Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 22.08.2012


BGH 22.08.2012 - VII ZR 2/11

Erforderlichkeit der Beweiserhebung im Schadensersatzprozess wegen entgangenen Gewinns: Vorliegen einer „in Blaue hinein“ gemachten Beweisbehauptung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
7. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
22.08.2012
Aktenzeichen:
VII ZR 2/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Thüringer Oberlandesgericht, 15. Dezember 2010, Az: 7 U 517/09vorgehend LG Gera, 19. Mai 2009, Az: 1 HKO 100/08
Zitierte Gesetze

Tenor

Den Beschwerden der Beklagten und der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wird stattgegeben.

Das Urteil des 7. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 15. Dezember 2010 wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 630.031,44 €

Gründe

I.

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns. Hintergrund ist ein vom Bundesministerium des Innern im Jahre 2003 durchgeführtes Vergabeverfahren für Ausweislesegeräte. Die Klägerin hat behauptet, sie habe wegen einer Pflichtverletzung der Beklagten den Zuschlag für die Lieferung von 56 Ausweislesegeräten und einen Rahmenvertrag über die Lieferung von mindestens 744 weiteren Ausweislesegeräten nicht erhalten. Die Beklagte hat bestritten, sich zur Entwicklung und Produktion eines Testgeräts, welches der Klägerin den Zuschlag garantiert, verpflichtet zu haben.

2

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 58.579,92 € nebst Zinsen zu zahlen. Es hat die Revision nicht zugelassen.

3

Hiergegen richten sich die Nichtzulassungsbeschwerden der Beklagten und der Klägerin, mit denen diese die Zulassung der Revision jeweils begehren, soweit zu ihrem Nachteil erkannt worden ist.

II.

4

1. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, zwischen den Parteien sei ein Vertrag über die Herstellung und Entwicklung eines für die streitgegenständliche Ausschreibung geeigneten Ausweislesegeräts zustande gekommen, den die Beklagte schuldhaft verletzt habe. Auf der Grundlage der vorangegangenen Verträge über den Erwerb und die Fortführung von Entwicklungsleistungen und der Vertriebsvereinbarung habe die Klägerin der Beklagten die Angebotsaufforderung und die Leistungsbeschreibung übergeben. Sie habe der Beklagten damit ein Angebot mit dem Inhalt unterbreitet, ein Testgerät zu entwickeln und zu produzieren, das die aus den Ausschreibungsunterlagen ersichtlichen Anforderungen erfüllt und der Klägerin die Teilnahme an der Ausschreibung ermöglicht. Die Beklagte habe daraufhin widerspruchs- und vorbehaltslos mit der Entwicklung und Produktion begonnen. Dieses Verhalten sei nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte so auszulegen, dass die Beklagte das Angebot der Klägerin konkludent angenommen habe.

5

Die Beklagte habe die gegenüber der Klägerin übernommene vertragliche Pflicht verletzt. Denn unstreitig sei das von der Beklagten entwickelte und von der Klägerin dem Bundesministerium des Innern angebotene Testgerät nicht in der Lage gewesen, die Sicherheitsmerkmale flexibel zu lokalisieren und auf ihre Echtheit zu überprüfen.

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Durch die schuldhafte Pflichtverletzung der Beklagten sei der Klägerin mindestens ein Schaden in Höhe des entgangenen Gewinns für die ausgeschriebenen 56 Ausweislesegeräte, mithin in Höhe von 58.579,92 € entstanden. Es sei wahrscheinlich, dass die Klägerin ohne die zum zwingenden Ausschluss führende Pflichtverletzung der Beklagten den Zuschlag bekommen hätte. Soweit die Klägerin darüber hinaus als Mindestschaden entgangenen Gewinn für weitere 744 Ausweislesegeräte begehre, habe sie dies nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht. Für ihre Behauptung, der Bedarf des Bundesministeriums des Innern belaufe sich mindestens auf 800 Ausweislesegeräte, fehle es an greifbaren Anhaltspunkten, es sei ersichtlich eine - einem Beweis nicht zugängliche - Behauptung "ins Blaue hinein". Zwar sei mit dem Zuschlag im Vergabeverfahren der Abschluss eines Rahmenvertrages verbunden gewesen. Auch habe die Klägerin das Bundesministerium des Innern mit insgesamt 946 Geräten der Vorgängergeneration beliefert. Beide Umstände seien jedoch keine geeigneten Anknüpfungspunkte im Sinne des § 287 ZPO.

7

2. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG. Es ist deshalb, soweit zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist, aufzuheben, und die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 544 Abs. 7 ZPO.

8

a) Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. September 2008 vorgetragen, den Parteien seien die Anforderungen der in der Ausschreibung genannten ICAO-Norm durchaus bewusst gewesen; es sei den Parteien klar gewesen, dass etwas gefordert worden sei, was in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen gewesen sei, insbesondere das Auslesen von Sicherheitsmerkmalen im gesamten zulässigen Bereich. Die Beklagte hat des Weiteren unter Beweisantritt vorgetragen, dies hätten der klägerische Geschäftsführer M. und der Mitarbeiter der Beklagten B. nach Eingang des technischen Ausschreibungsteils bei der Beklagten ausdrücklich erörtert, und zwar bereits vor Abgabe des ersten Angebots.

9

Mit diesem Vortrag hat sich das Berufungsgericht nicht befasst und den benannten Zeugen nicht vernommen.

10

b) Auf dem Verfahrensverstoß kann das Urteil des Berufungsgerichts beruhen; denn es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung dieses Vortrags eine vertragliche Verpflichtung der Beklagten, bis zum Ablauf der Angebotsfrist ein Ausweislesegerät zu entwickeln und zu produzieren, welches den technischen Anforderungen der Ausschreibung, darunter der Anforderung, dass alle der ICAO-Norm unterfallenden Dokumente überprüft werden können, genügt, verneint hätte.

11

c) Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, sich mit den weiteren Rügen der Beklagten in der Nichtzulassungsbeschwerde auseinanderzusetzen. Insbesondere wird das Berufungsgericht erneut zu prüfen haben, ob und mit welchem Inhalt ein Vertrag bezüglich der Herstellung und Entwicklung eines Testgeräts zustande gekommen ist. Allein die Übergabe der Leistungsbeschreibung an die Beklagte und deren anschließende Tätigkeit rechtfertigen nicht die Annahme, dass sich die Beklagte vertraglich verpflichtet hat, bis zum Ablauf der Angebotsfrist ein Testgerät zu produzieren, das die Anforderungen gemäß den Ausschreibungsunterlagen erfüllt.

12

3. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision hat ebenfalls Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG. Es ist deshalb, auch soweit zum Nachteil der Klägerin entschieden worden ist, aufzuheben und die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 544 Abs. 7 ZPO.

13

a) Das Berufungsgericht verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise, indem es die von der Klägerin im Schriftsatz vom 29. Juli 2008, Seite 27 erhobene Behauptung, der gesamte Bedarf des Bundesministeriums des Innern an Ausweislesegeräten habe 800 Stück betragen, als Behauptung "ins Blaue hinein" eingestuft und den von der Klägerin zum Beweis für diese Behauptung angebotenen Zeugen G. nicht vernommen hat.

14

b) Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, NJW 2009, 1585; BGH, Beschluss vom 16. November 2010 - VIII ZR 228/08, juris Rn. 14 m.w.N.). Das ist unter anderem dann der Fall, wenn ein Gericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs missachtet, wonach die Ablehnung eines Beweises für eine erhebliche Tatsache nur zulässig ist, wenn diese so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann oder wenn sie ins Blaue hinein aufgestellt worden ist (vgl. BVerfG, ZIP 1996, 1761, 1762). Die der Beweiserhebung vorgeschaltete Handhabung der Substantiierungsanforderungen verletzt Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist (BGH, Beschluss vom 16. November 2010 - VIII ZR 228/08, juris Rn. 14 m.w.N).

15

c) So liegt der Fall hier. Angesichts des Umstands, dass die Klägerin das Bundesministerium des Innern mit 946 Geräten der Vorgängergeneration beliefert hatte, und angesichts des Umstands, dass nach den Ausschreibungsunterlagen im Laufe der nächsten Jahre sukzessive alle seinerzeit im Einsatz befindlichen Ausweisleser gegen Geräte einheitlicher Ausstattung ausgetauscht werden sollten, kann die Behauptung der Klägerin, der gesamte Bedarf des Bundesministeriums des Innern an Ausweislesegeräten habe 800 Stück betragen, nicht als Behauptung "ins Blaue hinein" eingestuft werden. Es handelt sich vielmehr um eine für die Schadensschätzung zentrale Anknüpfungstatsache, die, sollte der Klägerin der Beweis gelingen, als Grundlage für eine Schadensschätzung genügen würde. Die Vorschrift des § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO rechtfertigt es nicht, in einer für die Streitentscheidung zentralen Frage auf die nach Sachlage unerlässlichen Erkenntnisse zu verzichten (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2006 - IX ZR 173/03, NJW-RR 2007, 500 Rn. 10).

16

d) Auf dem Verfahrensverstoß kann das Urteil des Berufungsgerichts beruhen; denn es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des genannten Vortrags der Klägerin und Vernehmung des Zeugen G. einen höheren Schaden festgestellt hätte.

17

e) Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit den weiteren Rügen der Klägerin in der Nichtzulassungsbeschwerde auseinanderzusetzen.

Kniffka                                         Eick                                   Halfmeier

                        Leupertz                                  Kartzke