Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 18.01.2011


BGH 18.01.2011 - VIII ZB 45/10

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Rechtsbeschwerde wegen unzureichender Aufklärung des vom Rechtsanwalt geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrundes


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
8. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
18.01.2011
Aktenzeichen:
VIII ZB 45/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Darmstadt, 14. Mai 2010, Az: 6 S 27/10, Beschlussvorgehend AG Offenbach, 14. Januar 2010, Az: 350 C 63/09
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 14. Mai 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert beträgt 35.528 Euro.

Gründe

I.

1

Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem beendeten Mietverhältnis. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil des Amtsgerichts ist der Klägerin, die sich als Rechtsanwältin selbst vertritt, am 8. Februar 2010 zugestellt worden. Die Klägerin hat am 9. Februar 2010 Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 1. April 2010 hat sie beantragt, die am 8. April 2010 ablaufende Berufungsbegründungsfrist wegen Arbeitsbelastung um einen Monat zu verlängern. Nach dem gerichtlichen Eingangsstempel ist der Verlängerungsantrag erst am 9. April 2010 beim Berufungsgericht eingegangen.

2

Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe den Verlängerungsantrag am 8. April 2010 zwischen 10.30 Uhr und 11 Uhr im Beisein eines Mandanten, mit dem sie zuvor einen Gerichtstermin in einem anderen Gebäude des Berufungsgerichts wahrgenommen habe, in den Briefkasten des Berufungsgerichts im Neubau am Mathildenplatz eingeworfen. Sie hat eine eidesstattliche Versicherung ihres Mandanten vorgelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Die Berufungsbegründung ist am 10. Mai 2010 (Montag) beim Berufungsgericht eingegangen.

3

Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

5

1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).

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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet, denn die angegriffene Entscheidung verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Klägerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 227; vom 18. November 2003 - XI ZB 18/03, juris Rn. 7; jeweils mwN). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht missachtet, weil es ohne die erforderlichen Nachforschungen davon ausgegangen ist, dass der (erstmalige) Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung entsprechend dem gerichtlichen Eingangsstempel erst am 9. April und somit verspätet eingegangen ist.

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a) Die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung - hier der Einreichung eines Fristverlängerungsantrags - wird im Regelfall durch den Eingangsstempel des angegangenen Gerichts auf dem entsprechenden Schriftstück nachgewiesen (§ 418 Abs. 1 ZPO). Der Beweis des Gegenteils, der die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang erfordert, ist aber zulässig. Die Klägerin hatte sich hier ausdrücklich darauf berufen, dass sie den Schriftsatz - entgegen dem gerichtlichen Stempelaufdruck - bereits am 8. April 2010 und damit rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen habe. Angesichts der Beweisnot der betroffenen Partei dürfen die Anforderungen an den Gegenbeweis nicht überspannt werden, denn der Außenstehende hat in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des Nachtbriefkastens und die Abläufe bei dessen Leerung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es deshalb zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und dienstliche Äußerungen der für die Leerung des Briefkastens zuständigen Beamten über seine Funktionstüchtigkeit im fraglichen Zeitpunkt herbeizuführen (BGH, Urteil vom 30. März 2000 - IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872 unter II 1 b; Beschluss vom 3. Juli 2008 - IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501 Rn. 11). Dies hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft unterlassen.

8

b) Das Berufungsgericht hat ferner der von der Klägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung ihres Mandanten B. und ihrem Vorbringen zu den Abläufen am 8. April 2010 unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht keine Bedeutung beigemessen. Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe am fraglichen Tag in einem anderen Gebäude des Berufungsgerichts einen Gerichtstermin im Beisein ihres Mandanten wahrgenommen; anschließend sei sie mit ihm noch zum Gerichtsbriefkasten am Mathildenplatz gefahren und habe dort den Verlängerungsantrag eingeworfen. Diesen Vortrag hat die Klägerin durch Vorlage ihrer Ladung als Prozessbevollmächtigte zum dem auf diesen Tag anberaumten Termin in dem Rechtsstreit ihres Mandanten, des gerichtlichen Sitzungsprotokolls vom 8. April 2010 in jener Sache sowie der eidesstattlichen Versicherung ihres Mandanten belegt. Dieser hat bestätigt, dass er am fraglichen Tag mit der Klägerin nach einem Gerichtstermin in eigener Sache noch zu einem anderen Gerichtsbriefkasten in D. gefahren sei, in den die Klägerin ein von ihr als fristgebunden bezeichnetes Schriftstück eingeworfen habe.

9

Damit spricht einiges dafür, dass die Klägerin den Fristverlängerungsantrag tatsächlich am 8. April 2010 und somit rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen hat. Soweit das Berufungsgericht an der Richtigkeit der Angaben in der eidesstattlichen Versicherung zweifelte, hätte es den Mandanten der Klägerin als Zeugen vernehmen müssen; in der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ist regelmäßig der Antrag zu sehen, denjenigen, der die eidesstattlichen Versicherung abgegeben hat, als Zeugen zu vernehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2009 - XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217 Rn. 9 mwN). Soweit das Berufungsgericht an der Darstellung der Klägerin deshalb Zweifel hegte, weil es sich bei dem nach der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung am 8. April 2010 in den Briefkasten des Berufungsgerichts eingeworfenen Schriftstück nicht um den Verlängerungsantrag in der vorliegenden Sache, sondern um ein anderes Schriftstück gehandelt haben könnte, wäre es erforderlich gewesen, die Klägerin hierauf hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, noch bestehende Zweifel zumindest im Rahmen einer Anhörung nach § 141 ZPO auszuräumen.

Ball                                    Dr. Milger                                     Dr. Hessel

               Dr. Fetzer                                     Dr. Bünger