Entscheidungsdatum: 15.02.2011
Das Finanzamt ist zum Erlass eines ergänzenden Haftungsbescheids berechtigt, wenn die Erhöhung der dem ersten Haftungsbescheid zu Grunde liegenden Lohnsteuerschuld auf neuen im Rahmen einer Außenprüfung festgestellten Tatsachen beruht. Dass die Lohnsteuerschuld und damit der Haftungsanspruch im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Haftungsbescheids bereits materiell-rechtlich entstanden waren, steht einer weiteren Haftungsinanspruchnahme nicht entgegen (Fortentwicklung der Rechtsprechung) .
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hatte in ihrer Funktion als Geschäftsführerin der X. Ltd. (Ltd.) --über deren Vermögen im Mai 2006 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde-- am 26. Juli 2005 bzw. am 26. September 2005 Lohnsteuer für das zweite Kalendervierteljahr 2005 angemeldet, ohne diese zum Fälligkeitszeitpunkt abzuführen. Da für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2005 sowie für das erste Kalendervierteljahr 2006 keine Lohnsteuer angemeldet wurde, schätzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die abzuführende Lohnsteuer.
Mit inzwischen bestandskräftigem Bescheid vom 14. Juni 2006 nahm das FA die Klägerin für die für das Jahr 2005 angemeldeten bzw. geschätzten Lohnsteuerbeträge sowie den darauf entfallenden Solidaritätszuschlag als Haftungsschuldnerin nach § 191 Abs. 1, §§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO) in Anspruch.
Eine im Juli und August 2006 durchgeführte Lohnsteueraußenprüfung ergab, dass die für das zweite bis vierte Kalendervierteljahr 2005 angemeldeten bzw. geschätzten Lohnsteuerbeträge zu gering waren. Aus dem Bericht der Lohnsteueraußenprüfung ergibt sich, dass die Differenz aus nicht versteuerten Spesenzahlungen resultiert.
Mit Bescheid vom 15. Juni 2007 nahm das FA die Klägerin für diese Lohnsteuerrückstände sowie den darauf entfallenden Solidaritätszuschlag des Jahres 2005 --in Höhe der sich nach der Lohnsteueraußenprüfung ergebenden zusätzlichen Lohnsteuern, die nicht bereits im Haftungsbescheid vom 14. Juni 2006 enthalten waren-- sowie erstmals für Lohnsteuerrückstände des Jahres 2006 als Haftungsschuldnerin nach § 191 Abs. 1, §§ 69, 34 AO in Anspruch.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass der Haftungsbescheid vom 15. Juni 2007 rechtswidrig und daher aufzuheben sei, soweit darin die Klägerin für Lohnsteuer des Jahres 2005 in Haftung genommen worden ist, im Übrigen aber rechtmäßig sei. Die Haftung der Klägerin für Lohnsteuerschulden des Jahres 2005 sei bereits Gegenstand des Bescheids vom 14. Juni 2006 gewesen, so dass er der erneuten Regelung des gleichen Sachverhalts durch Erlass eines ergänzenden, neben den ersten Haftungsbescheid tretenden Haftungsbescheids entgegenstehe.
Mit seiner Revision macht das FA geltend, durch den zweiten Haftungsbescheid vom 15. Juni 2007 werde ein veränderter oder weiterer Sachverhalt --die durch die Außenprüfung ermittelten, bisher nicht angemeldeten Lohnsteuerbeträge-- erfasst. Es handele sich hierbei um neue Tatsachen, da die höheren Beträge bei Erlass des ersten Haftungsbescheids vom 14. Juni 2006 nicht bekannt gewesen seien.
Das FA beantragt sinngemäß die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung, soweit darin der Haftungsbescheid vom 15. Juni 2007 aufgehoben worden ist, und die Abweisung der Klage.
II. Die Revision ist begründet; sie führt im Umfang des Revisionsantrags zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der angefochtene Haftungsbescheid ist rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Klägerin wurde zu Recht vom FA als Haftungsschuldnerin (§ 69 Satz 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 AO) in Anspruch genommen.
1. Entgegen der Auffassung des FG war das FA nicht durch den ersten Haftungsbescheid gehindert, in dem zweiten Haftungsbescheid auch die in der Lohnsteueraußenprüfung für das zweite bis vierte Quartal 2005 ermittelten weiteren Lohnsteuern zu erfassen.
a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. Mai 2004 VII R 29/02 (BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3) entschieden, dass für die Zulässigkeit eines neben einen bereits bestehenden Haftungsbescheid gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner tretenden weiteren Haftungsbescheids entscheidend ist, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. Nur im letzten Fall handele es sich um Haftungsfälle, die nicht voneinander abhingen und zu rechtlich selbständigen Haftungsansprüchen führten, die Gegenstand verschiedener Haftungsbescheide sein könnten. Gegenstand eines Haftungsbescheids, mit dem der Haftungsschuldner aufgrund eines bestimmten Haftungstatbestands für eine Jahressteuerschuld des Steuerschuldners in Anspruch genommen werden soll, sei stets der gesamte zum 31. Dezember des Kalenderjahres entstandene Steueranspruch und nicht ein Teilanspruch.
In dem entschiedenen Fall war der Gesellschafter-Geschäftsführer in einem ersten Haftungsbescheid nur hinsichtlich eines Teilbetrags der festgesetzten Umsatzsteuer, der nicht von der Vollziehung ausgesetzt war, in Haftung genommen worden. Mit dem zweiten Haftungsbescheid wurde der bei Erlass des ersten Haftungsbescheids von der Vollziehung ausgesetzte Restbetrag der Gesamtrückstände eingefordert. Bei dieser Sachverhaltskonstellation hat der Senat den Erlass eines ergänzenden Haftungsbescheids für unzulässig angesehen, weil der erste Bescheid über denselben Sachverhalt entschieden hat wie auch der zweite und die Inanspruchnahme auf eine zu niedrige Haftungssumme auf einer rechtsirrtümlichen Beurteilung des Sachverhalts oder einer fehlenden Ermessensentscheidung beruhte.
b) Die Sachverhaltskonstellation im Streitfall unterscheidet sich hiervon wesentlich: Während im Urteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3 den Haftungsbescheiden eine festgesetzte Jahressteuerschuld zu Grunde lag, betraf im Streitfall der erste Haftungsbescheid lediglich angemeldete bzw. geschätzte Lohnsteuern, während der zweite Haftungsbescheid die Lohnsteuer erfasste, die auf die --erst durch die Lohnsteueraußenprüfung ermittelten und nicht versteuerten-- Spesenzahlungen entfiel. Erst durch die --nach Erlass des ersten Haftungsbescheids durchgeführte-- Lohnsteueraußenprüfung wurde festgestellt, dass an die Arbeitnehmer der Ltd. Spesen gezahlt worden sind, die zu Unrecht nicht der Lohnsteuer unterworfen wurden. Dieser Sachverhalt war dem FA im Gegensatz zu der Konstellation in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3 bei Erlass des ersten Haftungsbescheids --dem die unrichtige Anmeldung für das zweite und die Schätzungsbescheide für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2005 zu Grunde lagen-- nicht bekannt und konnte folglich bei Erlass des Bescheids auch nicht berücksichtigt werden. Somit lag seitens des FA im Streitfall, anders als im Urteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3, bei der Inanspruchnahme auf eine zu niedrige Haftungssumme durch den ersten Haftungsbescheid weder eine rechtsirrtümliche Sachverhaltsbeurteilung noch eine fehlende Ermessensentscheidung, sondern eine unvollständige Sachverhaltskenntnis zu Grunde.
c) Im Urteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3 hat der Senat ausdrücklich offengelassen, ob eine Nachforderung weiterer Haftungsbeträge ohne vorherige Rücknahme oder Widerruf eines bereits ergangenen Haftungsbescheids nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes zulässig wäre und für die Fälle in Betracht kommen könnte, in denen die Haftungsinanspruchnahme durch Erlass eines weiteren Bescheids veränderten Sachverhalten angepasst werden soll, so z.B. bei einer Erhöhung der Steuerschuld, für die der Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden ist, infolge des Bekanntwerdens neuer Tatsachen oder eines Rechtsbehelfsverfahrens.
d) Der Streitfall gibt Anlass, insoweit die Senatsrechtsprechung fortzuentwickeln:
aa) Der vom Senat in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3 aufgestellte Rechtssatz, wonach einem weiteren --ergänzenden-- Haftungsbescheid ein erster Haftungsbescheid entgegensteht, in dem der Haftungsbetrag zu niedrig festgesetzt worden ist, obwohl die Steuerschuld, für die gehaftet werden soll, tatsächlich mit einem höheren Betrag entstanden ist, ist vor dem Hintergrund der konkret entschiedenen Sachverhaltskonstellation zu verstehen. Ihm kann jedoch keine allgemein gültige Aussage dahingehend zukommen, dass in einem solchen Fall stets eine spätere weitere Haftungsinanspruchnahme ausgeschlossen sein soll. Es kann nämlich Fallkonstellationen geben, in denen --wie im Streitfall-- die Erhöhung der Steuerschuld auf neuen Tatsachen beruht, die das FA mangels Kenntnis im ersten Haftungsbescheid nicht berücksichtigen konnte. In solchen Fällen hält der Senat einen ergänzenden Haftungsbescheid für zulässig.
bb) Auch nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes (vgl. Senatsurteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3) ist in der Konstellation des Streitfalls der Erlass des zweiten Haftungsbescheids nicht zu beanstanden, auch wenn dem ersten Haftungsbescheid kein ausdrücklicher Vorbehalt zu entnehmen war, zunächst nur einen Teilbetrag der Steuerschuld geltend machen zu wollen (vgl. dazu Rüsken, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs für die Praxis der Steuerberatung 2004, 413 f.). Da die Lohnsteueranmeldung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (§§ 168, 164 AO) und eine Schätzung naturgemäß ungewiss ist, musste die als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommene Klägerin bei einer Erhöhung der Lohnsteuerschuld infolge einer Außenprüfung mit einem ergänzenden Nachforderungsbescheid rechnen.
Auf Vertrauensschutz kann sich die Klägerin darüber hinaus schon deshalb nicht berufen, weil sie durch die unzutreffende Lohnsteueranmeldung für das zweite Kalendervierteljahr 2005 und durch die fehlenden Lohnsteueranmeldungen für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2005 die zu geringe erste Haftungsinanspruchnahme selbst verursacht hat. Daran ändert auch nichts, dass das FA das Ergebnis der Lohnsteueraußenprüfung nicht abgewartet und erst danach einen einzigen --das Ergebnis der Lohnsteueraußenprüfung berücksichtigenden "umfassenden"-- Haftungsbescheid erlassen hat. Allein aus der zeitlichen Nähe zwischen dem ersten Haftungsbescheid (14. Juni 2006) und der Lohnsteueraußenprüfung (Juli und August 2006) kann eine erhöhte Schutzwürdigkeit der Klägerin und damit die Unzulässigkeit des zweiten ergänzenden Haftungsbescheids nicht hergeleitet werden.
2. Auch im Übrigen ist der zweite Haftungsbescheid rechtmäßig.
a) Die Klägerin hat durch die Nichtabführung der einzubehaltenden und anzumeldenden Lohnsteuer die ihr als Geschäftsführerin der Ltd. obliegenden steuerlichen Pflichten zumindest grob fahrlässig verletzt (vgl. Senatsurteil vom 23. September 2008 VII R 27/07, BFHE 222, 228, BStBl II 2009, 129, sowie Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 69 Rz 46, 71, m.w.N.). Denn als Geschäftsführerin und gesetzlicher Vertreterin der Ltd. i.S. des § 34 Abs. 1 AO oblag ihr die Pflicht zur Einbehaltung und fristgerechten Abführung der angemeldeten Lohnsteuerabzugsbeträge (§ 38 Abs. 3 Satz 1 und § 41a des Einkommensteuergesetzes --EStG--).
b) Zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung der Klägerin und dem Eintritt des durch die Nichtentrichtung der Lohnsteuer entstandenen Vermögensschadens besteht auch ein adäquater Kausalzusammenhang.
c) Die Pflicht der Klägerin zur Entrichtung der Lohnsteuer entfällt auch nicht aufgrund etwaiger Liquiditätsprobleme der Ltd. Zwar hat das FG offengelassen, ab welchem Zeitpunkt sich die Ltd. in einem Liquiditätsengpass befand. Der erkennende Senat kann die Frage gleichwohl dahingestellt lassen, ob und zu welchen Zeitpunkten in den Jahren 2005 und 2006 die Ltd. über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, aufgrund derer die Klägerin in der Lage war, die einzubehaltende und anzumeldende Lohnsteuer zu entrichten. Jedenfalls hätte ein --vom FG nicht festgestellter-- Liquiditätsengpass der Ltd. ihre Pflicht, die Lohnsteuer abzuführen, nicht entfallen lassen; ggf. hätten die Löhne entsprechend gekürzt ausgezahlt werden müssen (Senatsurteil vom 27. Februar 2007 VII R 67/05, BFHE 216, 491, BStBl II 2009, 348).
d) Unerheblich ist auch, dass offensichtlich die Lohnsteueranmeldungen nicht gemäß § 164 Abs. 2 AO aufgrund der Ergebnisse der Lohnsteueraußenprüfung geändert worden sind. Denn der Haftungsanspruch entsteht unabhängig von der Fälligkeit oder der Festsetzung der Steuer, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, der zum Entstehen der Steuerschuld führt (§ 38 AO); daher kommt es auf die Festsetzung der Steuerschuld nicht an (vgl. Senatsurteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3, m.w.N.). Lohnsteuer entsteht nach § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Der Anspruch auf Abführung der Lohnsteuer, der Grundlage der Steuerfestsetzung ist, entsteht somit nicht erst mit der Abgabe der Lohnsteueranmeldung (Urteil des Bundesfinanzhofs vom 7. Juli 2004 VI R 171/00, BFHE 206, 562, BStBl II 2004, 1087).