Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 27.06.2012


BFH 27.06.2012 - X B 62/11

Nichtberücksichtigung von Tatsachen als Verfahrensfehler


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsdatum:
27.06.2012
Aktenzeichen:
X B 62/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 6. April 2011, Az: 12 K 1936/10, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

NV: Die Nichtberücksichtigung von Umständen, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätten einfließen müssen, kann verfahrensfehlerhaft sein, wenn das FG seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) nicht nachkommt oder Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens unberücksichtigt lässt.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen zur Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen entweder nicht vor oder sind von dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Form dargelegt worden.

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1. Verfahrensfehler, die gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zur Zulassung der Revision führen könnten, sind vom Kläger nicht vorgetragen worden. Soweit er eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Finanzgericht (FG) rügt, kann dies keinen Verfahrensmangel begründen.

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a) Einwendungen gegen die finanzgerichtliche Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen und deshalb der Nachprüfung durch den Bundesfinanzhof (BFH) im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich entzogen (ständige Rechtsprechung des BFH, siehe u.a. Beschluss vom 18. August 2003 IX B 49/03, BFH/NV 2004, 65; Senatsbeschluss vom 19. Mai 2000 X B 75/99, BFH/NV 2000, 1458; vgl. auch Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 76 und 82, jeweils m.w.N.).

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Dagegen kann die Nichtberücksichtigung von Umständen, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätten einfließen müssen, verfahrensfehlerhaft sein, wenn das FG seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) nicht nachkommt oder Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens unberücksichtigt lässt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 7. Juli 2011 V R 53/10,BFHE 234, 548, und Senatsbeschluss vom 17. Dezember 1998 X B 167/98, BFH/NV 1999, 811, jeweils m.w.N.), insbesondere wenn es bei seiner Überzeugungsbildung eine nach Aktenlage feststehende Tatsache unberücksichtigt lässt bzw. bei seiner Entscheidung vom Nichtvorliegen einer solchen Tatsache ausgeht (sog. Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten). Denn nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, und zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten.

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b) Bei Zugrundelegung dieser Grundsätze hat das FG keine Umstände nicht berücksichtigt, die es in seine Beweiswürdigung hätte einbeziehen müssen.

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aa) Der Kläger führt in seiner Beschwerdebegründung aus, das FG habe den allgemein bekannten Umstand völlig unbeachtet gelassen, dass der streitgegenständliche Sachverhalt aus dem Jahre 1998 stamme, also 13 Jahre zurückgelegen habe. Bei Berücksichtigung dieses Umstandes wäre nicht ein so großes Augenmerk auf die "Rekonstruktion" der Aussage der Zeugin P im Rahmen der finanzrichterlichen Beweiswürdigung gelegt worden.

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Der angerufene Senat kann diesem Vorbringen nicht folgen. Den Urteilsgründen ist sehr wohl zu entnehmen, dass das FG berücksichtigt hat, dass der Geschehensablauf rund um die Abgabe der Einkommensteuererklärungen 1997 zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und der Zeugenbefragung zeitlich sehr weit zurücklag. Dies ergibt sich u.a. aus den Urteilsgründen auf Seite 13; dort führt das FG aus: "Schon hieraus wird deutlich, dass die Zeugin keine echten Erinnerungen, sondern lediglich die Rekonstruktion eines weit zurückliegenden - allenfalls möglichen - Sachverhaltes wiedergegeben hat". Die Bedeutung der Zeitspanne zwischen den Geschehnissen Ende 1998/Anfang 1999 und der Aussage der Zeugin P wird ebenfalls erkennbar in den Ausführungen des FG auf Seite 14 des Urteils, wonach es nicht nachvollziehbar sei, dass sich die Zeugin P noch im Jahr 2009 habe daran erinnern können, dass der Kläger die Unterlagen bei seiner Rückkehr aus dem Finanzamt nicht mehr bei sich gehabt habe.

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bb) Der Kläger trägt weiterhin vor, das FG habe den Umstand nicht berücksichtigt, dass das bewusstseinsschärfende Ereignis, der Skiunfall seiner Tochter, bereits am 2. Januar 1999 eingetreten sei und die Zeugin P in diesem Zusammenhang ausgesagt habe, die von ihr bezeugte Situation der Abgabe der streitgegenständlichen Einkommensteuererklärung 1997 habe definitiv nicht nach dem Unfall stattgefunden.

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Das FG hat indes ausdrücklich auf Seite 15 des Urteils dargelegt, die Zeugin P habe das Gericht nicht davon überzeugen können, dass --selbst wenn unterstellt werde, sie hätte den Kläger bei der Erklärungsabgabe begleitet-- dieses Geschehen nicht ebenso gut im neuen Jahr hätte stattfinden können. Wörtlich fährt das FG fort: "Die Tochter war zwar in dem Skiurlaub verletzt worden, offensichtlich aber nicht bettlägerig. Sie musste sich vielmehr einer Reihe weiterer Untersuchungen unterziehen ...". Hieraus ergibt sich zweifelsfrei, dass das Gericht den Umstand des Unfalls und seine zeitliche Einordnung in den Geschehensablauf gewürdigt hat, wenn auch mit einem von der Auffassung des Klägers abweichenden Ergebnis. Dieses kann jedoch nicht zur Zulassung der Revision führen.

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cc) Der Kläger sieht als weiteren in der Beweiswürdigung außer Betracht gebliebenen Umstand von entscheidender Bedeutung die Tatsache an, dass der zuständige Sachbearbeiter, der Zeuge H, ihm gegenüber geäußert habe, der von ihm, dem Kläger, vorgebrachte Verlauf habe sich durchaus so abgespielt haben können. Der hierüber vom Zeugen H gefertigte schriftliche Aktenvermerk sei nach seiner Kenntnis Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen und hierbei in Augenschein genommen worden.

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Gegen dieses Vorbringen spricht jedoch, dass --ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2011, dem gemäß § 94 FGO i.V.m. § 165 Satz 1 der Zivilprozessordnung erhöhte Beweiskraft zukommt-- der Zeuge H ausgesagt hat, er habe keinerlei Erinnerung mehr an den damaligen Zeitraum. Er könne sich auch nicht mehr daran erinnern, ob am 12. Januar 1999 tatsächlich eine Besprechung stattgefunden habe. Dies wäre denkbar gewesen. Aus dieser Aussage ergibt sich keine Bestätigung des Zeugen H, dass ein --vom Kläger geschilderter-- Geschehensablauf für den 29. Dezember 1998 möglich gewesen sei.

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Die Inaugenscheinnahme eines schriftlichen Vermerks des Zeugen H ist dem Protokoll ebenfalls nicht zu entnehmen. Vielmehr wurde in der mündlichen Verhandlung ein Vermerk des Zeugen Z, den dieser als Betriebsprüfer zur Besprechung vom 12. Mai 2004 gefertigt hatte, verlesen, in Augenschein genommen und als Kopie sowohl den Beteiligten übergeben als auch zu den Akten genommen. In diesem Vermerk hatte der Zeuge Z jedoch notiert, der Kläger habe erklärt, die Einkommensteuererklärung 1997 bereits im Dezember 1998 in den Briefkasten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) geworfen zu haben. Da auf der Erklärung ein handschriftlicher Eingangsvermerk vorhanden gewesen sei, mit der Post eingegangene bzw. in den Briefkasten des FA geworfene Unterlagen jedoch einen Eingangsstempel enthielten, sei keine Festsetzungsverjährung eingetreten.

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Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass selbst eine mündliche oder schriftliche Bemerkung des Zeugen H, der Vorgang könne sich so zugetragen haben wie von dem Kläger geschildert, weder der Aussage, er habe keine Erinnerung mehr, widerspricht, noch einen positiven Beweis dafür erbringt, dass die Darstellung des Klägers den Tatsachen entspricht.

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2. Der vom Kläger angeführte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist nicht in der gebotenen Weise dargelegt worden.

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a) Wird die Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund gestützt, muss der Beschwerdeführer eine für die Beurteilung des Streitfalles maßgebliche Rechtsfrage herausarbeiten, die das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Er muss dabei darlegen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft ist, wobei er sich mit den in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen auseinandersetzen muss (Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 32, m.w.N.).

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b) Diesen Erfordernissen genügt die Beschwerdebegründung des Klägers nicht, weil er es unterlassen hat, eine derartige Rechtsfrage mit einem hinlänglich konkretisierten und präzisierten Inhalt zu formulieren.

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Vom Kläger wird als grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage bezeichnet, dass ein einschneidendes Erlebnis eine Bewusstseinsschärfung nur für die Zukunft bewirken könne. Eine Schärfung des Bewusstseins und damit des Erinnerungsvermögens für Umstände in der Vergangenheit sei denknotwendig ausgeschlossen. Diese Erwägungen --unabhängig davon, ob sie der Entscheidung des FG wirklich zugrunde gelegen haben-- stellen jedoch keine abstrakte Rechtsfrage dar, da weder eine Frage des materiellen Rechts noch des Verfahrensrechts gestellt wird.

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Mit diesem Vorbringen wird vielmehr eine vermeintlich fehlerhafte finanzgerichtliche Würdigung von Tatsachen --hier die Einschätzung des Erinnerungsvermögens der Zeugin P im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall ihrer Tochter-- gerügt. Das zeigt auch der Zusatz des Klägers, das FG habe diesen Rechtssatz seiner Entscheidung "im Rahmen der Beweiswürdigung" zugrunde gelegt. Es läge damit allenfalls ein materiell-rechtlicher Fehler vor, dessen Rüge die Zulassung der Revision jedoch grundsätzlich nicht rechtfertigt (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 16. Dezember 2009 X B 182/08, BFH/NV 2010, 675, und vom 5. Oktober 2010 X B 72/10, BFH/NV 2011, 273).

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3. Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO ist die Revision gegen ein finanzgerichtliches Urteil u.a. zwar auch dann zuzulassen, wenn das erstinstanzliche Urteil unter einem so schweren Rechtsfehler leidet, dass sein Fortbestehen das Vertrauen in die Rechtsprechung beschädigen würde (vgl. z.B. Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rz 68). Dass dem FG ein derart schwerwiegender Rechtsfehler unterlaufen sein soll, lässt sich der Beschwerdebegründung aber nicht entnehmen und ist auch ansonsten nicht erkennbar.