Entscheidungsdatum: 16.02.2011
Die KleinbetragsVO in der ab dem Jahr 2002 geltenden Fassung ist auch insoweit durch § 156 Abs. 1 AO gedeckt, als danach nicht nur Änderungen zulasten des Steuerpflichtigen, sondern gleichermaßen Änderungen, die an sich zugunsten des Steuerpflichtigen vorzunehmen wären, unterbleiben, wenn die Abweichungen zu den bisherigen Festsetzungen oder Feststellungen bestimmte Bagatellgrenzen nicht erreichen .
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2008 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden.
In ihrer Einkommensteuererklärung für 2008 machten sie u.a. Spenden in Höhe von 145 € als Zuwendungen für steuerbegünstigte Zwecke nach § 10b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2008 gültigen Fassung (EStG) geltend.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ließ bei der Einkommensteuerfestsetzung 2008 lediglich einen Betrag in Höhe von 100 € zum Sonderausgabenabzug zu, da für die weiteren Spenden nicht die nach § 50 Abs. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) geforderte Zuwendungsbestätigung vorgelegt worden sei.
Im Einspruchsverfahren reichten die Kläger eine Zuwendungsbestätigung in Höhe von 30 € nach, die allerdings nicht dem amtlichen Muster entsprach. Das FA wies den Einspruch mit der Begründung zurück, die nachgereichte Zuwendungsbestätigung führe zu einer Änderung der Steuerfestsetzung von weniger als 10 €, die nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Kleinbetragsverordnung in der ab dem 1. Januar 2002 gültigen Fassung (KBV 2002) unterbleiben müsse.
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage im Streitpunkt statt und erkannte Sonderausgaben in Höhe von 30 € an, nachdem die Kläger hierfür die nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck ausgestellte Zuwendungsbestätigung des Empfängers vorgelegt hatten. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, § 1 Abs. 1 Nr. 1 KBV 2002 stehe der Steueränderung nicht entgegen. Zwar führe die Berücksichtigung der 30 € Sonderausgaben nur zu einer Steuerherabsetzung in Höhe von 8 €; sie liege damit unter der Änderungsgrenze des § 1 Abs. 1 KBV 2002 in Höhe von 10 €, der seit der Neufassung der KBV zum 1. Januar 2002 durch das Steuer-Euroglättungsgesetz (StEuglG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1790) auch Berichtigungen zugunsten des Steuerpflichtigen untersage. Allerdings sei § 1 Abs. 1 KBV 2002 rechtswidrig und daher nicht anzuwenden, da diese Vorschrift, soweit sie auch Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen ausschließe, sich nicht in den Grenzen der Ermächtigungsgrundlage des § 156 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung in der ab 1. Januar 2002 gültigen Fassung (AO 2002) halte. § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 spreche von der Nichtfestsetzung von Steuern, womit nur eine Änderung der Steuerfestsetzung zum Nachteil des Steuerpflichtigen gemeint sein könne.
Mit seiner Revision macht das FA eine Verletzung des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 geltend. § 1 Abs. 1 KBV 2002 halte sich auch insoweit in den Grenzen des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002, als auf Kleinbeträgen beruhende Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen untersagt würden. Die KBV 2002 diene der Verwaltungsvereinfachung. Dem Wortlaut des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 sei nicht zu entnehmen, dass zwischen Änderungen zugunsten und zulasten des Steuerpflichtigen unterschieden werden müsse. Den parlamentarischen Materialien zur Vorbereitung der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen KBV in der Fassung des Gesetzes vom 10. Dezember 1980 (BGBl I 1980, 2255) sei zu entnehmen, dass die Ermächtigung nach § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 Änderungen sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen umfasse (vgl. BRDrucks 473/80, Abschn. I Buchst. A Nr. 2). Wäre man bei der Neufassung des § 1 Abs. 1 Satz 1 KBV zum 1. Januar 2002 davon ausgegangen, dass § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 nur Änderungen zulasten des Steuerpflichtigen umfasse, hätte man problemlos § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 im selben Gesetzgebungsverfahren wie die KBV 2002 ändern können.
Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger haben keinen Antrag gestellt.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG wird aufgehoben und die Klage wird abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht von der Anwendung des § 1 Abs. 1 Satz 1 KBV 2002 abgesehen.
1. Nach § 10b Abs. 1 EStG können Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke unter bestimmten Umständen als Sonderausgaben geltend gemacht werden. Voraussetzung des Sonderausgabenabzugs ist nach § 50 Abs. 1 EStDV die Vorlage einer Zuwendungsbestätigung, die der Empfänger der Spende nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck ausgestellt hat.
Dass diese Voraussetzungen im Hinblick auf die Spende in Höhe von 30 € nunmehr erfüllt sind, ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
2. Einer Änderung des Einkommensteuerbescheids steht jedoch die Vorschrift des § 1 Abs. 1 KBV 2002 entgegen, da die nachträgliche Berücksichtigung der Sonderausgabe in Höhe von 30 € nach den Feststellungen des FG lediglich zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer um 8 € führen würde.
a) § 1 Abs. 1 Nr. 1 KBV 2002 sieht vor, dass Festsetzungen der Einkommensteuer nur geändert oder berichtigt werden, wenn die Abweichung von der bisherigen Festsetzung mindestens 10 € beträgt. Dabei ist die Vorschrift in ihrer Neufassung ab 1. Januar 2002, in der von "Änderung oder Berichtigung" der Steuer gesprochen wird, dahingehend zu verstehen, dass sie sowohl bei Änderungen zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen eingreift (Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 156 AO Rz 6; Güroff in Beermann/Gosch, AO § 156 Rz 6; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 156 AO Rz 8; Frotscher in Schwarz, AO, § 156 Rz 6; a.A. wohl Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 156 Rz 1).
b) Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 sind hinreichend bestimmt i.S. des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ermächtigt zum Erlass einer Rechtsverordnung, die in Bagatellfällen sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen ein Absehen von Steuerfestsetzungen anordnen darf.
aa) Der Wortlaut des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ist zwar insoweit ungenau gefasst, als er die Ermächtigung für das Absehen von der Steuerfestsetzung davon abhängig macht, dass der festzusetzende Betrag eine zu bestimmende Grenze von höchstens 10 € nicht übersteigt. Damit ist nach Auffassung des erkennenden Senats indes nicht lediglich der Fall gemeint, dass die sonst vorzunehmende Steuerfestsetzung insgesamt die zu bestimmende Betragsgrenze (von höchstens 10 €) nicht übersteigt oder im Fall einer Steueränderung lediglich eine solche zulasten des Steuerpflichtigen verbietet. Die in § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 genannte Betragsgrenze bezieht sich im Falle einer Steueränderung angesichts des Zwecks der Norm, zur Verwaltungsvereinfachung beizutragen (siehe unter c) ersichtlich auf die steuerliche Auswirkung einer ohne die Vorschrift sonst vorzunehmenden Steueränderung. Ebenso wie § 155 Abs. 1 AO differenziert § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 dabei nicht danach, ob eine Steuerfestsetzung Nachzahlungen oder Steuererstattungsansprüche auslöst.
§ 156 Abs. 1 AO 2002 gibt in hinreichendem Umfang das "Programm" für die KBV 2002 vor. Damit wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt; denn die Ermächtigungsgrundlage i.S. des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG muss nicht alle Einzelheiten der zu erlassenden Rechtsverordnung enthalten (Pieroth in Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 11. Aufl., Art. 80 Rz 11).
bb) Der Entstehungsgeschichte des § 156 AO 2002 lässt sich zudem entnehmen, dass die Vorschrift eine Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung enthält, die bei Kleinbeträgen das Absehen von einer Steueränderung sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen regeln kann.
§ 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ist auf § 215 der Reichsabgabenordnung i.d.F. vom 13. Dezember 1919 (RGBl 1919, 1993 --RAO 1919--) zurückzuführen. § 215 RAO 1919 lautete: "Der Reichsminister der Finanzen kann anordnen, dass Nachforderungen von Steuern und Berichtigungen von Steuerfestsetzungen unterbleiben, wenn der Betrag, der nachzufordern oder zu erstatten ist, eine gewisse Grenze voraussichtlich nicht überschreitet."
In der RAO in der Fassung vom 22. Mai 1931 (RGBl I 1931, 161 --RAO 1931--) wurde § 215 RAO 1919 in § 14 Abs. 1 RAO 1931 mit folgendem Wortlaut fortgeführt: "Der Reichsminister der Finanzen kann mit Zustimmung des Reichsrats anordnen, dass die Festsetzung, die Erstattung und die Vergütung von Steuern und anderen steuerrechtlichen Geldleistungen unterbleiben, wenn der Betrag, der festzusetzen, zu erstatten oder zu vergüten ist, eine gewisse Grenze voraussichtlich nicht übersteigt."
Bei Schaffung der AO wurde § 14 Abs. 1 RAO 1931 letztlich zwar nicht wortgleich, jedoch inhaltsgleich in § 156 Abs. 1 AO in der ab dem 1. Januar 1977 geltenden Fassung übernommen.
Die AO 1977 beruht auf einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung (vgl. BTDrucks VI/1982 vom 19. März 1971), der von den Fraktionen der SPD und FDP fortgeführt und in den Bundestag eingebracht wurde (Entwurf einer AO 1974, vgl. BTDrucks 7/79 vom 25. Januar 1973). In diesen Entwurf wurde § 14 Abs. 1 RAO 1931 in § 137 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1974 mit folgendem Wortlaut übernommen: "Der Bundesminister der Finanzen kann zur Vereinfachung der Verwaltung durch Rechtsverordnung bestimmen, dass ... Steuern und steuerliche Nebenleistungen nicht festgesetzt werden, wenn der Betrag, der festzusetzen ist, einen durch diese Rechtsverordnung zu bestimmenden Betrag voraussichtlich nicht übersteigt; ...". In dem Bericht und Antrag des Finanzausschusses (BTDrucks 7/4292 vom 7. November 1975) wurde § 137 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1974 dann in den Entwurf einer AO 1977 wortgleich in § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 übertragen.
In der Folge wurde § 156 Abs. 1 AO 1977 durch Art. 23 Nr. 6 StEuglG mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002 geändert, wobei eine neue Kleinbetragsgrenze in Höhe von 10 € aufgenommen und die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Rundungsvorschriften aufgehoben wurde. Im Übrigen entspricht § 156 Abs. 1 AO 2002 dem Wortlaut des § 156 Abs. 1 AO 1977, indem er darauf abstellt, dass Steuern "nicht festgesetzt werden".
cc) Eine ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung, in der bei bestimmten Kleinbeträgen das Absehen einer Steueränderung zugunsten und zulasten des Steuerpflichtigen vorgesehen werden kann, war daher bereits in den Ursprungsvorschriften des § 215 RAO 1919 und § 14 Abs. 1 RAO 1931 enthalten. Zwar hat dann der Gesetzgeber den Steuererstattungsanspruch nicht mehr wörtlich in die Fassung des § 156 Abs. 1 AO 1977 aufgenommen; dies war aber auch nicht notwendig, da die RAO und die AO ein unterschiedliches Verständnis von "Steuerfestsetzung" und "Steuererstattung" haben. Die RAO unterschied zwischen "Steuerfestsetzung" und "Steuererstattung", während in der AO die "Steuererstattung" von der "Steuerfestsetzung" mitumfasst ist. In §§ 127 ff. RAO 1919 und §§ 150 ff. RAO 1931 waren eigene Bestimmungen für den "Steuererstattungsanspruch" enthalten. Nach § 150 Abs. 1 RAO 1931 war für eine Steuererstattung ein Antrag notwendig. Der Antrag musste innerhalb gewisser Fristen gestellt werden (vgl. § 151 Satz 2 RAO 1931, § 152 Abs. 2 RAO 1931, § 153 RAO 1931 i.V.m. § 154 RAO 1931); ansonsten erlosch der Erstattungsanspruch. Die AO enthält im Gegensatz zur RAO keine eigenen Bestimmungen über den "Steuererstattungsanspruch"; der "Steuererstattungsanspruch" ist vielmehr entweder Folge der Festsetzung in einem (geänderten) Steuerbescheid oder er entsteht unmittelbar kraft Gesetzes, z.B. bei einer nichtigen Steuerfestsetzung (Klein/ Rüsken, a.a.O., § 155 Rz 3).
c) Die KBV 2002 ist zwar nicht durch einen der in Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 4 GG genannten exekutivischen Normgeber erlassen worden, sondern im StEuglG durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst. Dies war im Streitfall aber zulässig, da der parlamentarische Gesetzgeber durch dasselbe Gesetz auch die Ermächtigungsgrundlage des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 änderte (zu den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an ein solches Verfahren vgl. Beschluss vom 13. September 2005 2 BvF 2/03, BVerfGE 114, 196, unter C.II.2.).
§ 1 Abs. 1 Satz 1 KBV 2002 dient --wie von den formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen seit Schaffung des § 156 Abs. 1 AO 1977 vorausgesetzt-- der Vereinfachung und damit der Wirtschaftlichkeit des Verwaltungsverfahrens. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, Kosten des Veranlagungsverfahrens, die außer Verhältnis zum festgesetzten Steuerbetrag oder den betragsmäßigen Auswirkungen eines Änderungsbescheids stehen, zu vermeiden (vgl. Muuss, Die Kleinbetragsverordnung, Deutsche Steuer-Zeitung 1981, 226, 227; Höllig, Die Kleinbetrags-Verordnung, Der Betrieb 1981, 34, 39). Im Einzelfall unterbleibende günstige Änderungen sind durch den betroffenen Steuerpflichtigen vor dem Hintergrund dieses übergeordneten Ziels hinzunehmen, da die Verwaltungskostenersparnis letztlich auch diesem Steuerpflichtigen zugute kommt (vgl. BRDrucks 192/00, 106).