sachverständige ausgeführt habe, dass im Stand der Technik schon immer Zwischenelemente verwendet worden seien, um zu höheren Reibwerten für die kraftschlüssige Verbindung zweier Werkstücke zu gelangen. Damit habe der Sachverständige deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es eines Anstoßes im Stand der Technik nicht bedurft habe, um eine - aus der K9 bekannte - Beschichtung mit den Merkmalen 4 und 5 (nach der Gliederung zu Rn. 13 des Senatsurteils vom 19. Oktober 2010) wie vom Streitpatent vorgeschlagen auf ein separates Element aufzubringen. In seinem Urteil habe der Senat den vorgetragenen - und vom Sachverständigen bestätigten - Sachverhalt, bei der Wahl eines separaten Verbindungselements handele es sich nicht um einen erfinderischen Schritt, übergangen und damit zudem eine Überraschungsentscheidung gefällt, da sie - die Klägerinnen - aus dem Verzicht des Senats auf die Befragung des Sachverständigen zu weiteren Entgegenhaltungen hätten schließen müssen, dass der Senat den Gegenstand der Erfindung für nahegelegt erachte. Schließlich würdige das Senatsurteil die Entgegenhaltungen K18 und K19 in einer Weise, die mit dem Kenntnisstand des Fachmanns nicht in Einklang zu bringen sei.
3. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird damit nicht dargetan.
a) Der Senat hat die Abweisung der Patentnichtigkeitsklage damit begründet, dass der Stand der Technik keine Anregung gegeben habe, eine - aus der K9 bekannte - Beschichtung mit den Merkmalen 4 und 5 anstatt sie wie nach der K9 auf einem der beiden zu verbindenden Werkstücke aufzubringen, auf einer Folie zu fixieren, die den Merkmalen 3.1 bis 3.3 des Patentanspruchs 1 entspricht und gemäß Merkmal 2.1.2 eine reversible Verbindung beider Werkstücke ermöglicht (Rn. 28 ff.). Er hat im Einzelnen erörtert, warum weder die K9 selbst (Rn. 28), noch die K7 (Rn. 29 bis 40), die K18 (Rn. 42/43) oder die K19 (Rn. 44 bis 48) dem Fachmann hierzu Anlass boten, vielmehr die Verwendung einer dünnen federelastischen Folie mit einer Stärke von ≤ 0,2 mm und einer Eigenfestigkeit, die mindestens der Eigenfestigkeit der zu fügenden Werkstücke entspricht, auf dem im Stand der Technik nicht angelegten Gedanken einer konstruktiven Verselbständigung der Beschichtung beruhe (Rn. 39, 48).
b) Dabei dienen die vorgenannten Ausführungen im Wesentlichen gerade der Darlegung, warum Zwischenelemente, wie sie etwa in der K7 oder in der K19 beschrieben werden, die vom Streitpatent verwirklichte "konstruktive Verselbständigung" der Beschichtung nach der K9 entgegen der Auffassung der Klägerinnen nicht nahegelegt haben. Es kann mithin keine Rede davon sein, dass der Senat dieses Vorbringen übergangen hätte.
Das Vorbringen, der Sachverständige habe die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit durch die Klägerinnen geteilt, kann der Anhörungsrüge schon deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil es eine Rechtsfrage ist, ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (std. Rspr., vgl. mwN Senat, Urteil vom 7. März 2006 - X ZR 213/01, BGHZ 166, 305, 311 - Vorausbezahlte Telefongespräche). Im Übrigen verkürzt die Anhörungsrüge die Ausführungen des Sachverständigen ebenso unzulässig wie das Urteil des Senats:
Der Senat hat die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen berücksichtigt, wonach es immer schon Zwischenelemente gegeben habe, um zu höheren Reibwerten für eine kraftschlüssige Verbindung zu gelangen. Dieser vom Sachverständigen in seinem schriftlichen Gutachten (S. 25 mittlerer Abs.; S. 28 1. Abs.; S. 33 3. Abs.) und in der mündlichen Verhandlung wiederholte Hinweis auf die bekannten Zwischenelemente hat auch in den Entscheidungsgründen im Zusammenhang mit der Erörterung der Offenlegungsschrift K19 Erwähnung gefunden (Rn. 48). Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen hat der Sachverständige jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Schritt, die in Rede stehende, aus der K9 bekannte Beschichtung auf eine erfindungsgemäße Folie aufzubringen, im Stand der Technik angelegt oder gar vorweggenommen sei. Vielmehr hat der Sachverständige schon in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt (S. 25, 28), dass bei keiner der ihm bekannten Lösungen ein reibungserhöhender Verzahnungseffekt durch Mikro-Formschluss in der von der Veröffentlichung K9 aufgezeigten Art herbeigeführt werde und dass der Fachmann zwar über gute Kenntnisse der Oberflächeneigenschaften der zu verbindenden Bauteile verfüge, aber weniger mit Beschichtungen vertraut sei, vor allem eine Denkweise "noch nicht sehr weit verbreitet" sei, die eine Beschichtung wie die in der K9 gelehrte als selbständiges Konstruktionselement betrachte (S. 9 oben). Gerade in dieser Ausführung der Beschichtung nach der K9 mittels einer erfindungsgemäßen dünnen Folie als selbständiges Bauteil hat der Senat den im Ergebnis entscheidenden Gesichtspunkt gesehen.
c) Entgegen der Auffassung der Klägerinnen ließ sich aus dem Umstand, dass der Senat im Anschluss an eine Zwischenberatung mitteilte, keine weiteren Fragen an den Sachverständigen zu haben und bei ebenfalls fehlendem weiterem Fragebedarf der Parteien deren Schlussplädoyers entgegenzusehen, nicht schlussfolgern, dass der Senat aufgrund der bereits mit dem Sachverständigen erörterten wesentlichen Entgegenhaltungen K7, K9 und K10 zu dem Ergebnis gelangt sein müsse, dass eine erfinderische Tätigkeit zu verneinen sei.
Die Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen dient nicht der mündlichen Wiederholung des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen. Sie gibt zum einen dem Gericht und den Parteien Gelegenheit, durch ergänzende Befragung Ausführungen im schriftlichen Gutachten, die nicht hinreichend deutlich oder verständlich oder nicht genügend detailliert sind, vertiefen zu lassen und damit zusätzliche Erkenntnisse zu den im schriftlichen Gutachten erörterten Fragen zu gewinnen. Zum anderen dient sie dazu, entscheidungserhebliche Fragen, die im schriftlichen Gutachten noch nicht oder nicht unter dem maßgeblichen Blickwinkel betrachtet worden sind, im Dialog zwischen Gericht und Sachverständigem und zwischen Parteien und Sachverständigem so zu beleuchten, dass das Gericht einen möglichst umfassenden und möglichst vollständigen Einblick in alle objektiven technischen Gegebenheiten und Kenntnisse des Fachmanns erhält, die für die Beurteilung der entscheidungserheblichen Fragen (im Patentnichtigkeitsverfahren typischerweise der Rechtsfrage, ob der Gegenstand der Erfindung durch den Stand der Technik nahegelegt war) Bedeutung gewinnen können. Aus dem Umstand, dass bestimmte Sachverhaltsbereiche vom Gericht bei der Befragung der Sachverständigen nicht aufgegriffen werden, darf daher nicht geschlossen werden, dass das Gericht sie für unerheblich hält, sondern nur, dass das Gericht insoweit keinen (weiteren) Aufklärungsbedarf sieht.
Gerade im Patentnichtigkeits(berufungs)verfahren ist die Beschränkung auf (mindestens potentiell) entscheidungserhebliche Gesichtspunkte angesichts der Weite und Komplexität der jeweils betroffenen Technikfelder zwingend. Es ist ein Gebot der Verfahrensökonomie und entspricht der gängigen Praxis des Senats, von Seiten des Gerichts mit dem Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung lediglich die Fragen zu erörtern, die nach Erstellung des schriftlichen Gutachtens noch offen oder weiter klärungsbedürftig erscheinen, um über die Frage zu entscheiden, ob das Urteil des Patentgerichts den Angriffen der Berufung standhält oder nicht. Dabei haben die Parteien stets Gelegenheit, ergänzend eigene Fragen an den Sachverständigen zu richten. Hiervon haben beide Parteien vor der Unterbrechung der Verhandlung zum Zwecke der Zwischenberatung auch im Streitfall Gebrauch gemacht, und sie waren auch im Anschluss an die Verhandlungspause nicht gehindert, gegebenenfalls weitere Fragen an den Sachverständigen zu formulieren.
d) Die Entgegenhaltungen K18 und K19 haben die Klägerinnen erst kurz vor der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt und dabei lediglich herangezogen (vgl. Schriftsatz vom 12. August 2010, S. 7 f.), um das Zeitmoment als ein Anzeichen für erfinderische Tätigkeit zu entkräften und zu belegen, dass es in dem Zeitraum von 17 Jahren zwischen der Veröffentlichung K9 und der Anmeldung des Streitpatents weitere Veröffentlichungen gegeben habe, bei denen der Formkörper in Differentialbauweise mit einem separaten Bauteil als reibungserhöhendem Element gestaltet ist. Auf das in der mündlichen Verhandlung nicht weiter erörterte Hilfskriterium des Zeitmoments kam es aufgrund der übrigen Erwägungen des Senats zur erfinderischen Tätigkeit nicht mehr an (vgl. Rn. 40 des Urteils). Dass der Senat gleichwohl geprüft hat, ob die K18 oder die K19 den Gegenstand des Streitpatents nahegelegt hat und dabei zu einer von der nunmehr in der Begründung ihres Rechtsbehelfs von den Klägerinnen vorgebrachten abweichenden Würdigung der Offenlegungsschrift K19 gelangt ist, ist nicht geeignet, eine Verletzung rechtlichen Gehörs zu begründen. Die Anhörungsrüge zeigt nicht auf, dass die Klägerinnen insoweit tatsächliche Behauptungen aufgestellt hätten, von denen der Senat bei der Würdigung der K19 abgewichen wäre, ohne den Sachverständigen hierzu zu befragen. Auf eine Befragung des Sachverständigen zu in das Verfahren eingeführten Veröffentlichungen "ins Blaue hinein", wie sie der Anhörungsrüge vorzuschweben scheint, hat der Nichtigkeitskläger keinen, erst recht keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 91 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit Kostenverzeichnis Nr. 1700 zum GKG.
Meier-Beck Keukenschrijver Berger
Grabinski Schuster