Entscheidungsdatum: 12.06.2013
NV: Erklärt ein Kläger, er verzichte auf mündliche Verhandlung, und hält er gleichzeitig in diesem Schriftsatz an einem bereits gestellten Beweisantrag ausdrücklich fest, dann kann der Verzicht auf die mündliche Verhandlung wegen Fehlens einer klaren, eindeutigen und vorbehaltslosen Erklärung unwirksam sein.
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betrieb in den Streitjahren 2002 bis 2007 in X-Stadt (X) eine Gaststätte und einen Imbiss. Für 2002 bis 2004 reichte er Gewinnermittlungen und Einkommensteuererklärungen ein. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) setzte die Einkommensteuer für diese Jahre erklärungsgemäß mit 0 € fest. Im Anschluss an eine Außenprüfung, bei der sich ergab, dass die klägerische Buchführung nicht ordnungsgemäß war, nahm das FA Zuschätzungen bei den Erlösen vor. Ab Dezember 2007 fand beim Kläger eine Steuerfahndungsprüfung statt. Diese gelangte zu dem Ergebnis, dass der Kläger bei seinen Gewinnermittlungen nicht alle Lieferantenrechnungen erfasst und damit im Zusammenhang stehende Mehrerlöse nicht erklärt hatte. In nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung geänderten Bescheiden setzte das FA daraufhin für 2002 bis 2004 eine noch höhere Einkommensteuer fest. Für die Streitjahre 2005 bis 2006, für die der Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatte, erließ das FA Einkommensteuerbescheide, wobei es die Besteuerungsgrundlagen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Steuerfahndung schätzte. Ferner setzte das FA wegen der Einkommensteuer 2007 Vorauszahlungen fest. Dieser Vorauszahlungsbescheid wurde im Verlauf des Klageverfahrens gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch den für 2007 ergangenen Einkommensteuerbescheid ersetzt.
Mit seiner nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage machte der Kläger geltend, die für die Streitjahre ergangenen Einkommensteuerbescheide seien aufzuheben. Für die Gaststätte und den Imbiss könnten nicht dieselben Rohgewinnaufschlagsätze angesetzt werden, zumal diese überhöht seien. Für die Schätzungen der Steuerfahndung gebe es keine Grundlage, weil die bei ihm nicht verbuchten Lieferantenrechnungen der E-GmbH ihm nicht zuzurechnen seien. Die beschlagnahmten Lieferantenrechnungen der E-GmbH seien dem klägerischen Betrieb nicht zuzuordnen, wie das Zeugnis des Herrn Z belege.
Weiter wies der Kläger unter Benennung des Zeugen Y und dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens darauf hin, dass es im Hinblick auf die vorhandene Konkurrenzsituation in X unmöglich sei, Einkünfte in der vom FA geschätzten Höhe zu erzielen.
In der Streitsache führte das Finanzgericht (FG) am 13. Januar 2011 einen Erörterungstermin durch. In Reaktion auf die vom FG in diesem Termin gestellte Frage, ob auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, trug der Kläger mit Schriftsatz vom 27. Januar 2011 vor, in der Verhandlung (gemeint: dem Erörterungstermin) sei deutlich gemacht worden, dass die Konkurrenzsituation in X die vom FA angenommenen Umsätze nicht hergebe. Wie bereits der Zeuge Y ausgeführt habe, müssten hierzu pro Tag mindestens 266 Essen verkauft werden, was illusorisch sei. Im Übrigen habe sich in dem Termin herausgestellt, dass die in Frage stehenden Lieferantenrechnungen der E-GmbH sich nicht in den Akten des FA befänden und dem Prozessbevollmächtigten trotz Aufforderung auch nicht zur Verfügung gestellt worden seien. Die Existenz dieser Rechnungen sei nunmehr endgültig zu bestreiten. Außerdem sei schriftsätzlich vorgetragen und unter Beweis gestellt worden, dass die Rechnungen gar nicht dem Kläger zuzuordnen seien.
Im Anschluss an diese Ausführungen teilte der Klägervertreter im letzten Absatz seines Schreibens mit, dass das Verfahren seinen weiteren Gang gehen könne. Auf eine weitere mündliche Verhandlung werde verzichtet, da die Schätzungsgrundlagen nicht übermittelt werden könnten.
Durch das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil vom 1. Februar 2012 wies das FG die Klage ab. Die Klage sei unzulässig, soweit sie die Einkommensteuer 2005 und 2006 betreffe, da der Kläger insoweit den Gegenstand des Klagebegehrens nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet habe. Im Übrigen sei die Klage unbegründet, da die für die Streitjahre jeweils vorgenommenen Schätzungen dem Grunde und der Höhe nach nicht zu beanstanden seien.
Mit seiner wegen der Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht der Kläger u.a. geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Das FG sei seinen wiederholt vorgetragenen Einwendungen trotz der hierzu von ihm gestellten Beweisanträge, die er noch im Schriftsatz vom 27. Januar 2011 aufrechterhalten habe, nicht nachgegangen. Es habe lediglich pauschal die Richtigkeit der Berechnungen des FA festgestellt. Das FG habe aber Anlass gehabt, die angebotenen Beweise zu erheben.
II. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auf einem Verfahrensmangel. Es wird daher gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
1. Der Kläger macht sinngemäß einen Verstoß gegen § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO geltend. Dieser Verfahrensfehler liegt auch tatsächlich vor.
a) Der Kläger weist in seiner Beschwerdebegründung ausdrücklich auf seinen Schriftsatz vom 27. Januar 2011 hin. Er bringt vor, er habe bis zuletzt ausdrücklich an seinen Anträgen auf Vernehmung der Zeugen Z und Y festgehalten. Das FG hätte daher diesen Beweisanträgen entsprechen müssen.
Da eine solche Zeugenvernehmung aber notwendigerweise in mündlicher Verhandlung durchzuführen ist, um den Beteiligten zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme rechtliches Gehör zu gewähren (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. Oktober 2006 VII B 272/05, BFH/NV 2007, 725), enthält der klägerische Vortrag zugleich die Rüge, das FG habe trotz des erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen.
Dem steht nicht entgegen, dass der BFH die Erklärung, auf mündliche Verhandlung werde verzichtet, zugleich als Verzicht auf eine zu einem früheren Zeitpunkt beantragte Beweiserhebung wertet (BFH-Beschlüsse vom 23. Juni 1997 IV B 88/96, BFH/NV 1997, 884; vom 5. Oktober 2000 V B 74/00, BFH/NV 2001, 330; in BFH/NV 2007, 725; vom 29. Juni 2010 III B 168/09, BFH/NV 2010, 1847, und vom 29. August 2011 III B 110/10, BFH/NV 2011, 2100). Denn ein solcher Verzicht auf eine Beweisaufnahme kann dann nicht angenommen werden, wenn auch noch in dem Schriftsatz, in dem auf mündliche Verhandlung verzichtet wird, ein Beweisantrag gestellt oder ausdrücklich aufrechterhalten wird. In einem solchen Fall liegen zwei Prozesserklärungen vor, die in unterschiedliche Richtungen gehen: Während der Antrag auf Beweisaufnahme eine mündliche Verhandlung verlangt, hat der Verzicht auf eine solche mündliche Verhandlung das Gegenteil zum Ziel. Diese Prozesserklärungen können in einem solchen Fall daher auch in dem Sinne zu verstehen sein, auf eine mündliche Verhandlung werde unter der Voraussetzung verzichtet, dass das Gericht dem klägerischen Begehren auch ohne die beantragte Beweisaufnahme entsprechen kann (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 1997 VI R 109/96, BFH/NV 1998, 183). Jedenfalls fehlt es in einem solchen Fall daran, dass der Verzicht auf mündliche Verhandlung klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt worden ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Entscheidungen vom 9. Januar 2006 XI B 176/04, BFH/NV 2006, 1105, und vom 31. August 2010 VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126).
b) Der vom Kläger gerügte Verfahrensverstoß liegt auch tatsächlich vor. Der Kläger hat in seinem Schriftsatz vom 27. Januar 2011 ausdrücklich seine im Klageverfahren gestellten Anträge auf Zeugenvernehmung angesprochen und in diesem Schriftsatz anschließend ausgeführt, es werde auf mündliche Verhandlung verzichtet. Diese die Durchführung einer mündlichen Verhandlung betreffende Prozesserklärung kann nicht zugleich als Erklärung ausgelegt werden, auf die beantragte Beweisaufnahme werde verzichtet (zur Befugnis des BFH das Vorliegen einer eindeutigen Verzichtserklärung eigenständig zu prüfen, vgl. z.B. Beschluss in BFH/NV 2006, 1105). Denn bei einer solchen Annahme bliebe unverständlich, weshalb der rechtskundig vertretene Kläger seine bereits früher gestellten Beweisanträge in dem Schriftsatz vom 27. Januar 2011 ausdrücklich wiederholt hat.
2. Hat das FG wie im Streitfall irrtümlich einen wirksamen Verzicht beider Beteiligten auf mündliche Verhandlung angenommen und durch Urteil entschieden, dann ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO davon auszugehen, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht (BFH-Urteil vom 18. Februar 1999 I R 127-129/97, BFH/NV 1999, 1464; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 19).
3. Das angefochtene Urteil wird daher gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.