Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 16.06.2011


BGH 16.06.2011 - X ZB 3/10

Verfahren über die Löschung eines Gebrauchsmusters: Abweichung von der in einem gerichtlichen Hinweis geäußerten Rechtsauffassung in der Endentscheidung - Werkstück


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
10. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
16.06.2011
Aktenzeichen:
X ZB 3/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend BPatG München, 27. April 2010, Az: 35 W (pat) 458/08, Beschluss
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Werkstück

Von einer in einem gerichtlichen Hinweis geäußerten Rechtsauffassung darf das Gericht in der Endentscheidung nur abweichen, wenn für die Verfahrensbeteiligten - sei es durch den Verlauf der mündlichen Verhandlung, sei es durch einen ausdrücklichen weiteren Hinweis des Gerichts - erkennbar wird, dass sich entweder die Grundlage verändert hat, auf der das Gericht den ursprünglichen Hinweis erteilt hat, oder dass das Gericht bei unveränderter Entscheidungsgrundlage nunmehr eine andere rechtliche Beurteilung in Erwägung zieht als den Beteiligten angekündigt .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der am 27. April 2010 verkündete Beschluss des 35. Senats (Gebrauchsmuster-Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts aufgehoben. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht zurückverwiesen.

Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 125.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Die Antragsgegnerin ist Inhaberin des Gebrauchsmusters 201 22 563, das am 11. Mai 2006 in das beim Deutschen Patent- und Markenamt geführte Gebrauchsmusterregister eingetragen worden ist. Es betrifft ein Werkstück mit sehr hohen mechanischen Eigenschaften und umfasst zehn Schutzansprüche, von denen die Ansprüche 1 bis 3 nebengeordnet und die Schutzansprüche 4 bis 10 in unterschiedlichem Umfang auf die Nebenansprüche 1 bis 3 rückbezogen sind. Schutzanspruch 1 lautet wie folgt:

"Werkstück mit sehr hohen mechanischen Eigenschaften, bestehend aus einem mit einer intermetallischen Legierungsverbindung beschichteten, tiefgezogenen Blechzuschnitt, der durch Zuschneiden eines gewalzten, insbesondere warmgewalzten Bandstahlblechs entstanden ist, wobei das Bandstahlblech mit einem Metall oder einer metallischen Legierung beschichtet ist, welche einen Schutz der Oberfläche und des Stahls sicherstellen, die intermetallische Legierungsverbindung aus einer Transformation der Beschichtung aus dem Metall oder der Metalllegierung vor oder nach dem Tiefziehen hervorgegangen ist, die intermetallische Legierungsverbindung an der Oberfläche durch die durch eine Temperaturerhöhung über 700° C realisierte Transformation gebildet ist und einen Schutz gegen die Korrosion und gegen die Entkohlung des Stahls sicherstellt sowie eine Schmierfunktion bewirkt, wobei das Metall oder die metallische Legierung der Beschichtung Zink oder eine Legierung auf der Basis von Zink ist."

2

Auf den Löschungsantrag der Antragstellerin hat die Gebrauchsmusterabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts das Streitgebrauchsmuster gelöscht, soweit es über die Schutzansprüche 1 bis 9 gemäß Hilfsantrag vom 12. Juni 2008 hinausgeht. Gegen diesen Beschluss haben sowohl die Antragstellerin als auch die Antragsgegnerin Beschwerde eingelegt. Im Beschwerdeverfahren hat die Antragsgegnerin das Gebrauchsmuster hauptsächlich im Umfang der eingetragenen Schutzansprüche 1 bis 10, hilfsweise im Umfang der Schutzansprüche 1 bis 9 vom 21. Januar 2010 und weiter hilfsweise mit den Schutzansprüchen 1 bis 9 vom 12. Juni 2008 verteidigt.

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Das Patentgericht hat mit Verfügung vom 11. Februar 2010 Verhandlungstermin auf den 27. April 2010 bestimmt. Die Ladung enthält folgenden Zusatz:

"Auf Anordnung des Vorsitzenden werden die Beteiligten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Senat aufgrund des bisherigen schriftsätzlichen Vorbringens dazu neigt, den von beiden Seiten angefochtenen Beschluss des Deutschen Patent- und Markenamts im Ergebnis zu bestätigen, d.h. derzeit ist mit einer Zurückweisung beider Beschwerden zu rechnen."

4

Das Patentgericht hat das Streitgebrauchsmuster in vollem Umfang gelöscht. Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat es zurückgewiesen.

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Hiergegen richtet sich die nicht zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, der die Antragstellerin entgegentritt.

6

II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, da mit ihr der Beschwerdegrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 18 Abs. 4 GebrMG i.V.m. § 100 Abs. 3 Nr. 3 PatG) geltend gemacht wird, und auch im Übrigen zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg, da der geltend gemachte Beschwerdegrund vorliegt.

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1. Das Patentgericht hat ausgeführt, dass die Gegenstände der Schutzansprüche 1 bis 3 nach Hauptantrag sowie der Schutzansprüche 1 bis 3 nach den Hilfsanträgen 1 und 2 mit Blick auf die europäische Patentanmeldung 971 044 (Anlage D1) und die japanische Patentanmeldung Sho 62-23975 (Anlage DJ, deutsche Übersetzung) nicht auf einem erfinderischen Schritt beruhten und deshalb nicht schutzfähig seien.

8

2. Die Rechtsbeschwerde sieht durch die Löschung des Gebrauchsmusters den Anspruch der Antragsgegnerin auf rechtliches Gehör verletzt. Aufgrund des schriftlichen Hinweises in der Terminsladung vom 11. Februar 2010 habe der Antragsgegnervertreter davon abgesehen, sechs bereits vorbereitete weitere Hilfsanträge und zusätzliche Unterlagen bei Gericht einzureichen. Der Vorsitzende des Gebrauchsmustersenats habe darüber hinaus in zwei Telefonaten mit dem Antragsgegnervertreter - eines der Telefongespräche habe einen Tag vor der mündlichen Verhandlung stattgefunden - und auch zu Beginn der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Senat die Zurückweisung beider Beschwerden beabsichtige. Eine sachliche Begründung dieser Sichtweise sei bei keinem der Gespräche und auch nicht zu Beginn der Verhandlung gegeben worden. Die Antragsgegnerin meint, sie sei durch diese Verfahrensweise gehindert gewesen, die vorbereiteten Hilfsanträge zur Verteidigung des Gebrauchsmusters zu stellen. Die auf die Verhandlung ergangene Entscheidung sei eine Überraschungsentscheidung und verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, da die Vorlage und Berücksichtigung der weiteren Hilfsanträge gegebenenfalls zu einer anderen Beurteilung der Schutzfähigkeit des Gebrauchsmusters geführt hätte.

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3. Die Rüge ist begründet.

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a) Der Rechtsbeschwerdegrund des § 100 Abs. 3 Nr. 3 PatG trägt der Bedeutung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) für ein rechtsstaatliches Verfahren Rechnung, in dem jeder Verfahrensbeteiligte seine Rechte wirksam wahrnehmen kann. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt jedem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern und dem Gericht seine Auffassung zu den erheblichen Rechtsfragen darzulegen. Das Gericht ist verpflichtet, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und auf seine sachlich-rechtliche und verfahrensrechtliche Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Es darf ferner keine Erkenntnisse verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten nicht äußern konnten (st. Rspr., BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133; Beschluss vom 10. Februar 1995 - 2 BvR 893/93, NJW 1995, 2095; Beschluss vom 2. Mai 1995 - 1 BvR 2174/94, 1 BvR 2220/94, NJW 1995, 2095, 2096; BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007 - X ZB 6/05, BGHZ 173, 47 - Informationsübermittlungsverfahren II; Beschluss vom 27. Februar 2008 - X ZB 10/07, GRUR RR 2008, 456 - Installiereinrichtung; Beschluss vom 22. September 2009 - Xa ZB 36/08, GRUR 2010, 87 - Schwingungsdämpfer; Beschluss vom 15. April 2010 - Xa ZB 10/09, GRUR 2010, 950 - Walzenformgebungsmaschine; Beschluss vom 12. April 2011 - X ZB 1/10, zur Veröffentlichung vorgesehen - Modularer Fernseher). Das Gericht muss aber den Parteien nicht mitteilen, wie es den die Grundlage seiner Entscheidung bildenden Sachverhalt voraussichtlich würdigen wird (Senatsbeschluss vom 16. September 2008 - X ZB 29/07, GRUR 2009, 91 - Antennenhalter).

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b) Das Patentgericht ist von seiner vor der Entscheidung schriftlich und mündlich geäußerten vorläufigen Meinung ohne erneuten Hinweis abgewichen. Darin liegt unter den Umständen des Streitfalls eine Verletzung des Anspruchs der Antragsgegnerin auf rechtliches Gehör.

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aa) Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 15. August 1996 - 2 BvR 2600/95, NJW 1996, 3202) hat eine Verletzung rechtlichen Gehörs angenommen, wenn das Gericht einen rechtlichen Hinweis zu einer entscheidungserheblichen Frage erteilt und im Urteil entgegengesetzt entscheidet, ohne die Verfahrensbeteiligten auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben. In dem so entschiedenen Fall war für den Ausgang einer Zahlungsklage entscheidend, ob ein Zurückbehaltungsrecht geltend gemacht werden konnte. Nach dem vom Amtsgericht schriftlich erteilten Hinweis durfte der Kläger davon ausgehen, dass das Gericht die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts durch den Beklagten als nicht zulässig ansehen würde. Das Amtsgericht hat jedoch seiner Entscheidung ohne erneuten Hinweis die entgegengesetzte Rechtsauffassung zugrunde gelegt. In einem weiteren vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall konnte der Beschwerdeführer im Hinblick auf eindeutig formulierte Ausführungen in einem Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts auf die Zulassung der Revision vertrauen (BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2003 - 1 BvR 10/99, BVerfGE 108, 341).

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bb) In diesen Fällen war der gerichtliche Hinweis mit einer sachlichen Begründung versehen, die den Parteien die Ansicht des Gerichts zu einer konkreten Rechtsfrage vermittelt hat. Im Streitfall enthielten der schriftliche Ladungszusatz und - nach unangegriffenem Vorbringen der Rechtsbeschwerde - auch die (fern)mündlichen Hinweise keine inhaltlichen Ausführungen etwa dahingehend, welche Entgegenhaltungen in welchem Umfang der Schutzfähigkeit der Erfindung entgegenstünden und aus welchen Gründen dies der Fall sei. Beiden Beteiligten wurde lediglich mehrfach die Erfolglosigkeit des jeweiligen Rechtsmittels in Aussicht gestellt. Gleichwohl vermittelte der Hinweis, die Zurückweisung beider Beschwerden sei beabsichtigt, den Beteiligten die Meinung des Gerichts, die Vorinstanz habe jedenfalls im Ergebnis zutreffend entschieden und es sei nicht mit einer Beurteilung des Streitstoffs zu rechnen, nach der sich der Löschungsantrag als in vollem Umfang begründet oder insgesamt unbegründet darstellte. Die vollständige Löschung des Gebrauchsmusters war deshalb aus Sicht der Antragsgegnerin überraschend. Daran ändert nichts, dass das Patentgericht durch die sprachlich einschränkende Formulierung des Hinweises nur seine vorläufige Meinung kundgetan und nicht ausdrücklich einen bestimmten Prozessausgang als sicher dargestellt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 2003 - I ZB 36/00, GRUR 2003, 901 - MAZ).

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cc) Von einer in einem gerichtlichen Hinweis geäußerten Rechtsauffassung, die - will sich das Gericht nicht dem Vorwurf der Voreingenommenheit aussetzen - stets eine vorläufige sein wird, darf das Gericht in der Endentscheidung nur abweichen, wenn für die Verfahrensbeteiligten - sei es durch den Verlauf der mündlichen Verhandlung, sei es durch einen ausdrücklichen weiteren Hinweis des Gerichts - erkennbar wird, dass sich entweder die Grundlage verändert hat, auf der das Gericht den ursprünglichen Hinweis erteilt hat, oder dass das Gericht bei unveränderter Entscheidungsgrundlage nunmehr eine andere rechtliche Beurteilung in Erwägung zieht als den Beteiligten angekündigt. Hinweise des Gerichts sollen einem fairen Verfahren und der Gewinnung des richtigen Prozessergebnisses dienen. Sie sind von den Verfahrensbeteiligten zu beachten, die die ihnen darin auferlegten Verpflichtungen oder Vorgaben erfüllen sollen, und von denen das Gericht erwartet, dass sie in der mündlichen Verhandlung keinen Vortrag halten, dessen es nach dem Hinweis des Gerichts nicht bedarf, um das nach der vorläufigen Auffassung des Gerichts erwartbare Verfahrensergebnis herbeizuführen. Die Verfahrensbeteiligten dürfen sich ihrerseits aber auch auf den gerichtlichen Hinweis verlassen, gleichgültig, ob er einmal oder mehrmals erteilt wird, ob er sachlich-rechtlichen Inhalts ist oder eine verfahrensrechtliche Vorgehensweise betrifft. Andernfalls wäre der Hinweis funktionslos oder gar irreführend.

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dd) Weder die Entscheidung des Patentgerichts noch die Niederschrift über die mündliche Verhandlung lassen erkennen, dass für die Antragsgegnerin erkennbar geworden ist, dass das Patentgericht an seiner vorläufigen Rechtsauffassung nicht festhalten wollte. Hierfür bringt auch die Antragstellerin nichts vor.

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Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Antragsgegnerin aufgrund des Hinweises von der Vorlage weiterer, bereits vorbereiteter Hilfsanträge abgesehen hat, die sie vorgelegt hätte, wenn ihr deutlich geworden wäre, dass das Patentgericht nunmehr die vollständige Löschung des Gebrauchsmusters erwog. Auch wenn sie gehalten war, ihren Vortrag auf alle relevanten sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte auszurichten, durfte sie damit rechnen, dass das Patentgericht - jedenfalls mangels Erteilung eines anderslautenden Hinweises - die Entscheidung wie angekündigt treffen würde.

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4. Die angefochtene Entscheidung ist in vollem Umfang aufzuheben, da die endgültige Fassung des Gebrauchsmusters erst feststeht bzw. seine vollständige oder teilweise Löschung erst ausgesprochen werden kann, wenn die Antragsgegnerin Gelegenheit erhalten hat, das Schutzrecht weiter eingeschränkt zu verteidigen und die (hilfsweise) verteidigten Fassungen der Schutzansprüche vom Patentgericht überprüft worden sind.

18

III. Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf § 51 Abs. 1 GKG. Eine mündliche Verhandlung hat der Senat nicht für erforderlich gehalten (§ 18 Abs. 4 Satz 2 GebrMG i.V.m. § 107 Abs. 1 Halbsatz 2 PatG).

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